Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Juli 2004
 

5.16. Apocalypse Now? Eschatologische Tendenzen in der Gegenwartsliteratur
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Gregor Thuswaldner (Gordon College Wenham, Massachusetts)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


"Die Wand" (1963) - Marlen Haushofers Apokalypse der Wirtschaftswunderwelt

Daniela Strigl (Wien)

 

Anläßlich des Erscheinens der Neuauflage von Marlen Haushofers Roman Die Wand 1968 tadelt der Kritiker einer Science-Fiction-Fachzeitschrift das Übergewicht des Autobiographischen und den "Drang zur Sentenz", der sich in "manieristische(n) Plattheiten" äußere. Er vermißt schlicht "the sense of wonder" und kann mit dem "altbackenen SF-Brot aus dem österreichischen Winkel" wenig anfangen: "Zäh ißt es sich und lange und schmeckt nach Erde. Auszusagen hat die Autorin eigentlich wenig. Hauptsächlich spielt sie das Spiel: Erkenne dich selbst." Was dem Science-Fiction-Fachmann "schwunglos und langweilig" erscheint, ist für den Literaturkritiker Edwin Hartl "vermutlich die originellste Utopie der modernen Weltliteratur: weil sie es wagt, auf alles 'Originelle' zu verzichten".(1)

Heute gehört Die Wand zum österreichischen Kanon, aber nicht zu dem der Germanistik. Die Fabel des Romans ist schnell erzählt: Eine Frau fährt mit ihrer Cousine und deren Mann zu einem Kurzurlaub in ein Jagdhaus. Das Ehepaar macht abends einen Spaziergang ins Dorf, von dem es am nächsten Morgen noch nicht zurückgekehrt ist. Bei dem Versuch, ins Dorf zu gehen und dort Nachschau zu halten, stößt die Frau auf eine durchsichtige Wand. Dahinter gibt es offenbar kein Leben mehr, nur die Pflanzenwelt scheint unversehrt. Die Frau muß sehen, wie sie in dem vom Rest der Welt abgeschnittenen Waldgebiet überleben kann. Geblieben ist ihr der Jagdhund ihrer Gastgeber, sie findet noch eine trächtige Kuh, später läuft ihr eine Katze zu. Eines Tages taucht ein zweiter Überlebender der rätselhaften Katastrophe auf, ein Mann, der den Jungstier und den Hund der Frau tötet und dafür von ihr mit ihrem Jagdgewehr erschossen wird.

In meiner Biographie Marlen Haushofers habe ich behauptet(2), der Einfall zu diesem Buch hätte eine literarisch anrüchige Geschichte, entstamme er doch einem sogenannten Schundheft: Marlen Haushofer hatte nicht nur eine Schwäche für Krimis, sondern auch für Groschenromane, vor allem für Science Fiction. Sie besaß eine reiche Sammlung aus den einschlägigen Reihen Utopia und Terra und versorgte den halbwüchsigen Sohn einer befreundeten Familie regelmäßig mit utopischem Lesestoff. Eben dieser heute ältere Herr erzählte mir, es hätte unter diesen Heften eine Geschichte mit dem Titel Die gläserne Kuppel gegeben. Sie hätte von einer Gruppe von Menschen gehandelt, die unter dem Schutz einer riesigen Glaskuppel eine Art Eiszeit überlebt. Drinnen herrscht Geborgenheit, draußen eine tödliche Kälte. Demnach war Marlen Haushofer von der Idee offensichtlich fasziniert und baute sie zu einer existentiellen Parabel im Gewand eines realistischen Berichts um.

Nun muß ich diese verführerische These leider revidieren: Bei meinen Nachforschungen bin ich bisher auf keinen Heftroman dieses Titels gestoßen - weshalb auch die Annahme, Haushofer habe den ursprünglichen Titel des Romanprojekts, "Die gläserne Wand", in Anlehnung an den der Science-Fiction-Geschichte gewählt, nicht aufrechtzuerhalten ist.(3)

