Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. September 2004
 

6.2. Der Einfluß der Medialität auf sprachliche Kommunikationsstrukturen und die Organisation des kulturellen Gedächtnisses
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Gisela Fehrmann und Erika Linz (Universität Köln)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


2 + zwei = ?
Sprachspezifische Einflüsse auf die mentale Zahlenverarbeitung

Wiebke Iversen (SFB/FK 427 "Medien und kulturelle Kommunikation" Universität Köln)

 

Die Antwort auf die im Titel gestellte, recht triviale Aufgabe lautet selbstverständlich "Vier" oder "4" oder "IIII" ... Aber was denn nun? Sind alle diese Zeichen eine symbolische Darstellung derselben numerischen Quantität? Das würde voraussetzen, dass es eine abstrakte numerische Quantität unabhängig vom Zeichen gibt, die nur noch dargestellt werden muss. Dagegen spricht allerdings, dass Numerale in der externen Welt ausschließlich im Zusammenhang mit einer entsprechenden symbolischen Einheit interpretierbar sind und Schüler dementsprechend im Mathematikunterricht lernen, dass man nicht Äpfel und Birnen addieren darf. Wenn es aber keine abstrakte Form der 'vier' gibt, wieso können wir dann Zahlen von einer Notation in die andere übersetzen und wieso können wir numerische Quantitäten auf verschiedene Einheiten übertragen? Im Folgenden sollen einige Hinweise zu Antworten auf diese Fragen gesucht werden.

Viele neurologische Untersuchungsberichte über Patienten mit linkslateralen Hirnschädigungen weisen darauf hin, dass zumindest an der Enkodierung von geschriebenen und gesprochenen Zahlworten auf der einen Seite und arabischen Zahlensymbolen auf der anderen Seite unterschiedliche neuronale Netzwerke beteiligt sind. Diese Netzwerke sind über verschiedene Wege miteinander verbunden, so dass hirngesunde Menschen Zahlen sehr schnell und effektiv von einer Notation in die andere transkodieren können. Patienten mit linkslateralen Hirnläsionen jedoch zeigen große Schwierigkeiten beim Lesen oder Schreiben von Zahlwörtern und der Lösung von einfachen arithmetischen Aufgaben, wie 2 + 2 = X. Dieselben Patienten lösen hingegen approximative Rechenaufgaben problemlos und können Größenvergleiche mit arabischen Zahlen fehlerfrei durchführen.(1) Diese Befunde weisen darauf hin, dass die rechte Hemisphäre dominant bei der Prozessierung von arabischen Zahlensymbolen beteiligt ist, während eine linkslaterale Hemisphärendominanz bei der Verarbeitung von geschriebenen und gesprochenen Zahlzeichen vorliegt.

Während sich die einheitliche Verwendung des arabischen Zahlensystems im westlichen Kulturkreis durchgesetzt hat, sind die jeweiligen sprachlichen Benennungen der arabischen Symbole unterschiedlich. Das Zahlenlexikon der meisten europäischen Sprachen besteht aus 10 arbiträren Sprachzeichen (Eins bis Zehn), die durch jeweils im Sprachsystem definierte syntaktische Regeln miteinander verbunden werden, um zwei- und mehrstellige Zahlen auszudrücken. In einigen Sprachen kommen zusätzlich auch irreguläre Zahlwörter vor, die weder zu den Basiszahlen gehören noch mit anderen Zahlzeichen verbunden werden, wie zum Beispiel die Zahlwörter 'elf' und 'zwölf' im Deutschen. Der Umgang mit solchen irregulären Zahlwörtern erweist sich im Erwerb von arithmetischen Fertigkeiten als besondere Schwierigkeit, wie Nunes und Bryant in cross-linguistischen Studien mit amerikanischen und taiwanesischen Kindern im Alter zwischen 4 und 6 Jahren zeigen konnten.(2) Während die Benennungen von 11 und 12 im Englischen ebenso wie im Deutschen irregulär sind ('eleven', 'twelve'), werden die entsprechenden chinesischen Ausdrücke regelmäßig gebildet. 'Shi yi' und 'shi er' bedeutet übersetzt "Zehn-Eins" und "Zehn-Zwei". In einer sehr anschaulichen Studie mit einem Kaufladenspiel konnten die Autoren nachweisen, dass amerikanische Kinder größere Schwierigkeiten hatten, die Summe von 11 Pennies aus 1-, 5- und 10-Pennies Münzen zusammenzusetzen als taiwanesische Kinder, die das chinesische Zahlensystem verwenden und zum Bezahlen 1-, 5- und 10-Fen Münzen zur Verfügung hatten.

Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass die spezielle Wortbildungsregel im Deutschen und Flämischen, in zweistelligen Zahlen zunächst die Einer- und dann die Zehnerstelle zu benennen, Auswirkungen auf deren mentale Prozessierung hat. Angehörige dieser Sprachgemeinschaften verarbeiten in Größenvergleichen von zweistelligen Zahlen die Einerstellen automatisch mit, während dies in anderen Sprachen, wie im Englischen z.B., nicht unbedingt der Fall sein muss.(3)

Diesen wenigen Befunden zur sprachspezifischen Zahlenverarbeitung stehen eine Fülle von Ergebnissen gegenüber, die sprach- und notations-unabhängig (arabische Zahlen oder geschriebene oder gesprochene Zahlwörter) zu sein scheinen. Im Folgenden werden zwei solcher Effekte beschrieben, die oft und mit verschiedenen europäischen Sprachen repliziert worden sind:

  1. Moyer und Landauer(4) konnten nachweisen, dass bei numerischen Größenvergleichen mit einstelligen Zahlen und fester Vergleichszahl 5 die Reaktionszeiten mit zunehmender numerischer Distanz der zu vergleichenden Zahlen abnehmen. Der Größenvergleich der Ziffern 1 und 5 wird beispielweise schneller ausgeführt als der Vergleich von 4 und 5. Dieser Distanz-Effekt wurde mit der Metapher eines räumlich-visuellen mentalen Zahlenstrahls erklärt, auf dem unterschiedliche numerische Quantitäten verschiedene Segmente aktivieren. Abschnitte für zwei Zahlen, die sich lediglich durch eine Einheit voneinander unterscheiden (z.B. 4 und 5) liegen auf diesem Zahlenstrahl räumlich näher beieinander als Abschnitte für Zahlen mit größeren numerischen Differenzen (z.B. 1 und 5). Dadurch ist die Differenzierung von numerischen Quantitäten mit kleinen numerischen Unterschieden schwieriger und entsprechend zeitintensiver.
  2. Ein weiterer wichtiger Beleg für die räumliche Zahlenstrahlmetapher wurde von Stanislas Dehaene und Kollegen(5) in Experimenten gewonnen, in denen die numerische Größe einer Zahl zur Lösung der Aufgabe völlig irrelevant war. Die Probanden sahen jeweils eine Ziffer auf einem Monitor und sollten entscheiden, ob die Zahl gerade oder ungerade ist. Für die Antworteingabe standen zwei Tasten zur Verfügung, die je nach Parität der Zahl (gerade/ungerade) mit dem rechten oder linken Zeigefinger bedient werden sollten. Die Zuordnung der Antwortseite zur Parität wurde systematisch variiert (gerade Zahlen mit der rechten Antworttaste vs. gerade Zahlen mit der linken Antworttaste). Es zeigte sich, dass auf relativ kleine Zahlen immer schneller mit der linken Antwortseite reagiert wurde, während relativ große Zahlen schneller mit der rechten Antwortseite bearbeitet wurden. Diese räumlich-numerische Assoziation, (Spatial Numerical Association of Response Code) SNARC-Effekt, trat unabhängig von der Parität der Zahl oder der Händigkeit der Testpersonen auf. Ließ man die Testpersonen die Hände überkreuzen, so dass mit dem linken Zeigefinger die rechte Antworttaste bedient werden musste, zeigte sich, dass die Antwortseite und nicht die Hand relevant war. In einem Experiment mit Angehörigen des arabischen Kulturkreises zeigte sich die Tendenz einer entgegengesetzten Assoziation bei dieser Probandengruppe. Diese Ergebnisse wurden auf eine automatische - nicht unterdrückbare - Enervierung eines mentalen numerischen Größenformats zurückgeführt, dessen räumliche Ausrichtung in Schreibrichtung (im westlichen Kulturkreis von links nach rechts ansteigend) in den Antwortmustern widergespiegelt wird.

