Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Juni 2004
 

6.1. Standardvariationen und Sprachauffassungen in verschiedenen Sprachkulturen | Standard Variations and Conceptions of Language in Various Language Cultures
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Rudolf Muhr (Universität Graz)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Sprachrettung oder Sprachverrat
Zur Diskussion über die Norm des Ungarischen

Gabriella Maráz (Universität München, Deutschland)

 

Abstract

The ideal of a uniform Hungarian standard has been shaken: Those claiming to "save" Hungarian feel obliged to preserve a uniform linguistic norm, representing the "demanding" language use as an important instrument to guarantee the unity of the nation. The "traitors", however, do accept diverging norms especially as an expression of the very different living conditions of the Hungarian language not only in the huge Hungarian speaking diaspora, but also in Hungarian society in general. Two examples of the Hungarian sociolinguistic interview illustrate the gap between the reality of language use and the ideal of the norm trying to fix the Hungarian standard. This contrast elucidates the background of the "language dispute" of the 90s, where now even reflections about Hungarian as a polycentric language are possible.

Sprechen die in der serbischen Wojwodina lebenden Ungarn "falsches" oder einfach nur "anderes" Ungarisch? An dieser Frage entzündete sich Anfang der 90er Jahre eine Debatte(1), der sogenannte Sprachstreit (ungar. nyelvvita), der von Sprachwissenschaftlern in der Presse ausgetragen wurde und bis zur Verabschiedung des sogenannten Sprachgesetzes 2001(2)

anhielt. Die Frage wurde auch in Bezug auf die in der Minderheit lebenden ungarischen Muttersprachler der anderen Nachbarstaaten Ungarns gestellt und drehte sich um einen Kern: Die Norm des Ungarischen, genauer: um die Prinzipien dieser Norm und um ihre Gültigkeit. Die Vorstellung des Ungarischen als einer polyzentrischen Sprache, die ein ungarischer Sprachwissenschaftler aus Bratislava erörterte,(3) bedeutete in den Augen der traditionellen Sprachpfleger den Verrat am Ungarischen, an der einheitlichen Sprache als Klammer für eine vereinte ungarische Nation.(4) Die Pflege des Ungarischen nach dem Normideal auch in den angrenzenden Ländern mit zum Teil er heblicher ungarischer Minderheitsbevölkerung hat u.a. die Rettung des Ungarischen zum Ziel. Es standen sich also in diesem Streit "Retter" und "Verräter" gegenüber, und die Auseinandersetzung ist interessant, weil sich nach zwei Jahrhunderten ein Wandel in der Auffassung bezüglich der sprachlichen Norm und ihrer Grundlagen anzubahnen scheint.(5)

Der ersten, quasi-offiziellen Kodifizierung der ungarischen Norm ab ca. 1830 ging ebenfalls eine Auseinandersetzung voraus: die sogenannte "Spracherneuerung" (ungar. nyelvújítás) dauerte von 1772 bis ca. 1820. Thema der ebenfalls zum Teil sehr heftigen Debatten von Schriftstellern und Gelehrten waren die Prinzipien der Wortbildung und Wortschöpfung, denn das Ungarische sollte eine Sprache der ungarischen Nation werden, die es in den Wissenschaften und in der Literatur mit den anderen großen europäischen Sprachen, etwa dem Deutschen oder Französischen, aufnehmen konnte. Die bisher nur als Volkssprache existierende Sprache sollte auch die Sprache der bislang deutsch oder französisch parlierenden Elite werden.