Allerdings existiert eine Folge der Perry Rhodan-Serie mit dem Titel Die strahlende Kuppel, die K(arl) H(erbert) Scheer, der Erfinder des Mondraketen-Kommandanten, 1961 herausgebracht hat - in dem Jahr, als Juri Gagarin zum ersten Mal rund um die Erde flog: Der friedliebende Perry Rhodan und seine Mannschaft verteidigen sich in dieser Geschichte mit Hilfe einer vom Mond importierten überlegenen Technologie, einer Kuppel aus reiner Strahlungsenergie, in der Wüste Gobi gegen die massiven Angriffe der nun plötzlich vereinten Ost- und Westmächte.(4) Gut möglich, daß Marlen Haushofer dieses Heft gelesen und an ihren jungen Freund verliehen hat. Aber 1961 steckte sie bereits mitten in der Arbeit an der Wand, und den Stoff dazu hatte sie, wie sie in einem Interview sagte, "mehrere Jahre" mit sich herumgetragen.(5)

Auch wenn die konkrete Spur also im Sand verläuft, ist Haushofers Science Fiction-Rezeption von Interesse. Die Wand fällt in mehrfacher Hinsicht aus dem Rahmen des übrigen Werkes. Sowohl die Fabel als auch die Form eines Buches bereiteten Marlen Haushofer sonst die größten Schwierigkeiten. Die in ihrem Oeuvre einmalige Idee, eine realistische, ja akribisch recherchierte Geschichte in einen utopischen Raum zu stellen und gleichzeitig nicht in der Zukunft, sondern in der Gegenwart anzusiedeln, beschleunigte den Schreibprozeß: "Mit diesem Buch habe ich am wenigsten Mühe gehabt. Ich mußte mich nur in die Lage jener Frau im Wald versetzen, und wenn ich ein Bild vor mir habe, geht es weiter wie von selbst." Die Bilder bezog Marlen Haushofer aus der vertrauten Kindheitswelt am Fuß des oberösterreichischen Sengsengebirges. Rückblickend beschreibt die Autorin ihre schöpferische Arbeit als eine bloß nachvollziehende - die "Möglichkeiten dieser Frau" seien begrenzt gewesen: "Sie hat ja wirklich nichts anderes tun können als das, was ich eben beschrieben habe."(6)

Die Ich-Erzählerin der Wand hat in ihrem früheren Leben in einer bewußtlosen Konsumgesellschaft unter existentieller Langeweile ebenso gelitten wie unter einer "rasenden Ungeduld", zuletzt schien ihr auch ihre Familie "zum Feind übergelaufen zu sein". Die Katastrophe greift in Wahrheit korrigierend in ihr Leben ein und befreit sie von den Zwängen der Fremdbestimmung: "Hier, im Wald, bin ich eigentlich auf dem mir angemessenen Platz". Weil ihr in Gestalt ihrer Tiere eine Art Ersatzfamilie zuwächst, um die sie sich kümmern muß, die aber umgekehrt auch sie am Leben erhält, läßt sich das Ideal absoluter Selbstgenügsamkeit wiederum nicht verwirklichen.(7)

Haushofers Roman hält den unterschiedlichsten Interpretationen stand. Auf der biographischen Ebene ist Die Wand die wohl radikalste Phantasie eines selbstbestimmten Lebens, die Marlen Haushofer sich geleistet hat: Um die Romanheldin von ihrem Hausfrauendasein zu befreien, läßt ihre Autorin eine Weltkatastrophe hereinbrechen und die Familie sterben, damit die Frau freie Bahn für ihren neuen Lebensentwurf hat. Im Unterschied zu ihren anderen Büchern Eine Handvoll Leben , Die Tapetentür und Die Mansarde schildert Haushofer hier nicht nur das melancholische Gefängnis des Individuums, sondern zugleich auch ein utopisches Experiment.

Vor allem deklariert sich der Roman als ein Stück Kulturkritik. Um 1960, zur kältesten Zeit des Kalten Krieges, war der 'Tag X', an dem der Atomkrieg ausbrechen könnte, in aller Munde. Die Theorie der Heldin über die Beschaffenheit der Wand bewegt sich in diese Richtung:

"Ich nahm an, sie wäre eine neue Waffe, die geheimzuhalten einer der Großmächte gelungen war; eine ideale Waffe, sie hinterließ die Erde unversehrt und tötete nur Menschen und Tiere. [...] Wenn das Gift, ich stellte mir jedenfalls eine Art Gift vor, seine Wirkung verloren hatte, konnte man das Land in Besitz nehmen. Nach dem friedlichen Aussehen der Opfer zu schließen, hatten sie nicht gelitten; das ganze schien mir die humanste Teufelei, die je ein Menschenhirn ersonnen hatte."(8)