Aus solchen und anderen Befunden wurden verschiedene Modellvorstellungen zur mentalen Zahlenverarbeitung entwickelt. Grundsätzlich lassen sich zwei Gruppen von Modellvorstellungen unterscheiden, je nachdem, ob eine abstrakte Zahlenrepräsentation angenommen wird, also die Vorstellung einer vom Zeichen unabhängigen numerischen Quantität zugelassen wird, oder ob die Modelle auf eine solche Annahme verzichten. Der prominenteste Vertreter der ersten Gruppe ist wohl Stanislas Dehaene, der 1992 das Tripple Code Model(6) veröffentlichte, das später von Dehaene und Cohen zu einem funktional-anatomischen Modell weiterentwickelt wurde.(7) Diesem Modell zufolge werden Zahlen mental in drei verschiedenen Zahlenformaten verarbeitet. Geschriebene und gesprochene Zahlzeichen werden über das linke perisylvische Areal verarbeitet. Mit diesem cerebralen Sprachareal sind weitere Netzwerke assoziiert, die auf das Abrufen von arithmetischem Faktenwissen spezialisiert sind. Arabische Zahlzeichen werden bilateral über Enkodierungswege für visuelles Bildmaterial prozessiert. In keinem dieser mentalen Formate sind semantische Eigenschaften der Zahl enthalten. Solche Informationen werden ausschließlich in dem dritten Format, der analogen Größenrepräsentation, gespeichert. Dieses Zahlenformat wird bilateralen Arealen des parietalen inferioren Kortex zugeschrieben. Zu seiner Beschreibung dient häufig die Metapher eines mentalen Zahlenstrahls.(8)

Campbell und Clark verzichten in der sogenannten 'Encoding Complex Hypothesis' auf die Annahme einer abstrakten Zahlenrepräsentation. Diese wird durch ein System von mehreren modalitäts- und formatsspezifischen Repräsentationsformaten ersetzt, die visuell, phonologisch und analog sein können.(9) Alle Formate sind durch ein komplexes Netzwerk miteinander verbunden und aktivieren sich gegenseitig. Durch assoziative Inhibition und Exzitation benachbarter Knoten innerhalb des interaktiven Netzwerkes werden Zahlen verarbeitet. Numerische Aufgaben können unterschiedliche Codes aktivieren, jedes Format kann aber auch an verschiedenen numerischen Aufgaben beteiligt sein. Dadurch können Störungen der Zahlenverarbeitung teilweise kompensiert werden.(10) Bestimmte bevorzugte Lösungsstrategien verschiedener Aufgaben entwickeln sich durch kulturelle und ideosynkratische Unterschiede.(11)

Dehaene und Kollegen kritisieren an dieser Vorstellung zum einen, dass sich daraus keine empirisch überprüfbaren Hypothesen ableiten lassen.(12) Zum anderen spräche die Ähnlichkeit in den Ergebnissen für arabische Zahlen und Zahlwörter eher für die Beteiligung eines abstrakten mentalen Zahlenformats, in das alle Zahlen - unabhängig vom Inputformat - mental transkodiert werden, bevor eine numerische Operation ausgeführt wird. Die bislang veröffentlichten Studien beziehen sich allerdings alle auf Probandengruppen, deren Muttersprache Englisch, Französisch, Flämisch oder Deutsch ist. Im Folgenden wird die These vertreten, dass die Ähnlichkeit der Ergebnismuster in Studien mit hörenden Probanden auf die Ähnlichkeit der zugrunde liegenden Strukturen der verschiedenen Zeichensysteme zurückgeführt werden kann und nicht als Beleg für eine abstrakte Zahlenrepräsentation bewertet werden muss. Zum Beispiel ist den untersuchten sprachlichen Zahlenlexika und dem arabischen Zahlensystem gemeinsam, dass sich 10 Basiszahlen in ihrer physikalischen Form voneinander unterscheiden und dass es sich jeweils um arbiträre Zeichen handelt. Eine Personengruppe, deren sprachliches Zahlensystem sich vom arabischen in mehreren Aspekten unterscheidet, ist hingegen die Gruppen von deutschen Gehörlosen.