Das Ringen um die Sprache wurde auch stellvertretend für den Kampf um die Unabhängigkeit der Nation verstanden. Die neuen Wörter, syntaktischen Regeln und die Orthographie, also die Ergebnisse der Debatten der Spracherneuerung, wurden von einer anderen Errungenschaft im Bemühen um Fortschritt, nämlich der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, veröffentlicht: 1832 erschienen die ersten Regeln der Rechtschreibung, es folgten Wörterbücher, Grammatiken, Dialektwörterbücher u.v.m. Bis heute spielt diese Institution für die kodifizierte ungarische Sprachnorm eine entscheidende Rolle.(6)

Die Bedeutung der einheitlichen Norm des Ungarischen zur Einigung der Nation und als Schutz vor dem drohenden Untergang (in erster Linie der Sprache, doch auch der nationalen Identität und Souveränität) kehrt als Motiv der traditionellen Sprachpflege noch heute immer wieder.(7)

Bis zum 1. Weltkrieg war Ungarn ein Vielvölkerstaat, die ungarisch sprechende Bevölkerung machte nur gut die Hälfte der Gesamtbevölkerung aus.(8) Nach dem 1. Weltkrieg (dem Friedensschluss von Trianon) lebte ein Drittel der ungarisch sprechenden Bevölkerung (mehr als drei Millionen) außerhalb der neuen Staatsgrenzen Ungarns, innerhalb dieser Grenzen sprachen nur 10 % der Bevölkerung andere Sprachen. Die Situation ist heute kaum anders: 10 Millionen Ungarn leben innerhalb der ungarischen Staatsgrenzen (mehr als 95 % erklären Ungarisch zu ihrer Muttersprache), jedoch mehr als 3 Millionen Menschen ungarischer Muttersprache leben außerhalb der Staatsgrenzen in den Nachbarstaaten Ungarns.(9)

Die Norm des Ungarischen wurde nicht ohne weitere Auseinanderset zungen etwa um die "Richtigkeit" der Spracherneuerung gegen Ende des 19. Jhds. oder um die einheitliche Rechtschreibung Anfang des 20. Jhds. fortgeschrieben und insbesondere von der Sprachpflege des sozialistischen Ungarn zementiert. Die Handbücher, Lehrbücher, Wörterbücher aus den vier Jahrzehnten sozialistischer Herrschaft prägen die sprachpflegerische Literatur noch heute und die Sprachpflege hatte einen so erheblichen Einfluss, dass man in der Allgemeinheit "Sprachwissenschaftler" mit "Sprachpfleger" gleichsetzte. Tatsächlich war der Aufwand, der zur Erarbeitung und zur Verbreitung der ungarischen Norm getrieben wurde, erheblich. Es wurden zahlreiche Wörterbücher herausgegeben, Ratgeber für schönes und richtiges Ungarisch, ein monumentales Handbuch der Sprachpflege (im Umfang von etwa 2500 Seiten)(10), so dass man diese Zeit auch als das "Goldene Zeitalter" der Wörterbuchliteratur bezeichnen könnte.(11) Darüberhinaus gab es im Radio und im Fernsehen vielbeachtete Sendereihen zur Pflege des richtigen Un garisch, ebenso zahlreiche Rubriken in der gedruckten Presse.(12)

Die Begründungen für die Festlegung der Norm fußten jedoch auf einem sprachlichen Ideal, dem stets wiederholten "anspruchsvollen" Sprachgebrauch, dieser sei ganz eindeutig nicht der Sprachgebrauch der Mehrheit der Sprecher des Ungarischen.(13) Der als "Ideal" und Norm propagierte "anspruchsvolle" Sprachgebrauch (igényes nyelvhasználat) war derjenige der sprachlich Gebildeten, der Kultiviertesten. Die Tautologie ist bemerkenswert: Der anspruchsvolle Sprachgebrauch ist der Sprachgebrauch der Sprecher, die anspruchsvoll sprechen.(14)

Eine wesentliche Kritik, die während des Sprachstreites vorgetragen wurde, ist die mangelnde Fundierung von Sprachurteilen, die zur Fixierung in Form der kodifizierten Norm führen. Den traditionellen Sprachpflegern wird vorgeworfen, so gut wie keine sprachwissenschaftliche Forschung zu betreiben und ihre Urteile auf Intuition, Sprachgefühl und Ähnlichem zu gründen. Kontra vergleicht sie mit einem Soldaten, der nur schießt, aber niemals nachlädt.(15)

