Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Juni 2004
 

6.1. Standardvariationen und Sprachauffassungen in verschiedenen Sprachkulturen | Standard Variations and Conceptions of Language in Various Language Cultures
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Rudolf Muhr (Universität Graz)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Papua Neuguinea:
Sprachen und Sprachauffassungen in einem Land mit 1000 Kulturen und über 700 Sprachen als eine Herausforderung für ein gutes Miteinander

Norbert Cuypers Svd (Steyler Missionare, Österreich)

 

Abstract

"Tok Pidgin", or Melanesian Pidgin, is one of more than 700 languages spoken in Papua New Guinea. It's a kind of an "artificial" language, composed out of many languages, such as English, German and, of course, locally spoken languages and dialects. More over, "Tok Pidgin" is the most widely used language in the country and shows very well, what and how people feel about life. It's a language, even we in Europe can learn from in many ways.

 

1. Land / Leute / Kultur

Über Papua Neuguinea und seinem schier unfassbaren Reichtum an Kulturen und Sprachen wissen viele Menschen in nördlichen Breitengraden überhaupt nichts. Oft werden leider nur klischeehafte Vorurteile - zum Teil von den Medien begünstigt - weitergegeben. So spricht man gerne von einem "primitiven Land" in der Südsee oder der Insel der "Kanaken und Menschenfresser". Für jeden aber, der in diesem Land eine gewisse Zeit gelebt und gearbeitet hat, werden solche Aussagen weh tun.

Gerade für einen interessierten Sprachwissenschaftler ist Papua Neuguinea ein wahres "Eldorado", spricht man doch auf der zweitgrößten Insel der Welt mehr als 700 verschiedene Sprachen, die zum Teil schon vom Aussterben bedroht sind. Der westliche Teil der Insel (früher Irian Jaya, heute aber eher West Papua genannt) war einst eine Kolonie der Niederlande und gehört zum jetzigen Indonesien. Der östliche Teil ist seit 1975 ein unabhängiger Staat. Vormals war es britische (das südliche "Papua") beziehungsweise deutsche Kolonie (das nördliche "Neu Guinea"/"Kaiser Wilhelmsland").

Die Küstenregion des Landes ist durch die Seefahrt schon lange im Kontakt mit der Außenwelt. Das Hochland dagegen erst seit den 30iger Jahren des letzten Jahrhunderts (um 1934). Australische Goldsucher und christliche Missionare gelten als die Pioniere im Hochland.

Papua Neuguinea ist rund sechs mal so groß wie Österreich, hat aber mit gut vier Millionen Menschen nur halb so viele Einwohner. Es gibt über 1000 Stämme mit ihren je eigenen Kulturen und Sprachen. Etwas Allgemeines über Land und Leute lässt sich deshalb nur schwer sagen, denn Küstenleute sind kulturell wesentlich anders, als Hochländer. Lange haben die Menschen isoliert voneinander gelebt. Heute vermischen sich die Kulturen. Das wirkt sich auch auf die Sprache aus.

 

2. Einheit in der Vielheit im Land der 700 Sprachen

Durch die lange Isolation voneinander haben sich unter den verschiedenen Kulturen von Papua Neuguinea diese große Anzahl von Sprachen entwickeln können. Alte Menschen aus den unterschiedlichsten Regionen des Landes können sich bis auf den heutigen Tag untereinander nicht verständigen. Junge Menschen hingegen lernen in der Schule das "Tok Pidgin".

"Tok Pidgin" (vom Englischen: "Talk Business" = Geschäftssprache) hat sich hauptsächlich im Kontakt zu den Seefahrern und den Kolonialherren der Insel immer mehr als eine verbindliche Sprache entwickelt und ist heute neben Police Motu und Englisch eine der drei offiziellen Staatssprachen.

Das "Tok Pidgin" ist eine gekünstelte Sprache, die sich bis heute hauptsächlich aus den verschiedenen melanesischen Stammessprachen, aus Englisch und aus Deutsch zusammensetzt. Auch aus der portugiesischen Sprache - bedingt durch den Kontakt mit portugiesischen Seefahrern - wurden bestimmte Wörter übernommen. So heißt das Wort für Kinder auf "Tok Pidgin": "pikinini".

"Tok Pidgin" ist eine lebendige Sprache, da sie sich derzeit noch laufend verändert. Der Einfluss von Deutsch nimmt ab; der Einfluss der englischen Sprache hingegen nimmt zu. So hieß früher beispielsweise: "Lasset uns beten" auf "Tok Pidgin": "Yumi beten". Heute sagen viele Melanesier "Yumi pre". Beides wird allerdings noch sowohl benutzt, als auch verstanden.