Nicht zufällig hat sich die Katastrophe in einer von Männern gemachten Welt ereignet: Seit den fünfziger Jahren wird in den USA an der Entwicklung der Neutronenbombe gearbeitet, deren zerstörerische Wirkung sich weitgehend auf organisches Leben beschränkt - ins allgemeine Bewußtsein wird die 'säuberliche' Bombe erst Anfang der achtziger Jahre dringen. Da sich im Roman nach dem Einsatz der Wunderwaffe keine Sieger einstellen wollen, muß man daran zweifeln, daß es überhaupt Sieger gibt. Als Überlebende solidarisiert sich die Frau einerseits mit der Gattung Mensch, andererseits waren nicht allein die "Erfinder" der Wand ihre Feinde, sondern alle, die einst den Ton angaben: "Ich hatte nur dieses eine kleine Leben, und sie ließen es mich nicht in Frieden leben."

Gerade die Verteidigung des Prinzips Leben macht Haushofer zur Zeitkritikerin. Auch in der Tapetentür richtet sich die Polemik gegen die Ideologie der Wiederaufbauzeit, gegen die kollektive Sehnsucht nach "einem größeren Eisschrank und einem Superstaubsauger". Der Generaldirektor, so sinniert Annette, unterscheide sich von seinem Hilfsarbeiter "nur in der komfortableren Ausstattung der Zelle". Existenz bedeutet also ein Eingesperrtsein, aus dem man sich nicht freikaufen kann: "Alles Leben war zu Surrogat geworden". (9)

Der Vernichtungskrieg und die automobile Gesellschaft entspringen demselben männlichen Erfindergeist. Nun, da es ums nackte, kreatürliche Überleben geht, erweisen sich die "Götzen" der Wirtschaftswunderzeit als tote, unnütze Dinge. Als Menetekel dieser lebensfeindlichen Kultur steht der Protagonistin der Mercedes von Hugo, dem Mann ihrer Cousine, vor Augen: "Er war fast neu, als wir damit herkamen. Heute ist er ein grünüberwuchertes Nest für Mäuse und Vögel. Besonders im Juni, wenn die Waldrebe blüht, sieht er sehr hübsch aus, wie ein riesiger Hochzeitsstrauß." Die Erzählerin beobachtet den Triumph der Natur über die Technik, über das Auto als das unumstrittene Kultobjekt der fünfziger und sechziger Jahre, mit unverhohlener Genugtuung.(10)

"Ich sehe das Wuchern der Pflanzen, grün, satt und lautlos. Und ich höre den Wind und die vielen Geräusche in den toten Städten, Fensterscheiben, die auf dem Pflaster zersplittern, wenn die Angeln durchgerostet sind, das Tropfen des Wassers aus den geborstenen Leitungen und das Schlagen Tausender Türen im Wind. Manchmal, in stürmischen Nächten, kippt ein steinernes Ding, das einmal ein Mensch war, vom Sessel vor dem Schreibtisch und schlägt dröhnend auf dem Parkett auf. Eine Zeitlang muß es auch große Brände gegeben haben."(11)

Die Wand entspringt einem heimlichen Wunschtraum und erscheint zugleich als eine Schreckensvision. Sie ist so etwas wie die apokalyptische Utopie einer erklärten 'Heidin': Die Menschen haben sich am Leben versündigt, und sie wurden dafür bestraft. Die Wirkung des rätselhaften Giftes erinnert an den göttlichen Auftrag der giftigen Heuschrecken in der Offenbarung des Johannes: "Und es wurde ihnen gesagt, sie sollten das Gras der Erde nicht schädigen, auch gar kein Grün und gar keinen Baum, sondern nur die Menschen, die nicht das Siegel Gottes auf den Stirnen tragen." Marlen Haushofers Menschenbild ist um nichts optimistischer als das der Apokalypse. Ein Neuanfang ist nur möglich, wenn der Tod reiche Ernte hält: "Und die übrigen Menschen, die durch diese Plagen nicht umkamen, bekehrten sich nicht von den Werken ihrer Hände und hörten nicht auf, die Dämonen anzubeten und die Götzenbilder aus Gold, Silber, Erz, Stein und Holz, die weder sehen noch hören noch gehen können; auch bekehrten sie sich nicht von ihren Mordtaten". Was im Roman freilich fehlt, ist die Aussicht auf Erlösung, auf das himmlische Jerusalem, das ja auch von einer unüberwindlichen Mauer umgürtet ist: "Draußen die Hunde und die Zauberer, die Unzüchtigen und die Mörder, die Götzendiener und jeder, der die Lüge liebt und übt." Die Rolle der Autorin entspricht der des Evangelisten, der das Buch des Engels verschlingen muß, um daraus weiszusagen: jenes Buch, das im Mund süß wie Honig schmeckt, jedoch den Magen mit Bitterkeit erfüllt.(12)

