Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. August 2004
 

6.2. Der Einfluß der Medialität auf sprachliche Kommunikationsstrukturen und die Organisation des kulturellen Gedächtnisses
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Gisela Fehrmann und Erika Linz (Universität Köln)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Über sprachlich-bildliche Interferenzen im dokumentarischen Fernsehen

Bianca Herlo (Universität der Künste Berlin)

 

Über den sprachlich-bildlichen Zusammenhang im Film, geschweige denn im Dokumentarfilm, ist wenig geschrieben worden. Obwohl Bild und Sprache zusammen die Basis audiovisueller Kommunikation bilden und den Ausgangspunkt jeglicher Film- und Fernsehpraxis liefern, wird die Interaktion dieser Systeme in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung kaum beachtet.

Eine speziell auf die Interaktion von Sprache und Bild ausgerichtete Auseinandersetzung mit Film, die mögliche Kombinationsformen systematisch erfassen soll, findet bis zum Aufkommen semiotischer Annäherungen an den Gegenstand so nicht statt. Noch Mitte der 60er Jahre und parallel zu den dokumentarfilmtheoretischen Auseinandersetzungen um den normativ geprägten direct cinema und seinen methodischen Regularien der Nichtintervention und der Ablehnung von Kommentar(1), stellt sich in der Diskussion der Filmtheorie die Frage nach dem 'richtigen', stimmigen Einflechten von Bild und Wort in Bezug auf die verschiedenen Ebenen der Zuordnung.

Spätestens mit Metz' semiotischer Annäherung an den Gegenstand Film und in Anlehnung daran mit Dominique Chateau und François Jost (Chateau/Jost 1979) wird klar, dass das Einsetzen eines Tons allein auf der Wahl unter den verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten beruht. 'Naturalistische' Kombinationen sind folglich als paradigmatisch und nicht grammatikalisch-normativ anzusehen.

"Die Schwierigkeit der Zuordnung von Bild und Ton verweist nicht auf ein neues System der Codifikation, das die räumliche Zuordnung ausschließt, sondern auf das System der audiovisuellen Codifikation selbst - auf die Tatsache, daß im Tonfilm in räumlicher Zuordnung von Bild und Ton Bedeutung erzeugt wird." (Rauh 1987, 39)

Im folgenden Aufsatz möchte ich mich zu der Funktionsweise sprachlich-bildlicher Kombinationen vortasten. Im Mittelpunkt der Betrachtungen steht die Frage nach den Verfahren der semantischen Beeinflussung von Wort und Bild in dokumentarfilmischen Arbeiten(2), ohne hier syntaktische und pragmatische Aspekte der Wort-Bild-Beziehungen mitzuberücksichtigen(3). Dabei richte ich meine Aufmerksamkeit auf dokumentarische, fiktionalisierende und ästhetische Modi im Sinne Odins (mode esthétique: "conduire le spectateur à s`intéresser au travail des images et des sons", Odin 1994, 36ff; vgl. dazu auch Odin 1989), die in den untersuchten Fällen zur Sinn- und Bedeutungskonstitution eingesetzt werden.

Die semantische Beeinflussung von Wort und Bild soll exemplarisch anhand der Repräsentation literarischer Texte im dokumentarischen Fernsehen aufgezeigt werden, mit besonderem Augenmerk auf die Frage, welche verfahrensmäßig eingesetzten Qualitäten der Zuordnung von Sprache und Bild Inhalte generieren, die über den informativen Charakter hinausgehen und interpretativ sowie selbstreflexiv auf die Medialitätsform verweisen. Die mediumspezifische Annäherung an den Gegenstand Literatur, die letztlich den Zuschauer auf literarische Schaffensprozesse und filmischen Umgang mit Sprache und Bild sensibilisieren soll, verdeutlicht nur allzu offensichtlich die Abhängigkeit der kommunizierten Inhalte von der Art ihrer medialen Vermittlung.

Ausgangspunkte liefern die Filmtexte "GARCIA LORCA UND GRANADA" (1965) von Michael Mrakitsch, "MAX FRISCH, JOURNAL I-III" (1980) von Richard Dindo und "VERSUCH ÜBER PETER HANDKE" (1992) von Georg Stefan Troller. Die Auswahl der Filmtexte erfolgte anhand ihres innovativen, dokumentarische Formen weiterentwickelnden Charakters.