Das Zahlenlexikon der Deutschen Gebärdensprache (DGS) unterscheidet sich nicht nur hinsichtlich der Modalität von der deutschen Lautsprache, sondern auch in der Struktur des zugrunde liegenden Zahlensystems. Die 10 Basis-Zahlengebärden sind durch eine Eins-zu-eins-Korrespondenz zwischen der Fingeranzahl, die im Gebärdenraum entfaltet wird, und dem Zahlenwert motiviert. Für die Zahlengebärden von 1 bis 10 werden alle zehn Finger beider Hände benutzt. Jacqueline Leybaert und Marie-Noëlle Van Cutsem(13)

haben einen Effekt der Eins-zu-eins-Korrespondenz des Zahlensystems mit belgischen gehörlosen Kindern feststellen können. In der abstrakten Zählbedingung, bei der Kinder aufgefordert wurden, so weit wie möglich zu zählen, waren Auslassungen sowohl bei hörenden als auch bei gehörlosen Kindern die häufigsten Fehler. Allerdings unterlief 64% der Hörenden dieser Fehlertyp, aber nur 24% der Gehörlosen.

Des Weiteren gibt es in der Deutschen Gebärdensprache im Unterschied zur Lautsprache lediglich 5 Handformen, die sich hinsichtlich ihrer physikalischen Form voneinander unterscheiden. Diese Handformen werden regelgeleitet kombiniert, um die Zahlengebärden von 6 und 9 auszudrücken. Der Regel zufolge zeigt die nicht-dominante Hand dabei immer die 5-Handform, die Präsenz dieses Zeichens weist also darauf hin, dass es sich um einen Zahlwert größer als 5 handeln muss. Die exakte numerische Quantität wird durch die Handformen 1 bis 5 auf der dominanten Hand des Gebärdenden spezifiziert. Das Gebärdenzeichen 6 etwa setzt sich aus 1 (dominante Hand) + 5 (nicht dominante Hand) zusammen, das Zeichen für 7 aus 2 (dominante Hand) + 5 (nicht-dominante Hand) und das Zeichen 8 aus 3 (dominante Hand) + 5 (nicht-dominante Hand). Zweistellige arabische Zahlen werden in DGS durch das Verändern der Parameter Bewegung und Handstellung ausgedrückt. In alltäglichen Kommunikationsprozessen kommt es natürlich vor, dass der Gebärdende nur eine Hand frei hat (Festhalten einer Kaffeetasse, Tasche etc.). In solchen Fällen kann eine zweihändige Zahlengebärde durch die Handform der dominanten Hand ausgedrückt werden. Die exakte numerische Quantität entnimmt der Rezipient dann dem Kontext oder der Mundgestik.

Die Struktur des DGS-Zahlensystems ist der des römischen Zahlensystems sehr ähnlich und würde in einer von Zhang und Norman entwickelten Taxonomie von Zahlensystemen einer anderen Kategorie als der arabischen Notation zugeordnet werden.(14) Ein wichtiges Unterscheidungskriterium in dieser Taxonomie ist die Dimensionalität des Zahlensystems. Das arabische Zahlensystem lässt sich durch ein 1 x 1 dimensionales System beschreiben, mit den Dimensionen 'Basis' (die 10 Basiszahlen 0-9, die sich in ihrer Form voneinander unterscheiden) und 'Power' (die Stellung der Einzelzahl in mehrstelligen Zahlen). Die Hauptbasis der DGS-Zahlen entspricht dem Dezimalsystem, wird jedoch in 2 Fünfereinheiten unterteilt. Somit ließe sich dieses Zahlensystem als (sub-basis (5) Dimension x sub-power (nicht dominante Handform 5) Dimension) x Power Dimension beschreiben ((1x1)x1). Der Logik Zhang und Normans folgend wird angenommen, dass sich die Dimensionalität des Zahlensystems auf die mentale Prozessierung auswirkt.