Dem steht die empirische Forschung der ungarischen Soziolinguisten gegenüber, die in dem sogenannten Budapester Soziolinguistischen Interview (welches Ende der 80er Jahre durchgeführt wurde) den tatsächlichen Sprach gebrauch untersuchten (im Folgenden "BSI"). Diese Interviews wurden nicht nur in Budapest, sondern auch bei den ungarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten Ungarns durchgeführt.(16)

Nun wurde beispielsweise ein Verstoß gegen die ungarische (kodifizierte) Norm, der besonders stark stigmatisiert ist, untersucht: das sogenannte suk/sük. Hier wird bei Verben, deren Stamm auf t endet, in der Definitkonjugation (wenn das Verb sich auf ein definites Objekt bezieht) anstatt des Präsens Indikativ der Imperativ verwendet. Dann heißt es etwa in der ersten Person Plural anstelle von láthatjuk (,wir können es sehen') láthassuk (,wir müssen/sollen es sehen können'). Von dieser Endung suk (láthassuk) ist die Bezeichnung suk/sük (-sük ist das die analog vokalharmonisch gebildete Suffix im Fall Endung hochtoniger Lexeme) abgeleitet. Der Normverstoß wird z.B. als suksükölés bezeichnet (suk/sük + Verbalmorphem öl + Nominalmorphem és), was in etwa "Dieses-suk/sük-Verwenden" bedeutet. Wer diesen "Fehler" begeht, gilt als ungebildet, bäuerlich, wenig intelligent und so fort. In einem der Interviews spricht ein 33 Jahre alter Ingenieur aus Budapest über dieses Phänomen: Jemand, der so spreche, gehöre eher zu den Dummen, es tue seinen (des Ingenieurs) Ohren weh, so etwas zu hören, das sei in Budapest eher selten, ihn persönlich störe es sehr. Bemerkenswert an dieser Aussage ist die Tatsache, dass der Mann genau in dem Satz, in dem er sagt, es tue seinen Ohren weh, diesen "Fehler" selbst begeht: Er verwendet anstelle des Indikativ Präsens bántja (,es tut weh/Def') den Imperativ bántsa ('es soll wehtun/Def'). Die Endung sa enspricht der Form 3Sg, -suk wäre die Entsprechung in 1Pl.(17)

Tabelle 1: "Falsch angewendete" (Imperativ-)Formen, die als "richtig" beurteilt wurden:(18)
Bildungsgrad weniger als 8 Klassen

8 Klassen
Mittelschule(19) Universität/Hochschule
Beispiele:

Angaben in Prozent
1. láthassák

31,1

30,7

27,3

29,3
2. kinyissa

4,8

7,9

5,2

7,1
3. elhalasszák

55,4

58,9

51,9

57,3
4. ragassza

20,5

19,5

18,0

18,1

(Die Beispiele 1. und 3. stammen aus Aufgaben, in welchen die Grammatikalität des Satzes beurteilt werden sollte, 2. und 4. stammen aus Satzergänzungs-Aufgaben.)

Tabelle 2: "Falsch angewendete" (Imperativ-)Formen, die als "richtig" beurteilt wurden:(20)
Typ des Wohnortes Budapest

Stadt
mehr als 5000 Einwohner weniger als 5000 Einwohner
Beispiele:

Angaben in Prozent
1. láthassák 20,8 32,3

33,5
30,2
2. kinyissa 4,2 7,5

6,9
6,5
3. elhalasszák 45,8 59,0

59,3
58,3
4. ragassza 14,7 20,7

17,0
23,0

Dieses Beispiel macht das Dilemma deutlich, das aus den soziolingui stischen Untersuchungen hervorgeht. Bis zu 58,9 Prozent der Interviewten hielten die "falsche" Form für richtig, signifikante Unterschiede zwischen den einzelnen Bildungsniveaus waren nicht erkennbar, die Budapester schienen jedoch die Norm in dieser Frage stärker zu beachten als die Landbevölkerung (je ländlicher, desto häufiger "falsch"). Der von der Sprachpflege angeführte Vorwurf, suk/sük sei kein gebildeter Sprachgebrauch, wird von den Ergebnissen des BSI als Mythos entlarvt worden.