In Haushofers früher Erzählung Entfremdung (von der eine spätere Fassung unter dem Titel Die großen Hähne überliefert ist) findet sich ein ausdrücklicher Verweis auf die Apokalypse. Hier entwirft Haushofer die alptraumhafte Vision riesiger, mörderischer Hähne, die eine ganze Stadt entvölkern, in der zugleich eine rätselhafte Seuche ausgebrochen ist. Tatsächlich erinnert das von den "großen Hähnen" verursachte "metallische Schwirren riesiger Schwingen" an die biblischen Heuschrecken: "das Rauschen ihrer Flügel glich dem Rasseln vieler Pferdewagen". Man könnte diese Heimsuchung durchaus als Variante der in der Wand angedeuteten Ereignisse auffassen.(13)

In ihnen spiegeln sich nicht nur die kosmischen Katastrophen der Geheimen Offenbarung, das Feuer, das vom Himmel fällt, sondern auch die biblische Erzählung von Noahs Arche: Ein Gerechter überlebt mit einer Abordnung von Tieren die Sintflut. Daß die Wand in Marlen Haushofers Geschichte eher Schutzwall als Bedrohung ist, entspricht der Funktion der "strahlenden Kuppel" in der Science Fiction. Von ihrem ersten Roman an hat Marlen Haushofer die Wand als ambivalentes Bild eingesetzt. In einem Gespräch deutet sie die titelgebende Wand nicht realistisch, sondern psychologisch, als "ein[en] seelische[n] Zustand, der nach außen plötzlich sichtbar wird", womit der Weg für eine psychoanalytische Annäherung offen ist.(14)

Der österreichische Kritiker Hans Weigel, ein Förderer Haushofers, hat Die Wand seinerzeit nicht nur mit Daniel Defoes Robinson Crusoe und Knut Hamsuns Segen der Erde, sondern auch mit Albert Camus' Roman Die Pest verglichen, der auf deutsch 1948 erschien.(15) Ihm hat Camus passenderweise ein Motto von Daniel Defoe vorangestellt: "Es ist ebenso vernünftig, eine Art Gefangenschaft durch eine andere darzustellen, wie irgend etwas wirklich Vorhandenes durch etwas, das es nicht gibt."(16)

Camus hat den Roman unter dem Eindruck des Weltkriegs und der deutschen Besatzung geschrieben, weshalb eine politische Deutung der Seuche naheliegt, während Haushofer nicht den Nationalsozialismus im Visier zu haben scheint. In beiden realistisch angelegten Romanen bricht die Katastrophe als absoluter Verstoß gegen die Normalität herein. Der Diagnose der Pest wird entgegengehalten, daß sie doch seit Jahren "aus dem Abendland verschwunden" sei. Die Menschen, so der Erzähler, glauben "nicht an Heimsuchungen. Weil die Plage das Maß des Menschlichen übersteigt, sagt man sich, sie sei unwirklich, ein böser Traum, der vergehen werde."(17) Die Erzählerin der Wand geht von eben diesem Unwillen aus, den Einbruch des Schrecklichen wahrzunehmen: "Hätte sich die Katastrophe in Belutschistan abgespielt, säßen wir völlig ungerührt in den Kaffeehäusern und läsen darüber in der Zeitung. Heute sind wir Belutschistan."(18)