In Studien mit Paritätsentscheidungen(15) von deutschen gehörlosen Probanden konnte bereits ein Einfluss des DGS-Zahlensystems (sub-basis 5) auf die Organisation im mentalen Lexikon beobachtet werden, der sich ausschließlich für sprachliche Reize (geschriebene deutsche Zahlwörter und DGS-Zahlen), nicht aber für arabische Zahlsymbole nachweisen ließ.(16) Neben diesen notationsspezifischen Einflüssen wurden zusätzliche Effekte beobachtet, die unabhängig von der Zahlennotation auftraten. Die Testpersonen antworteten immer schneller auf kleinere Zahlen mit der linken Antwortseite und auf größere Zahlen mit der rechten Antwortseite. Dieser notations-unabhängige SNARC-Effekt bestätigt also die These von Dehaene, dass alle numerischen Operationen unter Beteiligung einer analogen Größenrepräsentation prozessiert werden, die vom Inputmedium unabhängig ist. Da die Struktur des numerischen Lexikons in DGS aber weniger Eigenschaften mit dem arabischen Zahlensystem aufweist als das Zahlensystem der Lautsprache, stellt sich nun die Frage, welches Zahlensystem dem 'mentalen Zahlenstrahl' bei Gehörlosen zugrunde liegt: das dezimale System der arabischen Zahlen oder das sub-basis 5 System der DGS? Alternativ dazu könnte man annehmen, dass die Zahlgröße für DGS-Zahlen durch einen eigenen 'mentalen Zahlenstrahl' anderes als die arabischen Zahlen prozessiert werden. Der These eines einzigen Zahlenstrahls für alle Inputformate wird also die Annahme gegenübergestellt, dass die Zahlgröße formatspezifisch codiert wird und dass somit mindestens zwei mentale Zahlenstrahle angenommen werden müssten. Sollte sich diese Annahme bestätigen, wäre die Zahlenstrahlmetapher überflüssig, da semantische Informationen über die Zahlgröße bereits jedem Zahlzeichen eingeschrieben sind.

Zur Prüfung dieser Hypothese wurden Studien mit Größenvergleichen durchgeführt, da hier eine direkte Beteiligung einer - wie auch immer gearteten - Größenrepräsentation anzunehmen ist. Ein Vergleich numerischer Größenurteile über arabische Zahlen und DGS-Zahlengebärden sollte deshalb Hinweise auf die Frage zulassen, ob Zahlengebärden notationsspezifisch prozessiert werden.

Die gehörlosen Probanden saßen vor einem Computer, auf dessen Monitor einzelne Zahlen in verschiedenen Notationen eingeblendet wurden (arabische Zahlen, Zahlwörter, DGS-Zahlengebärden). Sie wurden instruiert zu entscheiden, ob eine Zahl größer oder kleiner als 5 ist und für die Antworteingabe zwei externe Tasten zu benutzen. In einer experimentellen Hälfte sollte auf alle Zahlen, die größer als 5 sind, mit der rechten Antwortseite reagiert werden und auf alle Zahlen, die kleiner als 5 sind, mit der linken Antwortseite. In einer zweiten experimentellen Hälfte waren die Zuordnungen der Antwortseiten entgegengesetzt.

Erste Ergebnistendenzen dieser Studie zeigen formatspezifische Reaktionszeitmuster der gehörlosen Probanden. Während für arabische Zahlen ein Distanz-Effekt und ein SNARC-Effekt beobachtet werden konnte, verschwanden beide Effekte für die sprachlichen Zahldarstellungen (DGS und geschriebene deutsche Zahlwörter). Dies ist besonders erstaunlich wenn man bedenkt, dass beide Effekte bislang als überaus stabil galten und in zahlreichen Studien repliziert wurden. Auch die Antwortmuster für geschriebene Zahlwörter und DGS-Zahlengebärden unterscheiden sich qualitativ sehr stark voneinander.

Die Ergebnisse weisen auf einen deutlichen Einfluss des Zahlensystems und des Inputmediums (Zahlennotation vs. Gebärdensprachfotos) hin, der sich sogar auf die mentale Prozessierung solch basaler numerischer Operationen wie Größenvergleiche auswirkt. Die notationsabhängigen Ergebnisse stützen die oben formulierte Hypothese, dass sich die Unterschiede der Zahlensysteme in den Reaktionszeitmustern widerspiegeln. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die scheinbar notations-unabhängige Zahlenverarbeitung bei Hörenden auf die Ähnlichkeit der Zahlensysteme (arabische Zahlen und geschriebene Zahlwörter) zurückgeführt werden kann und dass beide Notationen deshalb ähnlichen - aber eben nicht identischen - mentalen Prozessierungen unterworfen sind. Somit sprechen die Ergebnisse aus beiden Untersuchungen (Paritätsuntersuchungen und Größenvergleiche) mit Gehörlosen dafür, dass es keine numerische Größe unabhängig von ihrer Darstellungsform gibt, und damit gegen die Annahme einer abstrakten Größenrepräsentation. Im Gegenteil, wird ein etwas anderes Zahlensystem untersucht, spiegelt sich dies deutlich in den Antwortmustern wider. Die Ergebnisse sind eher mit den Vorstellungen einer 'Encoding Complex Hypothesis' von Campbell und Clark vereinbar.

