Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. September 2004
 

10.1. Was bedeutet visuelle Evidenz?
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Wolfgang Coy (Berlin) / Sabine Helmers (Berlin)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Bildfunktionen im Bereich der Wissenschaft

Klaus Sachs-Hombach (Virtuelles Institut für Bildwissenschaft, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg)
[BIO]

http://www.bildwissenschaft.org

 

Es ist weitgehend unstrittig, dass Bilder wichtige gesellschaftliche Funktionen ausüben. Schon etwas strittiger ist dagegen die Annahme, dass Bilder ebenfalls unverzichtbare wissenschaftliche Funktionen besitzen. Eine im engeren Sinne wissenschaftliche, also nicht nur didaktische, sondern epistemische Funktion übernehmen Bilder, wenn sie für die Erkenntnisgewinnung in irgendeiner Weise relevant sind oder sogar zur Rechtfertigung von Erkenntnisansprüchen beitragen. Seit der Platonischen Bilderkritik wird diese Möglichkeit oft eher negativ beurteilt. Ein wesentlicher Gedanke ist hierbei, dass Bilder nur visuelle Eigenschaften zur Darstellung bringen, die zudem abhängig sind von zahlreichen Randbedingungen, wie Lichtverhältnissen und Perspektive. Dadurch können Bilder insbesondere den für Begriffe typischen Abstraktheitsgrad nicht erreichen. Außerdem ist es zumindest schwierig, logische Zusammenhänge - wie die Negation - zu visualisieren. In welcher Weise Bilder dennoch epistemsich relevant sind, soll im folgenden überblicksartig dargestellt werden.

Bilder als empirische Basis

Eine epistemische Funktion kommt Bildern innerhalb der Wissenschaft offensichtlich dann zu, wenn sie einen Wahrnehmungsersatz für diejenigen Bereiche liefern, die uns mit bloßem Auge nicht zugänglich sind. In dieser Funktion übernehmen sie die Funktion eines empirischen Nachweises. Ein bekanntes Beispiel liefern die in den 1880er Jahren zu wissenschaftlichen Zwecken angefertigten Reihenfotografien von Eadweard Muybridge, in denen einzelne Phasen der Bewegungsabläufe von Pferden erfasst wurden. Sie sollten zur Klärung der Frage beitragen, ob Pferde im Galopp zeitweise alle Hufe vom Boden heben. Mit der Hochgeschwindigkeitsfotografie haben diese Verfahren eine enorme Verbesserung erfahren. Wichtig waren solche bildgebenden Verfahren nicht nur, um die zeitliche Trägheit des menschlichen Auges zu überwinden; auch seine räumliche Begrenztheit sowie der relativ geringe Auflösungsgrad des menschlichen Sehvermögens lassen sich technisch vielfach überbieten.

Die Bilder, die in diesen Zusammenhängen als Grundlage wissenschaftlicher Theorien dienen, lassen sich als Messinstrumente verstehen. Sie können ihre Funktion als empirische Basis ausüben, weil sie sich (zunächst in der Fotografie entwickelter) physikalisch-chemischen Verfahren verdanken, sie also Elemente von kausal zu interpretierenden Zusammenhänge sind. Hierbei müssen aber zahlreiche Randbedingungen bekannt sein. Folglich bleibt die Interpretation solcher Bilder von vielen theoretischen Vorgaben abhängig. Das gilt um so mehr für indirekte Aufnahmeverfahren, die mit zunehmender Technisierung weitere Verarbeitungsschritte erforderlich machen. Je komplexer die bildgebenden Verfahren aufgebaut sind, desto mehr verliert sich ihr indexikalischer Charakter gewissermaßen, so dass bereits die Interpretation von Röntgen- oder Ultraschallaufnahmen für den Laien sehr fehleranfällig ist.

Normative Funktion von Bildern

Im Unterschied zur empirischen Belegfunktion liegt bei Bildern eine normative Verwendung vor, wenn sich aus dem Bild eine Handlungsanweisung ableiten lässt. Im weiten Sinne ist dies bereits bei Gebrauchsanweisungen der Fall. Außer in solchen relativ einfachen Fällen können Bilder zudem in vielen Bereichen unser grundsätzliches Selbst- und Weltverständnis beeinflussen, indem sie Normen vermitteln, die gewissermaßen als Idealbilder oder Leitbilder fungieren. Von einer normativen Bildfunktion soll im folgenden nur in diesem engen Sinne die Rede sein.