"Tok Pidgin" ist im Grunde eine einfache, eine "erzählende" Sprache. Ich sehe hier als Theologe Ähnlichkeiten zum Aramäischen, der Muttersprache Jesu. Geschichten, ob erfunden und/oder aus dem Leben genommen ist nicht so wesentlich, sind wichtiger Bestandteil bei fast jedem Gespräch. Abstrakte Ideen sind dagegen den Menschen fremd und daher auch in "Tok Pidgin" nur schwer auszudrücken.

Die Menschen in Papua Neuguinea sprechen meiner Erfahrung nach sehr viel und sehr gern in der Gegenwartsform, dem Präsens. Die Formen der Vergangenheit (Perfekt) und Zukunft (Futur) sind grammatikalisch zwar vorhanden, werden aber nur wenig beziehungsweise inkonsequent benutzt. Das entspricht meiner Beobachtung nach dem Lebensgefühl der Menschen: man lebt im konkreten Alltag. Das, was wirklich zählt ist das Hier und Jetzt. Sich Sorgen machen für morgen ist eher unbekannt.

Die internationale Ordensgemeinschaft der Steyler Missionare, 1875 von Arnold Janssen als deutscher Missionsorden in den Niederlanden gegründet und seit 1896 auf der Insel vor allem in der Pastoral und im Bildungswesen tätig, hat nicht unwesentlichen Anteil gehabt an der Weiterentwicklung und Vereinheitlichung des "Tok Pidgin". Das Standartwerk der Grammatik in Kombination mit einem Englisch - "Tok Pidgin" - Englisch Wörterbuch, das jedes Schulkind in Papua Neuguinea benutzt, ist beispielsweise das Werk des US Amerikaners P. Frank Mihalic SVD(1).

Die bis heute einzigste Zeitung in "Tok Pidgin" mit dem vieldeutigen Namen "WANTOK" (vom Englischen "one talk" = eine Sprache) wurde ebenfalls von Steyler Missionaren vor mehr als 35 Jahren gegründet. Dabei handelt es sich hier um eine Wochenzeitung, die alle Themen des Lebens abdeckt. In "WANTOK" findet man Sportnachrichten genauso wie Neuigkeiten aus der Politik. Das "Wort zum Sonntag" steht neben Witzen, Rätseln und Kontaktanzeigen. "WANTOK" ist also keine reine Kirchenzeitung, wird allerdings von den vier großen Hauptkirchen des Landes - Lutheranern, Katholiken, Anglikanern und der United Church - herausgegeben. Man beachte: alle anderen Printmedien im Land erscheinen in Englisch und sind daher den Massen nicht zugänglich, da Englisch entweder nur von der Elite des Landes oder den Ausländern im Land gesprochen, beziehungsweise gelesen wird.

Das Wort "Wantok" bezeichnet interessanterweise aber auch den Menschen, der mit mir die gleiche Sprache spricht und mir ähnlich einem Bruder / einer Schwester emotional nahe steht. Dem Menschen, mit dem ich eine Sprache teile, bin ich verpflichtet zu helfen. Er steht mir nahe und nimmt mich gerade deshalb auch sozial in die Verpflichtung. Andererseits kann ich mich auch auf meinen "Wantok" verlassen. In Zeiten der Not wird er oder sie sicher für mich da sein. Dieses Beziehungsgeflecht von Menschen, die sich eine der vielen Sprachen in Papua Neuguinea teilen, nennt man auch "Wantoksystem".

Man kann ohne weiteres behaupten, dass das "Wantoksystem" traditionell gesehen, eine Art melanesische Sozialversicherung ist. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass in Papua Neuguinea grundsätzlich das Denken vorherrscht, dass es mir als Individuum nur dann gut geht, wenn es meinem Stamm, meinen Sprachverwandten und damit eben all meinen "Wantok" gut geht. Deshalb wird sich jeder Melanesier und jede Melanesierin darum bemühen, dass Harmonie unter all seinen beziehungsweise. ihren "Wantok" herrscht. Traditionell sehr gut funktionierend, bringt das "Wantoksystem" heute aber die Menschen, die im Kontakt mit der sogenannten "zivilisierten Welt" stehen, in große Gewissensnöte. So fühlt sich beispielsweise ein einfacher Arbeiter im Supermarkt seinem Mitmenschen gegenüber, der die gleiche Sprache spricht wie er, dem "Wantok" eben, gegenüber verpflichtet, die Waren auch dann auszuhändigen, wenn der andere nicht bezahlen kann oder will. Das führt zu Diebstählen, die letztlich ein Geschäft in den Ruin führen können. Eine für uns Europäer schwer verstehbare Logik - für die Menschen in Papua Neuguinea aber eine Selbstverständlichkeit.