 

Qualitäten der Zuordnung

Die Frage, in welchen Darbietungsformen sich belletristische Werke präsentieren, so dass Erkenntnis und sinnliches Vergnügen gleichermaßen möglich werden, ist die Frage nach der visuellen Umsetzung literarischer Sprache. Welche Verfahren können bei der Interferenz von literarischer Sprache und Bild eingesetzt werden, damit diese neue, über den literarischen Text hinausgehende Gedankenkonstrukte und Figuren bilden? Das dialektische Verhältnis zwischen Anschauung und Begriff, das im Film grundsätzlich vom visuellen Bild und von der Montage bestimmt wird, kann durch die in den Film eingehende literarische Sprache besondere Möglichkeiten zu komplexen Aussagen bieten.

Die Hauptqualitäten der Zuordnung können mit dem in Anlehnung an Reinhold Rauh erarbeiteten Grundmuster(4) vorgestellt werden:

Anhand der Unterscheidung semantischer Potenzierungen, Modifikationen, Parallelitäten und Divergenzen, die jeweils unterschiedliche Modi der Wahrnehmung generieren, kann die verfahrensmäßig angewendete semantische Beeinflussung der beiden Ausdruckmaterien betrachtet und dadurch deutlich gemacht werden, inwieweit Annäherungen an Werke und Personen interpretativ, dialektisch oder rein informativ aufgebaut sind, sowie welche Qualitäten der Zuordnung eine bewusste Wahrnehmung der unterschiedlichen Funktionsweisen bei der Interferenz der heterogenen Zeichenmaterien erlauben.

Grundsätzlich möchte ich nachzeichnen, wie verbal-visuelle Codes nicht die erzählerische Nachricht oder den erklärenden Modus (vgl. Nichols 1998) entfalten, sondern die Aufmerksamkeit auf die medialen Grundlagen des Diskurses lenken, d.h. im vertikalen Aufbau des Films, wie ihn Maya Deren versteht, Bedeutung konstituieren: "In a 'vertical' developement, it is a logic of central emotion or idea that attracts to itself even desparate images which contain that central core, which they have in common". (Deren zit. nach Lindemann 1977, 292) Die modellierte Welt, wie sie bei der Visualisierung von literarischem Text etwa entsteht, ist dann einem fiktionalisierenden Modus zuzuordnen.

 

Potenzierung

Die Potenzierung ist die hauptsächliche Qualität des Interferierens und meint die gegenseitige Steigerung, indem sich beide Aussageebenen ergänzen und damit ein größeres, übergeordnetes Ganzes ergeben: "Potenzierungen ermöglichen den sprachlich-bildlichen Gesamteindruck, für den die (mögliche) eigenständige Signifikanz des Verbalen oder Visuellen verwischt ist. Sie sind Garanten des Kino-Naturalismus, für den, wie im alltäglichen Leben, das Sprachliche und das Visuelle in den jeweilig spezifischen Ausdrucksmaterien zumeist keine besondere Relevanz haben und allein der Mitteilung der Nachricht dienen." (Rauh 1987, 76)

Eine Potenzierung im semantischen Sinne liegt dann vor, wenn Teilinformationen des Gesprochenen dem Visualisierten zuordenbar sind. Dies impliziert, dass der Text gegenüber dem Bild über relevante zusätzliche Informationen verfügt, die auf der Ebene des filmischen Bildes nicht vorhanden sind.

Bedeutung entsteht durch das Generieren bestimmter im Bild enthaltener Informationen durch das Gesprochene, denn Text und Bild verschränken sich tiefenstrukturell in der Weise, dass Sprache das Wahrnehmungsmuster für das konkrete Bildmaterial vorgibt, wie umgekehrt die dem sprachlichen Muster entsprechenden und von ihm generierten Inhalte (Seme) dieses konkretisieren und visuell erfahrbar machen.

Zur Veranschaulichung möchte ich ein Beispiel aus dem Film "GARCIA LORCA UND GRANADA" (1965) von Michael Mrakitsch heranziehen:

Text (Zitat aus einem Theaterstück, abwechselnd Frauen- und Männerstimme):

"- Natürlich, die Frauen im Haus. Wenn die Häuser keine Gräber werden. Aber nicht hier. Wenn ich sofort eine alte Frau würde, mit einem Mund wie eine zerquetschte Blume, dann könnte ich dir zulächeln und das Leben mit dir teilen.
- Fehlt dir etwas, sage es mir doch, antworte!
- Ja, es fehlt mir etwas!
- Ach, immer dasselbe.
- Ich bin nicht wie du. Die Männer führen ein anderes Leben. Das Vieh, die Bäume, die Unterhaltungen."
 

Bild (1, 2, 3): Großaufnahme alte Frau, Frauen beim Nähen draußen, Männer beim Dominospielen.