Die katastrophale Situation führt in beiden Romanen zu ähnlichen Folgen: zum Eingeschlossensein (die Stadt Oran wird gesperrt), zum Erwachen des Bewußtseins, zur Trennung von den Lieben, zur schrittweisen Rücknahme der Zivilisation, zum Hunger, zum Fieber-Kampf des Individuums auf Leben und Tod, auch zu Fluchtversuchen. Die Frage nach dem Warum wird zunächst scheinbar ähnlich beantwortet. Für die Wand macht Haushofer menschliche Hybris und männliche Kriegslust verantwortlich, in der Pest hält der Menschenfreund Tarrou eine flammende Rede gegen das Töten im Namen des Staates oder einer - noch so edlen - Idee. Camus weigert sich freilich, die Krankheit als eine Art Geißel Gottes, als Strafe für Schuld zu sehen, nur weil sie auch eine Lehre ist. Es gelte zu entscheiden, ob man die Seite der Täter oder der Opfer wählt. Die Pest ist aber auch einfach "das Leben".(19) Rieux, der Arzt, und Tarrou, sein Freund, praktizieren Liebe und Mitgefühl als Mittel, um ein Leben ohne Hoffnung zu bestehen.

Das Leben hinter - oder vor - der Wand ist hingegen für einen einzigen Menschen reserviert; in dieser Utopie gibt es keine soziale Verantwortlichkeit, außer für die Tiere. "Die Insel, ein literarischer Topos, in dem Robinsonade und Utopie zusammenkommen", stellt Konstanze Fliedl in ihrer Interpretation fest, "verliert als Glücks-Bild hier ihren gesellschaftlichen Charakter: die Utopie ist nur mehr in der Isolation des Individuums vorstellbar. Die Verengung auf die Einzelperspektive [...] wird in der Wand radikalisiert: die Erzählerin ist und macht sich am Ende selbst noch einmal zur einzigen Überlebenden, ihre Existenz setzt die totale Negativutopie - das Erlöschen des menschlichen Lebens - erst voraus. "(20)

Während die Toten jenseits der Wand einer sichtbaren Versteinerung zum Opfer gefallen sind, kommt das Leben der Überlebenden durch das Unglück erst wieder in Fluß. Auf der Alm oben - der Berg ist ja der traditionelle Ort der Gottesschau - hat sie sogar so etwas wie eine diesseitige Erleuchtung:

"Ich suchte nicht mehr nach einem Sinn, der mir das Leben erträglicher machen sollte. [...] Seit meiner Kindheit hatte ich es verlernt, die Dinge mit eigenen Augen zu sehen, und ich hatte vergessen, daß die Welt einmal jung, unberührt und sehr schön und schrecklich gewesen war. [...] Die Einsamkeit brachte mich dazu, für Augenblicke ohne Erinnerung und Bewußtsein noch einmal den großen Glanz des Lebens zu sehen".(21)

Daß der Mensch, der die Erde ihrer Unschuld beraubt hat, von ihr verschwinden muß, ist nach diesem Weltbild nur folgerichtig: "Die Menschen hatten ihre eigenen Spiele gespielt, und sie waren fast immer übel ausgegangen. [...] Es war besser, von den Menschen wegzudenken."(22) Marlen Haushofer beschreibt die Vorstellung, das eigene Ich im großen Ganzen aufzulösen, als schaurige Verlockung. Ihre Erzählerin weiß, daß sie für den Wald "kein ernst zu nehmender Störenfried" ist:

"Einmal werde ich nicht mehr sein, und keiner wird die Wiese mähen, das Unterholz wird in sie einwachsen, und später wird der Wald bis zur Wand vordringen und sich das Land zurückerobern, das ihm der Mensch geraubt hat. Manchmal verwirren sich meine Gedanken, und es ist, als fange der Wald an, in mir Wurzeln zu schlagen und mit meinem Hirn seine alten, ewigen Gedanken zu denken."(23)