 

3. Konkrete Spracherfahrungen aus dem Alltag

Meiner Meinung nach ist die Sprache eines Landes ein guter Indikator des Lebensgefühls und der Lebensphilosophie der Menschen, die sie sprechen. Für Papua Neuguinea und dem "Tok Pidgin" gilt das auf alle Fälle. Die Wichtigkeit der Gegenwartsform (Präsens) in der alltäglichen Konversation wurde weiter oben bereits erwähnt! Ein paar weitere Beispiele wären an dieser Stelle noch erwähnenswert:

"Bel isi" heißt beispielsweise wortwörtlich übersetzt: ein "guter Bauch". Man bezeichnet in Papua Neuguinea damit eigentlich den Zustand des Friedens und nicht etwa den Umfang des Bauches nach einem guten Essen. Ich habe einen "guten Bauch", kein Magendrücken und Magengeschwür in der Begegnung mit dem anderen, wenn zwischen uns Frieden herrscht.

"Bel hevi" dagegen bedeutet wörtlich: ein "schwerer Bauch". Damit wiederum meint man die Sorgen, die man hat. Ich habe einen "schweren Bauch", ich habe Bauchweh vor dieser oder jener Aufgabe. Ich mache mir eben Sorgen um jemanden und / oder etwas.

Der Begriff "Maski" kommt ursprünglich vom deutschen Wort: "Macht nichts!" Es ist übrigens eines der ersten und wohl wichtigsten Wörter, die man in Papua Neuguinea zu lernen hat. So vieles im Land läuft anders, als man ursprünglich geplant hat. Man ärgert sich dann entweder maßlos darüber, oder man nimmt die lockere, unverkrampfte und damit entspannte Haltung des "Maski" an. Das Wort "Maski" zeigt etwas von der Unbekümmertheit und Leichtigkeit des Lebens der Melanesier, obwohl die Lebensumstände der Menschen gemessen an den unsrigen in Europa oft alles andere als leicht sind.

Im "Tok Pidgin" gibt es kein rechtes Wort für "Onkel" und "Tanten". Sie werden für gewöhnlich genauso wie die Eltern "Papa" und "Mama" genannt. In der Erziehung der Kinder haben Onkel und Tanten denn auch eine ähnlich, wenn nicht gleichberechtigte Rolle zu spielen, wie Vater und Mutter.

Unter Familie versteht man in Papua Neuguinea also mehr als nur Vater, Mutter, Kind. In Melanesien gehören da die Cousinen genauso dazu wie die Tanten und Onkel. Auch das drückt sich im "Tok Pidgin" sehr gut aus und ist mit zu bedenken, wenn man die Sprache und das Lebensgefühl dieser Menschen verstehen will. So ist mit "Brata" einerseits der leibliche "Bruder" in Papua Neuguinea gemeint. Es kann sich dabei aber auch um den "Cousin" handeln. Der Kontext, in dem der Satz gesprochen wird, ist also wichtig. "Susa" wiederum kann meine leibliche "Schwester" sein, aber eben auch meine "Cousine". Wenn in meinem Fachgebiet, der Theologie, also darüber gestritten wird, ob Jesus Christus nun leibliche Brüder und Schwestern hatte, weil es doch so in der Heiligen Schrift geschrieben steht, dann relativiert sich diese Diskussion im Grunde, wenn wir auf das "Tok Pidgin" schauen. Der Verweis auf eine gewisse Ähnlichkeit zumindest im Sprachgefühl zur Muttersprache Jesu, dem Aramäischen, wurde weiter oben bereits gemacht.

"Yu go we?" kann mit "Wo gehst du hin?" übersetzt werden. "Yu go we?" fragt der Neuguiner grundsätzlich jeden, den er auf der Strasse trifft. Dabei ist er nicht wirklich daran interessiert, wo die von ihm angesprochene Person hingeht. Es ist aus der Sicht eines Melanesiers eher eine Einstiegsfrage für einen kleinen Plausch, der einfach ein "muss" einer jeden Begegnung ist. Ohne Gruß jemanden an sich vorbeigehen lassen käme einer Unhöflichkeit gleich und wäre fast schon eine Beleidigung des gegenüber. Die rhetorische Frage "Yu go we?" kommt von daher vom Gebrauch und vom Lebensgefühl der Menschen in Papua Neuguinea am ehesten an das deutsche "Wie geht es dir?" heran.