Es handelt sich bei dem Phänomen des suk/sük um einen von der tradi tionellen Sprachpflege nach 1950 besonders stark bekämpften "Fehler", und nun zeigen die Ergebnisse des BSI eine erhebliche "Erfolglosigkeit" dieses Kampfes, die Zahlen lassen darauf schließen, dass die Sprecher fast beliebig wählen und möglicherweise führt in vielen Fällen das Problembewusstsein ("man" weiß aufgrund der vielen Warnungen und Hinweise, dass es mit dieser Form irgendeine problematische Bewandtnis hat) genau zur Wahl der "falschen" sprachlichen Variante. Pléh betrachtet dies als Ergebnis einer Dynamik der Hyperkorrektur.(21)

Die vielen Warnungen und Hinweise der Sprachpfleger bezüglich des suk/sük erscheinen im Licht der Interviewergebnisse wie sich selbst erfüllenden Prophezeiungen.(22)

Ein weiteres Beispiel für die Normierung des Ungarischen auf der Grundlage des undefinierten "gehobenen", "kultivierten" Sprachgebrauches durch die Rechtschreibregeln der Akademie ist die Kennzeichnung der Längung von i, u und ü. Die Opposition zwischen kurzen und langen Vokalen wird als charakteristisches Merkmal des Ungarischen vorgestellt, die Akzentsetzung zur Unterscheidung zwischen kurz i und lang í (entsprechend u/ú und ü/û) taucht bereits in den ersten Rechtschreibregeln der Akademie von 1832 auf, erst seit 1950 wird diese Regel jedoch explizit ausgeführt. Der Verlust dieser Opposition wird bereits seit längerem beklagt. Die Rechtschreibkommission der Akademie befürchtete nun den weiteren Verlust eines solch charakteristischen Merkmals aufgrund der Tatsache, dass es diese Akzente bis 1980 nur in gedruckten oder handschriftlichen Texten gab, nicht jedoch in maschinenschriftlichen Texten, hier mussten sie aufgrund der fehlenden Tasten per Hand eingefügt werden, was häufig unterlassen bzw. nicht vollständig ausgeführt wurde. Erst seit 1980 wurde daher auf das Betreiben der Kommission hin der Standard für ungarische Schreibmaschinentastaturen geändert.(23)

Die Rechtschreibung der kurzen und langen Vokale gilt als große Schwierigkeit beim Erlernen der ungarischen Schrift. Insbesondere in den westlichen Dialekten fehlt diese Opposition zum Teil. Die Rechtschreibregeln sind bis 1950 sehr inkonsequent und es gibt prominente Meinungen, wonach die schriftliche Unterscheidung langer und kurzer Vokale Schülern eine Mühe bereite, die dem Wert eines solchen Wissens nicht entspreche.(24)

Die Opposition von kurzen und langen Vokalen schwankt laut Varga (1968) aufgrund der dialektalen Vielfalt der Aussprache nach folgenden Merkmalen:(25)

Die Kommission der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, die mit sprachpflegerischen Aufgaben betraut war, betrachtete die fehlenden Schreibmaschinentasten für die Zeichen í, ú und û als Grund für den fort schreitenden Verlust dieser Opposition. Sie beachtete dabei die Untersuchung etwa von Varga (1968) nicht, wonach eine Kodifizierung der Aussprachenlänge unmöglich sei, da diese zu stark schwanke. (Hier ist anzumerken, dass bis heute kein Normwerk zur ungarischen Standardaussprache erstellt wurde.) Diese Feststellung wurde und wird von anderen Sprachwissenschaftlern getroffen. Nach der eindeutigeren Festlegung der Schreibweise in den Rechtschreibregeln An fang der 50er Jahre gelang es der Kommission für Sprachpflege auch, für eine Änderung des ungarischen Standards bei Schreibmaschinentastaturen zu sorgen. Die Tasten mit den Akzenten zur Längenkennzeichnung sind seit 1980 Standard.