Als eine Geschichte über den "Austritt aus der Geschichte" ist Die Wand mit dem Werk eines anderen Österreichers verwandt, das ebenfalls 1963 erschien: mit Thomas Bernhards Erstling Frost. In beiden Romanen wird ein Rückzug ins Gebirge beschrieben, in die Natur, die freilich nicht zum Refugium wird, sondern fremd und abweisend bleibt und sich der Lesbarkeit verweigert. Beide Texte sind auch eine Reaktion auf die österreichische Wirklichkeit um 1960, auf die optimistische Familien- und Fortschrittsideologie der Zweiten Republik. Die Hauptfiguren verlieren ihre Fähigkeit zur Kommunikation, sie setzen, wie Wendelin Schmidt-Dengler formuliert, ihren Monolog gegen eine Welt, "die sich so völlig dem Realitätsprinzip verschrieben hatte, daß sie die eigene Rede darüber für die einzig mögliche hielt".(24) Auch Bernhards Maler Strauch phantasiert eine "Natur ganz unbelästigt von Menschen" und spricht vom "Raubbaucharakter" der "menschlichen Eingriffe" - er feiert den "siebten Entschöpfungstag" des Menschen.(25)

Hans Lebert veröffentlicht 1955 die Erzählung Das Schiff im Gebirge, die von einer ganz ähnlichen existentiellen Engführung wie Die Wand ausgeht und sich bis in einzelne Motive hinein mit dem Haushoferschen Existentialismus vergleichen läßt.(26) In Leberts 1960 erschienenem Roman Die Wolfshaut, in dem ein von sintflutartigen Regenfällen heimgesuchtes Dorf mit seiner NS-Vergangenheit konfrontiert wird, begegnet uns die Vorstellung vom Menschen als Ungeziefer: "Gott muß nicht den Kammerjäger machen. Er weiß: das Ungeziefer hat die Macht an sich gerissen. Das Ungeziefer wird sich selbst vertilgen. [...] Soll man da nicht Lust bekommen, nachzuhelfen?" Der Weltuntergang sei dann nicht Strafe, sondern Begnadigung.(27)

Genau zwanzig Jahre nach dem Erscheinen der Wand, noch mitten im Kalten Krieg, hat der deutsche Philosoph Ulrich Horstmann in seinem Buch Das Untier. Konturen einer Philosophie der Menschenflucht höchst provokant für eine "Vermondung" der Erde plädiert:

"Die Apokalypse steht ins Haus. Wir Untiere wissen es längst, und wir wissen es alle. Hinter dem Parteiengezänk, den Auf- und Abrüstungsdebatten, den Militärparaden und Anti-Kriegsmärschen, hinter der Fassade des Friedenswillens und der endlosen Waffenstillstände gibt es eine heimliche Übereinkunft, ein unausgesprochenes großes Einverständnis: daß wir ein Ende machen müssen mit uns und unseresgleichen, so bald und so gründlich wie möglich - ohne Pardon, ohne Skrupel und ohne Überlebende."(28)

Horstmanns "anthropofugales Denken" ist in der im weitesten Sinne existentialistischen österreichischen Literatur der sechziger Jahre vorweggenommen, von Autorinnen und Autoren, die sich und ihre kritische Position im gesellschaftlichen Diskurs so sehr marginalisiert sahen, daß sie ihre Geschichten konsequenterweise vom Rand her zu erzählen begannen.

Zur Wahrheit der Wand gehört die Einübung in das Absurde, das Sichabfinden mit der Vergeblichkeit: Die Erzählerin, die nach der gefährlichen Entrücktheit auf der Alm ihr Butterfaß ins Tal schleppt und "die schwere Last willig" auf sich nimmt, wiederholt jenen mythischen Augenblick, der Albert Camus (Der Mythos von Sisyphos) vor allem interessiert: Sisyphos beim Abstieg vom Gipfel. Diesem weiblichen Sisyphos ist das Pathos der Auflehnung jedoch fremd. Anders als bei Camus können wir uns Marlen Haushofers Sisyphos aber nicht gut "als einen glücklichen Menschen vorstellen". Oder nur in jenen Momenten, da die Vertreibung aus dem Paradies rückgängig gemacht scheint.(29)