Bild 1, Garcia Lorca und Granada, 1965 Bild 2, Garcia Lorca und Granada, 1965
Bild 3, Garcia Lorca und Granada, 1965 Bild 4, Garcia Lorca und Granada, 1965

Hier korrespondieren Wort und Bild über gemeinsame Inhalte - die Aufnahme einer alten Frau erscheint simultan zur Frau "mit einem Mund wie eine zerquetschte Blume" aus dem Text, die Trennung zwischen Männer- und Frauengesellschaft, sowie die Männer mit ihren "Unterhaltungen" werden direkt visualisiert (rauchend beim Dominospiel). Asimultan nimmt das sprachlich generierte Bild von den Häusern als "Gräber" die Einstellung eines aus der Dunkelheit des Raums in die Mittagshitze blickenden Frauenprofils vorweg (Bild 4).

Die visualisierten Personen stehen exemplarisch für die im Text evozierte Gesellschaftsform, der zugrunde eben diese, dem Dorf Fuentevaqueros entnommenen Verhältnisse liegen. Andalusien war die Quelle für Lorcas Dramen, und insofern ist hier eine potenzierende Auflösung gegeben, als sich Lorca selbst als realistischer Dichter der "sozialen Aktion" begreift. Die Bilder entreißen den Zuhörer aus seiner Vorstellung einer irrealen Welt und konkretisieren diese Verhältnisse als immer noch ausharrender Nährboden maroder gesellschaftlicher Konventionen.

Wenn 20 Sekunden später das Frauenprofil wiederaufgenommen wird (Text, Frauenstimme: "Nachbarinnen, mit einem Messer/einem winzigen Messer,/eines Tages, der bestimmt war,/ zwischen drei Uhr und vier/erstachen sich beide Männer für Liebe"), so wird hier nicht nur der simultane Text, sondern auch rückwirkend die zuvor vorgetragene Frauenrolle indirekt auf den mentalen Zustand dieser 'Eingeschlossenen' übertragen. Die Ebene der Gedankenstimme dieser Frauenfigur gibt dem Text dann eine zusätzliche Dimension - sie betont die Subjektivität der Bilder, bekräftigt sie und stellt zugleich ihren Wahrheitswert und ihre eigene Position immer wieder in Frage. Der dokumentarisierende Modus, der deskriptiv die Menschen und ihr Verhalten festhält, kippt dann ins Fiktionalisierende, Inszenierte. Unterstützt wird dieses durch die Geräuschgestaltung: über die gesamte Sequenz hört man das metallische, unnaturalistisch verzerrte Klirren der Dominosteine auf dem Blechtisch, wenn gelegt wird. Dieses Geräusch, das streckenweise synchron zur Spielgebärde abläuft, klingt in seiner Intensität bedrohlich und konnotiert u.a. Messerklirren oder -schärfen. Der Blick der in der Dunkelheit kaum zu erkennenden Frau, der auf den bevölkerten und zwei Sekunden später auf den leeren Platz und die bedrohliche Stille des Ortes fällt (Zwischenschnitt: Profil), rückt die gesamte Szenerie ins Surreale, bei dem das Zeitkontinuum keine Rolle mehr spielt.

 

Modifikation

Modifikation bedeutet eine gegenseitige Einschränkung, weil das Bild Aspekte enthält, die zum Wort im Widerspruch stehen und damit eine Einschränkung in der Bedeutung des Wortes und auch des Bildes erzeugen. Modifikationen kommen wesentlich durch Generierung von Oppositionen im Bild zustande.

Eine semantische Modifikation liegt demnach vor, wenn das Sprachliche dem filmischen Bild zuordenbar ist und im sprachlichen Teil noch Informationen enthalten sind, die Informationen des Bildes widersprechen. Eben jene visuellen Informationen werden aber erst durch das Sprachliche generiert bzw. bekommen dadurch Aufmerksamkeit. Es entsteht dabei der Eindruck, dass das Bild als eigenständige Ausdrucksmaterie kommentiere. Modifikationen können oft als Mittel zur Ironie eingesetzt werden und relativieren meistens das Gesagte. Diese Kombination erlaubt es, den Kommentar als allwissende Instanz in seiner Lehrhaftigkeit beispielsweise zu entlarven.

Bei der Charakterisierung der darzustellenden Protagonisten etwa kann ein solcher dialektischer Aufbau zur komplexen Darstellung möglicherweise unentbehrlich sein.

1. Beispiel, aus "VERSUCH ÜBER PETER HANDKE" (1992):

Text: Troller asyntop-synchron: "Sind Sie eigentlich ein gläubiger Mensch, ein gottesfürchtiger Mensch?" Handke, syntop-synchron: "Nein, das kann ich nicht sagen."