Die Untersuchung des BSI (Version 2)(26)

mit lediglich 50 Probanden ergab, dass die Kennzeichnung der Vokallänge bei den Lesetests einen signifikanten Einfluss auf die Vokalkürzung hat: Diese kommt seltener vor. Ein wichtiges Ergebnis dieser (nicht repräsentativen) Untersuchung ist jedoch die Tatsache, dass andere Faktoren einen weitaus signifikanteren Einfluss auf die Vokallänge haben: Ein höheres Sprechtempo bei den Schnelllesetests erhöht die Wahrscheinlichkeit der Vokalkürzung. Hier sei angemerkt, dass eine Untersuchung den allgemeinen Anstieg des Sprechtempos des Ungarischen in den vergangenen rund hundert Jahren feststellte.(27)

Ein weiterer Faktor ist die Tatsache, ob es sich um einen gerundeten Vokal handelt (ú / û werden häu figer gekürzt) oder um einen ungerundeten Vokal (í wird seltener gekürzt). Hierbei spielt die Position des Vokals (Wortmitte oder Ende) eine Rolle. Auch der sozioökonomische Status erwies sich als signifikant unterscheidend (je höher die Bildung, desto seltener wurden Vokale verkürzt). Die Studie ist wie erwähnt nicht repräsentativ, lässt jedoch die Komplexität des Themas erkennen, das sich nicht einfach auf die Beziehung zwischen schriftlicher Kennzeichnung und die Beachtung dieser folgender Aussprache reduzieren lässt. Der Versuch, den Wandel der Aussprache durch die Einführung von Schreibmaschinentasten "aufzuhalten", erscheint in diesem Licht naiv. Er lässt die bereits bei der Kodifizierung und auch danach bestehende und heute fortbestehende Aussprachevielfalt außer Acht, ob überhaupt von einem Wandel die Rede gesprochen werden kann, ist also nicht belegt.

Die willkürliche Festlegung der Aussprache durch die schriftliche Norm verdeutlicht das Festhalten der Sprachpflege an einer "imaginierten", weil nicht definierten und nicht definierbaren "elitären" Norm. Bei diesem Beispiel stellt sich auch die Frage nach dem Sinn dieser Festlegung: Normierung um der Normierung willen? Ein Festhalten an dem Ideal um des Ideals willen? Etwa um des Ideals einer möglichst differenzierten (und schwer zu erlernenden) Schriftsprache willen?

Es erscheint folgerichtig, dass die veränderte Situation der ungarischen Gesellschaft in politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht den Boden bereitet für eine andere sprachliche Norm, genauer: für andere Prinzipien der Normierung. Die Positionen sind insbesondere in dem Sprachstreit der 90er Jahre deutlich geworden.

Das Lager der Kritiker der bislang herrschenden präskriptiven Norm Soziolinguisten, Anglisten, Amerikanisten und andere Sprachwissenschaftler, also der "Verräter", fordert eine Orientierung am tatsächlichen Sprachgebrauch der ungarischen Sprechergemeinschaft. Hierzu sind empirische Untersuchungen wie das BSI Budapester Soziolinguistische Interview die Voraussetzung, sie sollen wissenschaftliche Grundlagen für eine Normierung schaffen. Die Demokratisierung der sprachlichen Norm analog der gesell schaftlichen Prozesse soll insbesondere die Stigmatisierung des von der Norm abweichenden Sprachgebrauches beenden und damit die sprachlichen Menschenrechte gewährleisten.(28)

Die abwertende Beurteilung nicht normgerechten Sprachgebrauches als Zeichen von mangelnder Bildung und Intelligenz und der damit entstehende Zwang, neben einer muttersprachlichen Version (etwa eines Dialektes) auch die Hochsprache zu erlernen, um etwa im Bereich von Bildung und Beruf gleiche Chancen zu erlangen, wird als Linguistizismus abgelehnt, also als sprachlich basierte Diskriminierung.(29)

Der Wandel ist durch die Initiativen u.a. der Abteilung Soziolinguistik der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und das BSI angestoßen worden.