© Wiebke Iversen (SFB/FK 427 "Medien und kulturelle Kommunikation" Universität Köln)


ANMERKUNGEN

(1) Vgl. Dehaene, S. & Cohen, L. (1991): Two mental calculation systems: A case study of severe acalculia with preserved approximation. In: Neuropsychologia 29, S. 1045-1075.

(2) Vgl. Nunes, T. & Bryant, P. (1996): Children doing mathematics. Oxford.

(3) Vgl. Nuerk, H. C.; Weger, U. & Willmes, K. (2001): Decade breaks in mental number line? Putting tens and units back into different bins. In: Cognition 82, B25-B33.

(4) Vgl. Moyer, R. S.& Landauer, Thomas K. (1967): The Time required for judgements of numerical inequality. In: Nature 215, S. 1519f.

(5) Dehaene, S.; Bossini, S. & Dupoux, P. (1993): The mental representation of parity and number magnitude. In: Journal of Experimental Psychology: General 122, S. 371-396.

(6) Vgl. Dehaene, S. (1992): Varieties of numerical abilities. In: Cognition 44, S. 1-42.

(7) Vgl. Dehaene, S. & Cohen, L. (1995): Towards an anatomical model of number processing. In: Mathematical Cognition 1, S. 83-120.

(8) Vgl. Restle, F. (1970): Speed of adding and comparing numbers. In: Journal of Experimental Psychology 91, S. 191-205.

(9) Vgl. Campbell, J.I.D. & Clark, J.M. (1988): An encoding complex view of cognitive number processing: Comment on McCloskey, Sokol and Goodman 1986. In: Journal of Experimental Psychology: General 117, S. 204-214; Campbell, J.I.D. & Clark, J.M. (1992): Cognitive number processing: An encoding complex perspective. In: J.I.D. Campbell (Ed.): The nature and origins of mathematical skills. Amsterdam, pp. 457-491; Clark, J.M. & Campbell, J.I.D. (1991): Integrated versus modular theories of number skills and acalculia. In: Brain and Cognition 17, S. 204-239; Campbell J.I.D. (1994): Architectures of numerical cognition. In: Cognition 53, S. 1-44.

(10) Vgl. Campbell J.I.D. (1994): Architectures of numerical cogniton. In: Cognition 53, S. 1-44.

(11) Vgl. Clark, J.M. & Campbell, J.I.D. (1991): Integrated versus modular theories of number skills and acalculia. In: Brain and Cognition 17, S. 204-239.

(12) Vgl. Dehane, S., Bossini, S. & Giraux, P. (1993): The mental representation of parity and number magnitude. In: Journal of Experimental Psychology: Human, Perception and Performance 16, S. 626-641.

(13) Jacqueline Leybaert & Marie-Noëlle Van Cutsem (2002): Counting in Sign Language. In: Journal of Experimental Child Psychology 81, S. 482-501 (hier: S. 492).

(14) Vgl. Zhang, Jiajie & Norman, Donald A. (1995): A representational analysis of numeration systems. In: Cognition 57, S. 271-295.

(15) Alle beschriebenen vergleichenden Untersuchungen mit hörenden und gehörlosen Probanden wurden im Rahmen eines von der DFG geförderten Teilprojektes im Forschungskolleg 'Medien und kulturelle Kommunikation' ausgeführt.

(16) Vgl. Iversen, Wiebke; Nuerk, Hans-Christian & Willmes, Klaus (in press): Do signers think differently? The processing of number parity in deaf participants. In: Cortex; Iversen, Wiebke; Nuerk, Hans-Christian, Jäger, Ludwig & Willmes, Klaus: What's Odd About Six? How Language Properties Can Drive Number Processing. (unveröffentlichtes Manuskript)


6.2. Der Einfluß der Medialität auf sprachliche Kommunikationsstrukturen und die Organisation des kulturellen Gedächtnisses

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For quotation purposes:
Wiebke Iversen (SFB/FK 427 Universität Köln): 2 + zwei = ? Sprachspezifische Einflüsse auf die mentale Zahlenverarbeitung. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/06_2/iversen15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 1.9.2004     INST