Bild (5): Handke in der Kirche mit Madonna links oben im Hintergrund, die einen langen Schatten über seinen Kopf wirft; Nahaufnahme.

Bild 5, Versuch über Peter Handke, 1992

Die verbale Äußerung hat in Zusammenhang mit Handkes Mimik und Gestik an sich nichts Modifizierendes. Durch die Umgebung jedoch und die vorhergehende Einstellung, in der Handke andächtig eine Kerze anzündet, sowie durch den Bildaufbau mit der scheinbar über Handke mächtigen Madonna modifiziert Troller hier das Gesagte und stellt es in Frage. Das, was er aus dem Dichter nicht verbal locken kann, konnotiert er auf visueller Ebene und zeigt somit seine eigene "Interpretation" der Person Handke. Die entschiedene Verneinung des Dichters, die kontradiktorisch modifiziert wird, charakterisiert ihn als widersprüchliche Persönlichkeit.

Der Filmemacher verwendet auch asimultane Modifikationen, die Handkes Äußerungen kritisch beleuchten, wenn etwa der Dichter die Fragen "Mögen Sie Kinder?" und "Können Sie mit Kindern?" entschieden verneint, in der darauffolgenden Einstellung jedoch der liebevolle, sichtlich gerührte Vater im Umgang mit seinem Neugeborenen visualisiert wird. Es stellt sich die Frage, inwiefern Handke seine Verneinung ernst meint oder nur zur Irritation benutzt, inwiefern er in eine Rolle schlüpft, die von Troller entlarvt wird.

2. Beispiel, aus "GARCIA LORCA UND GRANADA" (1965):

Text (Gedicht Lorcas): "Am Nachmittag war es, /um fünf Uhr genau./ Ein Knabe brachte das weiße Leintuch,/ am Nachmittag um fünf Uhr. [...] Ihm brüllte der Stier vor der Stirn,/ am Nachmittag um fünf Uhr./ Das Zimmer erschillert vor Todeskampf,/ am Nachmittag um fünf Uhr. [...] Ach, welch gräßliches Fünf Uhr Nachmittag./ Auf allen Uhren wars fünf Uhr,/ in des Nachmittags Schatten/ wars fünf Uhr."

Bild (6, 7, 8, 9): Stierkampf, leere Tribüne, Stadtansichten eines granadinischen Nachmittags - spielende Kinder, streuender Hund, beschäftigte Frauen -; sich rhythmisch abwechselnd. Am Ende: der getroffene, im Fallen begriffene Torero.

(Ton: Geräuschkulisse einer ausverkauften Zuschauertribüne.)

Bild 6, Garcia Lorca und Granada, 1965 Bild 7, Garcia Lorca und Granada, 1965
Bild 8, Garcia Lorca und Granada, 1965 Bild 9, Garcia Lorca und Granada, 1965

Kein weißes Leintuch, kein Bett und kein im Sterben Liegender werden visualisiert, dennoch ist der gemeinsame Bezug eindeutig: der Tod als Schauspiel, wie er sich beim Stierkampf am besten inszenieren lässt. Die Bildmontage spiegelt den Spannungsaufbau des Textes wider: beide kulminieren im Tod.

Hier baut sich eine dynamische Konfrontation eigenständiger Ausdrucksmaterien auf: die Geräuschkulisse (emotionalisierte Zuschauermenge eines Stierkampfs) kollidiert mit der menschenleeren Tribüne; die spielenden Kinder mit dem Knaben aus dem Text; der noch agierende Torero mit dem sterbenden, dessen Stierkampf schon stattgefunden; "die Leute zerbrachen die Fenster" mit der Frau am Brunnen, die einer Alltagsbeschäftigung nachgeht. So generieren die Modifikationen eine bewusste Wahrnehmung von Ton und Bild, jenseits der Erwartungen naturalistischer Wiedergabe. Der Rhythmus des Gedichts findet sich in der Montage wieder.

Wenn bei Potenzierungen der interpretative Raum durch eindeutige visuelle Zuweisungen eingeschränkt wird, so schafft die modifizierende Eigenständigkeit von Bild, Text und Ton ein komplexes Zusammenspiel, das dem Gedicht die Interpretationsräume offen lässt und es in seinem formalen Aufbau unterstützt. Simultane wie asimultane Modifikationen befreien die Bildkomposition von einer visuellen `Übersetzung' des Gedichts. Die Spannung liegt in der Parallelmontage, die nach dem Prinzip der Kollision Bewegung und Ruhe, Tod und Alltag aufeinandertreffen und im Niedergang des Toreros sich vereinigen lässt.