Einen wichtigen derartigen normativen Einfluss auf unsere allgemeinen Handlungsmaximen üben Bilder traditionell im kultischen und religiösen Bereich aus. Die bildhafte Darstellung von Gottheiten dient als Ausdruck kosmologischer Entwürfe und gesellschaftlicher Normen. Im Bereich der Bildenden Kunst wirken Bilder normativ, indem sie lebensweltlich wichtige Begriffe mit anschaulichen Inhalten versorgen und in appellativer Weise einen bildhaften Ausdruck der menschlichen Lebensstimmungen und -haltungen schaffen. Zumeist haben Bilder im Bereich der Wissenschaft jedoch keine normative Funktion. In der Wissenschaft dominieren deutlich sprachliche Kommunikations- und Argumentationsformen. Bilder dienen daher vor allem als empirischer Beleg oder aber, etwa in Lehrbüchern, der Illustration komplexer Sachverhalte.

Bilder in Begründungszusammenhängen

Im Bereich der Wissenschaft werden Bilder aber nicht ganz aus den Begründungszusammenhängen ausgeschlossen. Bilder eignen sich zum einen zur Veranschaulichung von Begründungszusammenhängen. Diese Funktion findet sich bereits seit langem in wissenschaftlichen Visualisierungen neben der eigentlichen visuellen Exploration. Sie leisten in dieser Funktion einen rhetorischen Beitrag, indem sie die Plausibilität der Begründungszusammenhänge steigern helfen.

Bilder können zum anderen als visuelle Argumente auch einen eigenständigen Beitrag zur Begründung liefern, wenn sie komplexe Sachverhalte derart in schematischer Weise darstellen, dass sachliche Zusammenhänge, die in sprachlicher Form nur mittelbar nachvollziehbar sind, anschaulich und damit intuitiv einsehbar werden. Eine visuelle Argumentationsfunktion übernehmen Bilder in diesem Sinne etwa in den grafischen Darstellungen geometrischer Theoreme, die mitunter komplexe begriffliche Beziehungen unmittelbar einsichtig zu machen helfen. Bilder als "visuelle Argumente", ein von Bernd Weidenmann geprägter Begriff, benötigen einen klar bestimmten, in der Regel sprachlich vorgegebenen Kontext. Dieser Kontext bestimmt die Bildwahrnehmung, das Bildverständnis und auch die Leistungsfähigkeit von Bildern hinsichtlich der Erzeugung oder Änderung von Überzeugungen bzw. die entsprechenden Theorien hierzu.

Bilder in Entstehungszusammenhängen

Eine noch entscheidender Funktion besitzen Bilder, wenn nicht der Begründungs-, sondern der Entstehungszusammenhang wissenschaftlicher Theorien betrachtet wird. Seit den wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten von Thomas Kuhn ist zunehmend in den Blick gekommen, dass die Wissenschaftsentwicklung nicht unerheblich durch Paradigmen bestimmt wird, die in normativer Funktion einen Rahmen für Theorien in der Forschungspraxis bereitstellen, selbst aber nicht ohne weiteres durch die üblichen Begründungsverfahren gesichert werden können. Hier spielen eine Vielzahl von Prinzipien eine Rolle, etwa das Prinzip der Einfachheit, die traditionell eher als ästhetische Kategorien angesehen worden sind.

Zwar ist mit dieser Annäherung von Ästhetik und Wissenschaft noch nichts über die Funktion von Bildern gesagt (denn viele zu diesem Zweck bemühte ästhetische Kategorien, wie die des Stils, sind nicht bildspezifisch), doch gibt es auch eine Vielzahl von Ansätzen, die insbesondere bildhaften Aspekten eine irreduzible Funktion zuweisen. Prominent ist in diesem Zusammenhang die von Hans Blumenberg vertretene Ansicht, dass auch die wissenschaftliche Rationalität auf Metaphern beruht und die Bedeutung der theoretischen Grundbegriffe daher ein entsprechend bildhaftes Fundament besitzen. Einen ähnlichen Gedanken, jedoch mit entgegengesetzter Einschätzung, äussert auch Wittgenstein.

"Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache ... ",

schreibt Wittgenstein in den Philosophische Untersuchungen.

Wittgenstein geht es primär um sprachliche Bilder, die eine normative Funktion übernehmen. Dies lässt sich aber auf externe Bilder übertragen, wenn sie im Sinne anschaulicher Modelle zum Einsatz kommen, zum Beispiel in der Darstellung der DNS-Spirale durch Watson und Crick oder in der Darstellung des Benzolringes durch Kekul. Insbesondere ist in diesem Zusammenhang das Analogiemodell wichtig, mit dem anhand eines konkreten Gegenstandes bzw. der bildhaften Darstellung dieses Gegenstandes eine komplexe Struktur von einem theoretisch bereits erfassten Bereich auf einen bisher unerforschten Bereich übertragen wird. Entsprechend hat Rutherford die Darstellung des Sonnensystems als Vorlage für sein Analogiemodell des Atoms verwendet, das in der Folgezeit zahlreiche Variationen erfahren hat.