Dorothea Zeemann hat Die Wand völlig zu Recht als "gottloses Buch" bezeichnet. Die einstige Klosterschülerin huldige einem "katholischen Fatalismus und das ohne Erlösung".(30) Sisyphos kann seinem Schicksal nicht entgehen. Mit der Wand hat Haushofer die hausfrauliche Sisyphosarbeit der Larmoyanz, der Biederkeit und dem Banalen enthoben: Hier ist sie Überlebenskampf und darf deshalb im Gewicht der täglichen Verrichtungen minutiös geschildert werden. Für Marlen Haushofer selbst ist die Erzählerin der Wand "vielleicht die einzige Gestalt, die zu einer Bejahung ihrer Pflichten gefunden hat, weil jede Nachlässigkeit das Ende ihrer Welt bedeuten würde."(31) Was der Erzählerin zur Existenzfrage wird, ist die Frage jeder Existenz. Ob der Tod hinter der Wand wartet oder am Ende des Lebens, ist bloß ein gradueller Unterschied. Im Vergleich mit Camus' Pest hat Haushofer die radikalere Parabel der Existenz geschrieben, eine, die ohne Mitmenschlichkeit auskommt. Der andere Überlebende, der Mann, wird am Schluß von der Frau getötet. Er ist der Feind, der ihren Tieren nach dem Leben trachtet. Die Tat erscheint aus der Logik der Geschichte völlig plausibel, ja moralisch gerechtfertigt - ein Umstand, der nicht nur die zeitgenössischen Rezipienten verstörte, sondern auch die Protagonistinnen der Frauenbewegung, die den Roman in den achtziger Jahren für sich entdeckten und zu einer Art Kultbuch machten.

Für Die Wand spielt die wörtliche Bedeutung der Apokalypse als Enthüllung, Entbergung eine wesentliche Rolle: Der Ausnahmezustand enthüllt die Verstrickung des oder besser: der einzelnen im Sozialen und legt verschüttete Fähigkeiten frei. Es geht um die Aufdeckung der Wahrheit - und die apokalyptische Wahrheit ist, wie Hartmut Böhme gezeigt hat, " ein dramatisches Ereignis, dessen Regisseur nicht die Vernunft ist", sie ist "roh, barbarisch, der Not entstammend [...], vollkommen hemmungslos gegenüber den Disziplinen der herrschenden Rede, [...] umhergeworfen zwischen den Extremen menschenmöglicher Gefühle: Rache, Haß, entfesselte Wut [...] und zarteste Gesten der Liebe."(32)

© Daniela Strigl (Wien)


ANMERKUNGEN

(1) Vgl. Franz Rainer Scheck (ohne Titel) in: Science Fiction Times, Mai 1969; Edwin Hartl (ohne Titel) in: Wort in der Zeit, Nr. 1/1964, S. 64.

(2) Vgl. Daniela Strigl: Marlen Haushofer. Die Biographie. München: Claassen 2000, S. 246.

(3) Vgl. die Erstfassung von Die Wand in 5 Heften, Dokumentationsarchiv für neuere österreichische Literatur. Vgl. dazu die detektivisch-minutiöse Untersuchung von Christine Schmidjell: Zur Werkgenese von Die Wand anhand zweier Manuskripte; und Evelyne Polt-Heinzl: Marlen Haushofers Roman "Die Wand" im Fassungsvergleich. Die Entwicklung der Ich-Erzählerin. Beide in: Anke Bosse, Clemens Ruthner: "Eine geheime Schrift aus diesem Splitterwerk enträtseln ..." Marlen Haushofers Werk im Kontext. Tübingen-Basel: Francke Verlag 2000, S. 41-58 und S. 59-77.

(4) Vgl. K.H. Scheer: Die strahlende Kuppel. Perry Rhodan, der Erbe des Universums Nr.3. München: Moewig-Verlag 1961.

(5) Vgl. Raimund Lackenbucher: "In jener fernen Wirklichkeit ..." Ein besinnliches Gespräch mit Marlen Haushofer, der Verfasserin des Romans "Die Wand". In: Neue Illustrierte Wochenschau, 29.12.1968.

(6) Marlen Haushofer zit. ebd. sowie in: Gespräch Marlen Haushofer - Hans Weigel. In: Christine Schmidjell: Marlen Haushofer 1920-1970. Katalog einer Ausstellung. Wien: Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur und Linz: Adalbert Stifter Institut 1990 (= Zirkular, Sondernr. 22), S. 44-49, S. 46.

(7) Vgl. Haushofer, Erstfassung Die Wand, Heft 5 (Anm. 3). Vgl. Marlen Haushofer: Die Wand. Roman. München&nbsp: Claassen 121998, S. 221f, 75.