 

Parallelität

Von Parallelität ist die Rede, wenn die Informationen des sprachlichen Teils mit denen des visualisierten Bildes semantisch deckungsgleich sind, das heißt, es gibt auf sprachlicher Ebene keine zusätzlichen, dem Bild zuordenbaren Informationen. Am einfachsten sind Parallelitäten auszumachen, wenn entweder das Sprachliche oder das Bildliche den Anschein erwecken, überflüssig zu sein, wobei die visuelle Bedeutung auch in diesem Fall erst durch den Text generiert wird.

Parallelität von Sprache und Bild wird in den gängigen Darstellungen des Verhältnisses dieser Zeichenmaterien als das bei Anwendung des Kommentars besonders zu Umgehende eingeschätzt. Diese Einstufung kann jedoch irreführend sein und pauschalisiert die Komplexität der Ausdrucksmaterien Bild und Sprache. Parallelität von Verbalem und Visuellem kann beispielsweise von ästhetischem Nutzen sein, wenn es darum geht, die Spezifität der verwendeten Materien verfahrensmäßig zu demonstrieren - denn man sagt etwas anderes, wenn man das Gleiche auf andere Weise sagt. Auch kann Parallelität, beispielsweise bei der schriftlichen Darstellung des gleichzeitig verbal Wiedergegebenen, zur Intensivierung des Verständnisses beitragen, eine kontemplative Wahrnehmung herbeiführen oder Zusätze wie die persönliche Handschrift des Autors u.ä. beinhalten. Es handelt sich hierbei keineswegs um unnütze Wiederholungen.

Beispiel, aus "MAX FRISCH. JOURNAL I-III" (1980): Lynn am Strand

Text (Zitat Autor): "Lynn läuft noch immer und weit weg. Im Augenblick ist die Gestalt kaum zu erkennen, da dort, wo sie jetzt läuft, das Meer unter der Sonne glitzert und blendet. Sie läuft herwärts, scheint es, später wird sie deutlich. Sie läuft in Bögen wie Slalom, vermutlich läuft sie um die einzelnen Schaumzungen der Brandung. Einmal schwingt sie ihre Arme dazu, aus Lust. Ich möchte dieses Wochenende beschreiben können, ohne etwas zu erfinden, diese dünne Gegenwart."

Bild (10): Original-Super-8-Aufnahme des Autors von Lynn am Strand von Montauk. Sie geht am Ufer entlang, kommt dann auf die Kamera zu.

Bild 10, Max Frisch. Journal I-III, 1980

Diese Wort-Bild-Kombination, die über parallele, die gleiche Zeitebene betreffenden Seme arbeitet, unterstreicht die visuelle Präzision des Schriftstellers. Die Parallelität deckt aber die trotz gleicher Inhalte unterschiedliche Funktionsweise beider Zeichenmaterien auf. Auch wenn die Sprache präzise beschreibt, so fehlt ihr doch die dem visuellen Bild innewohnende Spezifikation: Jeder, der allein den Text hört bzw. liest, imaginiert eine eigene, von persönlichen Vorstellungen geprägte Figur, die Lynn verkörpert; das visualisierte Bild Lynns jedoch legt diese fest, konkretisiert sie in ihrer Art sich zu bewegen etc.

 

Divergenz

Von Divergenz ist dagegen zu sprechen, wenn das Wort Informationen liefert, die keinen Bezug zum Bild herstellen, aber als dazugehörig empfunden werden und deshalb oft nur im übertragenen Sinn zugeordnet werden können.

Die visuelle Ebene kann dabei metaphorisch auf Informationen des Sprachlichen bezogen, das Sprachliche in einen völlig neuen, aus der gewohnten Wahrnehmung herausgerissenem Kontext gestellt werden. Die semantische Divergenz eignet sich demnach, Metaphern zu bilden und freie Assoziationen zuzulassen.(5) Auch wenn Bild und Sprache keine gemeinsamen Inhalte aufweisen, so bezieht der Zuschauer sie wegen des zeitlichen Verhältnisses automatisch aufeinander und vereinigt sie auf einer synästhetischen Ebene.

Die semantische Divergenz ist es auch, die Béla Balázs mit seiner Theorie über die 'Filmlyrik' anvisierte (vgl. Balázs 1980, 222). Auch in Harun Farockis filmischer Auseinandersetzung mit Medien "DER ÄRGER MIT DEN BILDERN" (1973) werden Divergenzen als Alternative für die Praxis der Fernseh-Features empfohlen: Das Bild müsse als Symbol für das Gesprochene eingesetzt werden, um der üblichen audiovisuellen Scheinordnung zu entgehen.