"Yu lukim mun o nogat?" heißt wortwörtlich übersetzt eigentlich: "Hast du den Mond gesehen?" Im melanesischen "Tok Pidgin" hat es aber eine zweite, eine weitere Bedeutung, um die man wissen muss, vor allem dann, wenn man als Mann mit einer Frau ins Gespräch kommen will: "Yu lukim mun o nogat?" bedeutet im weiteren Sinn nämlich auch: "Willst du mit mir schlafen?" Die Frage kann sich also nicht nur auf den letzten Vollmond am am nächtlichen Himmel beziehen, sondern - an eine Frau gerichtet - die Frage implizieren, ob sie ihre Tage hat und entsprechend bereit ist, mit dem Fragesteller sexuellen Kontakt zu haben. Übrigens: Als zölibatär lebender Sprachlehrling habe ich mir seinerzeit mit dieser Frage ein Riesengelächter unter den jungen Mädchen im Dorf eingehandelt...

4. Was das melanesische Sprachgefühl uns lehrt

Melanesier leben vor allem in der Gegenwart, im "Hier und Jetzt". Die Vergangenheit ist unwiderruflich vorbei. Einen Melanesier nach seinem Alter zu fragen ist ein mühseliges Unterfangen, da er oder sie das im Normalfall nicht weiß. Warum auch? Andererseits fehlt dadurch auch ein Gefühl für Geschichte. Es ist Schülerinnen und Schülern in Papua Neuguinea nur schwer verständlich zu machen, wie lang man sich beispielsweise 100 Jahre vorzustellen hat. Wenn dann aber Vergangenheit doch wichtig ist für das leben im Heute, dann wird sie im Sprachgebrauch oft wieder zur Gegenwart. Das kann man am Beispiel des Ahnenglaubens erkennen: die Geister der längst Verstorbenen sind so sehr real präsent im Alltag der Menschen, dass man mit ihnen und über sie im Präsens spricht.

Die Zukunft wiederum kommt für die Papuas erst später und warum sich jetzt schon sorgen um das, was noch in der Ferne liegt? Auch das wird in der Sprache der Menschen wird das sehr deutlich. Es scheint wirklich so: Wir Europäer haben die Uhren - die Papuas haben die Zeit. Als Menschen eines sich beschleunigenden Alltags können wir uns von ihnen sagen lassen: "Stap isi", was so viel heißt: "Bleib einfach!" oder auch: "Bleib ruhig!"

Ein zweiter Aspekt: die Menschen in Papua Neuguinea leben und kommunizieren sozusagen "aus dem Bauch" heraus und sind wesentlich weniger "verkopft" als wir. Ihre Sprache ist im Grunde eine einfache - nur für uns kompliziert denkende Europäer gerade deshalb etwas mühsam am Anfang. Wir könnten von den Menschen in Papua Neuguinea und ihrer Sprache daher lernen, mehr unserem "Bauchgefühl" zu vertrauen, also ganzheitlicher zu leben. Weniger "verkopft" und kompliziert, aber mehr im Kontakt mit unseren Gefühlen und Emotionen. Als jemand, der im Dienst der Verkündigung steht, habe ich diesbezüglich sehr viel von den Menschen in Papua Neuguinea lernen können.

Die Melanesier sind stark am Gemeinschaftswesen orientiert und halten die Stellung der eigenen Familie hoch. Sie gehen vom Wohlergehen des anderen aus, damit es auch ihm im Leben gut geht. Was zählt, ist der Mensch. Auch dieser Aspekt, der sich ebenfalls im "Tok Pidgin" manifestiert, könnte unseren europäischen Kulturen nicht schaden, die zunehmend materialistisch geprägt sind und mit Slogans werben, die da beispielsweise lauten "Geiz ist geil!" oder: "Zum Teilen zu schade."

© Norbert Cuypers Svd (Steyler Missionare, Österreich)


ANMERKUNGEN

(1) Frank Mihalic S.V.D. (1971): Jacaranda Dictionary and Grammar of Melanesian Pidgin, Jacaranda Press.


LITERATUR

Frank Mihalic S.V.D. (1971): Jacaranda Dictionary and Grammar of Melanesian Pidgin, Jacaranda Press.


6.1. Standardvariationen und Sprachauffassungen in verschiedenen Sprachkulturen | Standard Variations and Conceptions of Language in Various Language Cultures

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Norbert Cuypers Svd (Steyler Missionare, Österreich): Papua Neuguinea: Sprachen und Sprachauffassungen in einem Land mit 1000 Kulturen und über 700 Sprachen als eine Herausforderung für ein gutes Miteinander. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/06_1/svd15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 16.6.2004     INST