(8) A.a.O., S. 41.

(9) Marlen Haushofer: Die Tapetentür. Roman. München: dtv 1991, S. 31, 119.

(10) Haushofer, Die Wand (Anm. 7), S. 75, 222. Erstfassung von Die Wand, Heft 1 (Anm. 3).

(11) Haushofer, Die Wand (Anm. 7), S. 222.

(12) Vgl. Offenbarung 9/4, 9/20-21, 22/15, 10/9-11. Marlen Haushofer: Schreckliche Treue. Erzählungen. Hildesheim: Claassen 1992, S. 77.

(13) Die Neufassung findet sich in einem unbezeichneten Zeitungsausschnitt (Kopie), Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur. Vgl. dazu Schmidjell, Marlen Haushofer 1920-1970 (Anm. 6), S. 29. Vgl. Offenbarung 9/9. Die Erzählung Entfremdung ist abgedruckt in: Marlen Haushofer: Begegnung mit dem Fremden. Gesammelte Erzählungen Bd. I. Düsseldorf: Claassen 1985. Sie war bereits in dem Band Die Vergißmeinnichtquelle (1956) enthalten.

(14) Marlen Haushofer zit. bei: Lackenbucher, "In jener fernen Wirklichkeit ..." (Anm. 5).

(15) Vgl. Hans Weigel: In memoriam. Graz-Wien-Köln: Styria 1979, S. 85.

(16) Albert Camus: Die Pest. Roman. Deutsch von Guido G. Meister. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1981, S. 5.

(17) A.a.O., S. 26f.

(18) Haushofer, Die Wand (Anm. 7), S. 45.

(19) Camus, Die Pest (Anm. 16), S. 201.

(20) Konstanze Fliedl: Die melancholische Insel. Zum Werk Marlen Haushofers. In: Vierteljahresschrift des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich, Jg. 35 (1986), Nr. 1/2, S. 35-51, S. 41.

(21) Haushofer, Die Wand (Anm. 7), S. 209ff.

(22) Ebd.

(23) A.a.O., S. 185.

(24) Vgl. Wendelin: Schmidt-Dengler, Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990. Salzburg-Wien: Residenz Verlag 1995, S. 188-193, bes. S. 188, 193.

(25) Vgl. Thomas Bernhard: Frost. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag 1972, S. 14, 190, 291.

(26) Vgl. Hans Lebert: Das Schiff im Gebirge. Unheimliche Erzählungen. Mit einem Essay von Jürgen Egyptien. Wien-Zürich: Europaverlag 1993. Der Protagonist der Titelerzählung zieht sich in ein Holzhaus in den steirischen Bergen zurück. Verwandte Motive sind etwa der ferne Gott, das denaturierte, verratene Leben, das innere Abgestorbensein, das vergebliche Warten auf die große Tat.

(27) Hans Lebert: Die Wolfshaut. Roman. Mit einem Nachwort von Jürgen Egyptien. Europaverlag Wien-Zürich 1991, S. 291.

(28) Ulrich Horstmann: Das Untier. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag 1985, S. 7

(29) Haushofer, Die Wand (Anm. 7), S. 217. Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1985, S. 101.

(30) Zit. bei Daniela Strigl: Vertreibung aus dem Paradies. Marlen Haushofers Existentialismus. In: Anke Bosse, Clemens Ruthner: "Eine geheime Schrift aus diesem Splitterwerk enträtseln..." Marlen Haushofers Werk im Kontext. Tübingen-Basel: Francke Verlag 2000, S. 120-136, S. 135.

(31) Marlen Haushofer in: "Meine Bücher sind alle verstoßene Kinder." Ein Gespräch mit Dora Dunkl. In: Anne Duden et al.: "Oder war da manchmal noch etwas anderes?" Texte zu Marlen Haushofer. Frankfurt am Main: Verlag Neue Kritik 1986, S. 134-136, S. 135.

(32) Hartmut Böhme: Vergangenheit und Gegenwart der Apokalypse. In: Hartmut Böhme: Natur und Subjekt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 380-398.


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Daniela Strigl (Wien): "Die Wand" (1963) - Marlen Haushofers Apokalypse der Wirtschaftswunderwelt. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_16/strigl15.htm

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