Wie auch Modifikationen können Divergenzen die bewusste Wahrnehmung von Ton und Bild fördern, da sie weniger eine 'naturalistische' Wiedergabe realer Verhältnisse anstreben, als vielmehr Bedeutungssysteme entstehen lassen, die mentale Bilder (Deleuze) durch wechselseitige Ergänzung und Infragestellung von Bildfolge und Tonspur erzeugen. (Blümlinger 1992, 12)

Beispiel, aus "MAX FRISCH. JOURNAL I-III" (1980): Lynn am Strand 2

Text (Zitat Autor): "Das Leben summiert sich aus Handlungen, die zufällig bleiben, es hätte immer auch anders sein können, und es gibt keine Handlung und keine Unterlassung, die für die Zukunft nicht Varianten zuließe. Der einzige Vorfall, der keine Variante mehr zuläßt, ist der Tod."

Bild (10): Original-Super-8-Aufnahme des Autors von Lynn am Strand von Montauk. Sie geht am Ufer entlang, kommt dann auf die Kamera zu.

(gleiches Bildmaterial wie im vorangegangenen Beispiel zu Parallelität)

Die simultane Divergenz zeigt die bekannte Aufnahme in einem neuen Kontext: Wenn bis daher Lynn mit Anwesenheit, Gegenwart und Lebendigkeit konnotiert wurde, so wirkt die Einstellung durch den im Text evozierten Tod befremdend. Eine neue Perspektive wird eröffnet: Über den Text hinaus scheinen die Reflexionen über Zufall und Tod dem filmischen Material selbst zu entstammen. Auch wenn dieses Sinnieren konkret mit biografischen Erlebnissen des Schriftstellers in Verbindung gebracht wird: Die Flüchtigkeit des Augenblicks, die die Kamera einfängt, wird selbst zum Inbegriff des Zufalls. So reflektiert Dindo mit Hilfe Frischscher Sprache über sein eigenes Filmhandwerk. Diese Selbstreflexion, wie sie als solche auch bei Mrakitsch vorkommt, allerdings in einem anderen Zusammenhang ("Vielleicht täuschen uns die Bilder"), verläuft kongruent mit der des Schriftstellers, wenn er sich etwa im Laufe des Films einige Male fragt, woher er das Recht nähme, über das Leben anderer zu schreiben. Indem der Satz "Woher nehm ich das Recht, die andern auszuplaudern" an drei verschiedenen Stellen im Film wiederholt wird, verstärkt Dindo die Fragestellung des Autors und überträgt sie auch auf sich selbst als Filmemacher.

Wenn es bei Mrakitsch heißt: "Vielleicht täuschen uns die Bilder", "Vielleicht täuscht uns Lorca", so ist dies eine Form der Selbstreflexivität(6) , die gezielt die Frage nach Sein und Schein aufwirft und die Subjektivität filmischer Bilder gleichermaßen wie die der Sprache offenzulegen sucht. Der Film reflektiert seine Mittel auf einer essayistischen Art und Weise, wie dies auch bei Dindo vollzogen wird. Die Verbindung von Bild und Sprache eröffnet hier eine Möglichkeit der Reflexion darüber, wie der Film Erinnerungsprozesse einfangen kann, welchen Gesetzmäßigkeiten die Gedächtnisspuren des Films gehorchen und in welcher Weise der Film als Gedächtnis seines selbst funktioniert.

 

Schlusswort

Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Annäherung an den Gegenstand Literatur, die letztlich den Zuschauer auf literarische Schaffensprozesse und filmischen Umgang mit Sprache sensibilisieren soll, diesen Anforderungen nur dann nachkommen kann, wenn sie filmisches Bild und verbale Sprache gleichermaßen differenziert behandelt. Das aktive Nachdenken und Einfühlen des Rezipienten, das das Bewusstsein für Bild und Sprache gleichermaßen schärft, kann, wie gezeigt, mit den analysierten Verfahren der semantischen Modifizierung, Parallelität und Divergenz erreicht werden.

Ich habe in Ansätzen die Funktionsweise der semantischen Beeinflussung von Wort und Bild aufgedeckt und die Spezifik der heterogenen Zeichenmaterien und von deren bedeutungsstiftenden Faktoren erläutert. Die systematische Unterscheidung von Potenzierung, Modifikation, Parallelität und Divergenz hat gezeigt, dass die Steuerung des filmischen Bedeutungsaufbaus jeweils unterschiedlichen Mustern der bewussten und unbewussten Wahrnehmung der beiden Zeichenmaterien/der Medialitätsform unterliegt. Während Potenzierungen in insignifikanter Weise Sprache und Bild miteinander verschmelzen, im Wesentlichen die narrativen und erklärenden Elemente tragen und ein naturalistisches Raum-Zeit-Kontinuum gewährleisten, können Modifikationen, Parallelitäten und Divergenzen vom bewussten, verfahrensmäßigen Umgehen mit den verbalen und visuellen Materien Zeugnis geben.