Auch wenn präzisiert wird, worin genau die Entsprechungsverhältnisse bestehen sollen, ist der Nutzen solcher Analogiemodelle prinzipiell begrenzt: mit solchen Modellen, die mit allen genannten Einschränkungen und Problemen auch für den Bereich des Mentalen angenommen werden können, lassen sich keine Geltungsansprüche verbinden, sondern nur strukturelle Ähnlichkeiten unterstellen. Darin liegen aber nicht nur die Grenzen anschaulicher Modelle, sondern auch ihre Stärken, weil die unterstellten Analogien in normativer Funktion als Anweisung dienen können, thematische Bereiche anhand analoger Hypothesen genauer zu untersuchen. Ihnen kommt also eine wichtige Orientierungsfunktion zu, die die Besonderheit bildhafter Darstellungen verdeutlicht: Sie dienen als wahrnehmungsnahe Zeichen der Veranschaulichung und bleiben prinzipiell an Wahrnehmungskompetenzen gebunden, können aber durch Akzentuierung und Perspektive den Blick auch auf abstraktere begrifflicher Zusammenhänge erheblich beeinflussen oder lenken.

Visuelle Überredungskunst als Gegenstand einer sich konstituierenden Bildwissenschaft

Die Rede von der "Rhetorik des Bildes" besagt sehr allgemein, dass Bilder innerhalb kommunikativer Zusammenhänge persuasive Funktionen übernehmen können. Im Zentrum steht dabei die Frage nach der Möglichkeit, mit visuellen Darstellungsmitteln einen argumentativen Zusammenhang zu entwickeln oder zumindest zu unterstützen. Um genauer zu bestimmen, was ein rhetorisches Bildmittel oder Bildelement ist, kann auf die Unterscheidung von Bildinhalt und Bildbotschaft zurückgegriffen werden. Ein Bildelement besitzt eine rhetorische Funktion, wenn es über die Darstellung eines Inhalts hinaus zugleich zur Verdeutlichung der kommunikativen Intention (und damit der Bildbotschaft) beiträgt. Diese Verdeutlichung, mit der die kommunikative Absicht manifest gemacht wird, ergibt sich nicht aus dem Inhalt allein, sondern erst aus der Art und Weise, wie der Inhalt präsentiert wird.

Rhetorisch sind demnach primär die unterschiedlichen Darstellungsweisen, die (eventuell durch stilistische Marker verstärkt) die Rezeption des Bildes unterstützen und lenken. Das gilt vor allem für diejenigen Bilder, bei denen die Kommunikationsabsicht nicht explizit, etwa durch eine Bildunterschrift, zum Ausdruck gebracht wird, sondern anhand bildinterner Merkmale erschlossen werden muss. Über die jeweilige visuelle Präsentationsform eines Inhalts wird in diesem Fall präzisiert, was die Präsentation bezwecken soll. Darstellungsweise und Bildfunktion ergänzen sich in der Regel also zur Steuerung der Bildinterpretation.

Eine erst im Entstehen begriffene Bildrhetorik würde zur Untersuchung der bildrhetorischen Mittel nicht unerheblich beitragen, indem sie die visuellen rhetorischen Mittel systematisch untersucht und damit verständlich macht, wie Bilder in persuasiver Weise zum Einsatz gelangen können. Da zwischen Überredung und Wahrheitsstreben nur derjenige einen Gegensatz sehen wird, der das Rationale mit dem Evidenten und Unzweifelhaften identifiziert , sollte eine entsprechende Untersuchung nicht (nur) im Sinne einer Kritik etwa an den Möglichkeiten der Bildmanipulation verstanden werden, sondern auch im Sinne eines Nachweises der bildspezifischen Leistung sowie der Funktionen und Bereiche, in denen die Verwendung von Bildern besonders vorteilhaft ist. In dem Masse, in dem die hierzu nötige wissenschaftliche Forschung eine bessere Einschätzung der Einsatzmöglichkeiten von Bildern erlaubt, wird sich vermutlich auch ein nüchternerer Umgang mit ihnen einstellen.

© Klaus Sachs-Hombach (Virtuelles Institut für Bildwissenschaft, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg)
http://www.bildwissenschaft.org

10.1. Was bedeutet visuelle Evidenz?

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For quotation purposes:
Klaus Sachs-Hombach (Universität Magdeburg): Bildfunktionen im Bereich der Wissenschaft. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/10_1/sachs15.htm

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