Die Debatte in den 90er Jahren lässt vermuten, dass sich für diese neue Ent wicklung im Bereich Sprachnormierung in erster Linie Sprachwissenschaftler interessieren. Die Bedeutung der traditionellen Sprachpflege ist seit der politischen Wende deutlich gesunken: Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gilt anderen Themen, die Präsenz der Sprachpflege in den Medien ist deutlich geschwunden. Dies ist besonders an den erheblich geringeren finan ziellen Mitteln abzulesen, welche der Akademie für Forschungszwecke zur Verfügung stehen.

Die Diskussion über eine offenere sprachliche Norm auch in Bezug auf die in der Minderheitsposition im Ausland lebenden Ungarn, über eine weniger "elitäre", vom Alltäglichen entfernte Norm bedeutet auch eine sprachliche Öffnung, die analog der politischen und gesellschaftlichen Öffnung verlaufen könnte.

© Gabriella Maráz (Universität München, Deutschland)


ANMERKUNGEN

(1) Tolcsvai Nagy (1991)

(2) Ungarisches Gesetz Nr. 156/2001, ungar. Text: www.complex.hu/external.php?url=3, deutsche Übers. in Maráz (2003), S. 517ff

(3) Lanstyák (1995)

(4) Die Nation (nemzet) bedeutet hier die Kulturnation, für welche die ungarische Sprache das wesentliche Element der Einheit darstellt.

(5) Vgl. Kontra/Saly (1998) mit einer Sammlung von Artikeln zum Sprachstreit.

(6) Vgl. zur Spracherneuerung die Darstellung in Bárczi (2001) und Fábián (1984)

(7) Vgl. u.a. Jakab (1995)

(8) Vgl. Romsics (2000), S. 186

(9) Vgl. Fischer (1999), S. 185

(10) Grétsy/Kovalovszky (1980/1985)

(11) Vgl. Kontra (1999)

(12) Vgl. zur Medienpräsenz der Sprachpflege Maráz (2003), S. 506-516.

(13) Lörincze (1999), S. 80 , Lörincze (1915 1993) war einer der bedeutendsten und einflussreichsten Sprachpfleger Ungarns mit hoher Medienpräsenz.

(14) Lörincze (1999), S. 84

(15) Kontra (1994), in: Kontra/Saly (1998), S. S. 269, Fußnote 4

(16) Vgl. http://www.nytud.hu/buszi/, die Homepage des Budapester Soziolinguistischen Interviews mit einem kompletten Interview. Vgl. zu den Ergebnissen in den einzelnen Nachbarstaaten Ungarns u.a. Csernicskó (1998), Göncz (1999), Lanstyák (2000)

(17) Váradi/Kontra (1994), S. 116

(18) Tabelle in Anlehnung an Váradi/Kontra (1994)

(19) Entspricht etwa dem deutschen Gymnasium (den letzten vier Jahren).

(20) Tabelle in Anlehnung an Váradi/Kontra (1994)

(21) Pléh (1995)

(22) Vgl. zu einem differenzierteren Bild dieses Phänomens u.a. Pléh (1995), Váradi/Kontra (1994).

(23) Vgl. hierzu Pintzuk u.a. (1995)

(24) Simonyi (1918), S. 230, er nennt hier die Schüler aus Westungarn (Pannonien).

(25) Vgl. Varga (1968), S. 76

(26) Vgl. zur Darstellung der Ergebnisse Pintzuk u.a. (1995)

(27) Kassai (1994)

(28) Vgl. u.a. Kontra (1999), hier das Kapitel "NYELV ÉS JOG" [Sprache und Recht], S. 57 - 90

(29) Vgl. u.a. Sándor (2001)


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