Die mediumsspezifische Annäherung an den Gegenstand Literatur verdeutlicht die Abhängigkeit der kommunizierten Inhalte von der Art ihrer medialen Vermittlung

Das Potenzial dokumentarischer Formen im Umgang mit literarischer Sprache liegt gerade in der Entautomatisierung fernsehdokumentarischer Sehgewohnheiten durch verfahrensmäßige Verwendung von semantischen Modifikationen, Parallelitäten und Divergenzen und dem damit verbundenen Lavieren zwischen dokumentarisierenden, fiktionalisierenden und ästhetisierenden Modi der Bedeutungskonstitution.

Auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse können zum einen weiterführende Untersuchungen an konkreten Filmtexten unternommen werden, um in umfassender Weise die Verkettung und die dokumentarfilmische Dynamik der sprachlich-bildlichen Codifikationen auch unter pragmatischen und syntaktischen Aspekten zu erfassen.

© Bianca Herlo (Universität der Künste Berlin)


ANMERKUNGEN

(1) Vgl. dazu Wildenhahn in: Hohenberger 1998, S. 128-154

(2) Ausführlich zum Begriff des Dokumentarischen vgl. Stott 1986; Nichols 1981; Hohenberger 1988

(3) Die Komplexität der Beziehungen zwischen Sprache und Bild in all ihren Manifestationen erforderte eine weitaus tiefgehendere Untersuchung, als sie in diesem Rahmen vorgenommen werden konnte. Im Hinblick auf den Eingang literarischer Sprache in den Filmtext liefert gerade die Untersuchung semantischer Aspekte der Wort-Bild-Beziehungen die Basis für weitere, syntaktische und pragmatische Betrachtungsweisen.

(4) Rauh hat 1987 eine umfangreiche Kombinatorik der Wort-Bild-Beziehungen entwickelt, die, neben raum-zeitlichen Zuordnungskriterien, semantische, pragmatische und syntaktische Aspekte berücksichtigt. In Anlehnung an Chateau/Jost hat er die Trennung von 'On' und 'Synchron' aufgegriffen und danach klassifiziert, ob sich eine räumliche und zeitliche Zuordnung zwischen Wort und Bild feststellen lässt. Dabei entstanden folgende Verbindungsmöglichkeiten: 1. Wort und Bild lassen sich einander zeitlich wie räumlich zuordnen* (syntop-synchron). Diese Verbindung entspricht dem, was gewöhnlich 'On' genannt wird: Die Quelle des Gesprochenen ist hier optisch verifizierbar, und das Gesprochene verhält sich synchron; 2. Wort und Bild lassen sich einander zeitlich, aber nicht räumlich zuordnen. Diese Kombination entspricht am ehesten der französische Bezeichnung 'hors du champ' oder dem, was im Englischen 'off the screen' genannt wird. Besonders oft findet sie Anwendung im sogenannten Schuss-Gegenschuss-Verfahren, wenn das Sprechen einer Person sich in der Zeit der nächsten, den Antagonisten visualisierenden Einstellung fortsetzt. (asyntop-synchron) 3. Es kann auch - sehr viel seltener - eine räumliche Zuordnung ohne zeitlichen Bezug bestehen, wenn beispielsweise die Schallquelle zwar im Bild ist, der Ton aber dem Bild beim Sprechen den Lippenbewegungen nachhinkt. (syntop-asynchron) 4. Schließlich kann es ein Nebeneinander von Wort und Bild geben, ohne dass sie einander räumlich oder zeitlich zuordenbar sind. Hier ist also weder die Schallquelle des Gesprochenen zu sehen, noch fällt der Zeitpunkt des Sprechens mit dem Zeitpunkt der Visualisierung zusammen. (asyntop-asynchron)

Daneben bieten gerade die Qualitäten der Zuordnung für die Erfassung des Ton-Bild-Phänomens im Dokumentarfilm einen willkommenen Ansatz, vgl. hierzu Rauh 1987; Chateau/Jost 1979.

*Mit 'zeitlich zuordenbar' ist synchron gemeint, 'räumlich zuordenbar' bedeutet, dass die Schallquelle visualisiert ist. Als Abkürzung benutzt Rauh den Neologismus syntop.

(5) Zum Begriff der Metapher vgl. Black 1996 oder Ricoeur 1986; zu filmischen Metaphern Whittock 1990

(6) Vgl. dazu Selbst-Bilder des Kinos. Diskussion in Blümlinger 1992, 124ff


LITERATUR

Albersmeier, Franz-Josef: Bild und Text. Beiträge zu Film und Literatur (1976-1982), Peter Lang, Frankfurt a.M. 1983

Balázs, Béla: Der Film. Werden und Wesen einer neuen Kunst, Globus, Wien 1980 (erstmals 1924, 1930, 1949)

Black, Max: Mehr über die Metapher, in: Theorie der Metapher, Anselm Haverkamp (Hg.), Darmstadt 1996

Blümlinger, Christa/ Wulff, Constantin (Hg.): Schreiben. Bilder. Sprechen. Texte zum essayistischen Film, Sonderzahl, Wien 1992

Chateau, Dominique/ Jost, François: Nouveau cinéma, nouvelle sémiologie. Essai d'analyse des films d'Alain Robbe-Grillet, Union Générale d'Éditions, Paris 1979

Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild, Kino 2 (Originalausgabe: Cinema 02: L'image-temps), Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1991

Deleuze, Gilles: Cinema. 01: L'image mouvement. 02: L'image-temps, Minuit, Paris 1983/85

Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse, Metzler, Stuttgart 2001 (3. Auflage)

Hohenberger, Eva (Hg.): Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Vorwerk 8, Berlin 1998

Lindemann, Bernhard: Experimentalfilm als Metafilm, Olms, Hildesheim/ New York 1977

Metz, Christian: Semiologie des Films, München 1972 (Erstausgabe im O.: Essais sur la signification au cinéma, Paris 1968)

Mitry, Jean: Das Wort als Spiegel der Wirklichkeit, in: Sprache im technischen Zeitalter, (Hg. Höllerer, Walter) Band 13, Kohlhammer, Berlin 1965

Nichols, Bill: Ideologie and the Image. Social Representation in the Cinema and Other Media, Bloomington 1981

Odin, Roger: A Semio-Pragmatic Approach of Documentary Film, in: De Greef, W./ Hesling,W. (Hg.): Image Reality Spectator: Essays on Documentary Film, Acco, Leuven 1989

Odin, Roger: Sémio-pragmatique du cinéma et de l'audiovisuel, in: Müller, Jürgen E. (Hg.): Towards a Pragmatics of the Audiovisual. Theory and History, Bd. 1, Münster 1994

Rauh, Reinhold: Sprache im Film. Die Kombination von Wort und Bild im Spielfilm, MAkS Publikationenen Münster, Münster 1987

Reif, Monika: Film und Text. Zum Problem von Wahrnehmung und Vorstellung in Film und Literatur, Narr, Tübingen 1984

Ricoeur, Paul: Die lebendige Metapher, München 1986

Stott, William: Documentary Expression and Thirties America, University of Chicago Press, Chicago 1986

Troller, Georg Stefan: Das Wort als Bild, in: Ernst, Gustav (Hg.): Sprache im Film, Wespennest, Wien 1994

Whittock, Trevor: Metaphor and Film, Cambridge University Press, Cambridge 1990

Zimmermann, Peter (Hg.): Fernseh-Dokumentarismus. Bilanz und Perspektiven, Ölschläger, Konstanz 1994 (2. Auflage)


FILME

Garcia Lorca und Granada. Beschreibung eines Verlustes.
60 Minuten.
BR Deutschland 1965
Regie, Buch: Michael Mrakitsch.
Text: Reinhard Baumgart (Übersetz.: Hildegard Baumgart)
Kamera:E. Maeder
Redaktion: Klaus Simon.
Erstausstrahlung: ARD, 30.5.1966 ("Der Dichter und seine Stadt")
 
Max Frisch, Journal I-III
120 Minuten
Schweiz/ BR Deutschland/ Österreich, 1980
Regie, Buch: Richard Dindo
Kamera: Renato Berta, Robert Boner, Rainer Maria Trinkler
Erstausstrahlung: 10.5.1981 N 3
 
Versuch über Peter Handke
30 Minuten
BR Deutschland 1992
Regie: Georg Stefan Troller, Erstausstrahlung: ZDF, 21.06.1992 ("Personenbeschreibung")
 
Der Ärger mit den Bildern. Eine Telekritik von Harun Farocki
Regie, Buch: Harun Farocki
Produktion: WDR, Köln
Redaktion: Angelika Wittlich, Erstausstrahlung: WDR 3, 16 Mai 1973


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