Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. September 2004
 

10.1. Was bedeutet visuelle Evidenz?
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Wolfgang Coy (Berlin) / Sabine Helmers (Berlin)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Digitale Bilder: Symbolische Repräsentation oder offene Konstruktion?

Britta Schinzel (Institut für Informatik und Gesellschaft, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)

 

Einleitung

Seit Anbeginn der Wissenschaften und der Erzeugung von Wissen wurden sowohl bildliche wie textuelle, formal-symbolische Mittel der Wissensdarstellung und -erzeugung genutzt. Wissenstheoretische Fragen sind dabei etwa, ob die Wahrnehmung auf medialer Ebene schon Wissen geriert, oder ob Wissen immer nur diskursiv, sprachlich gewonnen und repräsentiert werden kann. Der Fußabdruck auf dem Mond ist ein gutes Beispiel für eine solche Diskussion. "Vermeintlich?" historisches Wissen wurde durch ihn erzeugt, wenn auch noch kein naturwissenschaftliches, dafür braucht es Material, Materielles, das auf die Erde transportiert wurde. Doch auch das kann natürlich gefälscht sein.

Verbildlichungen haben starken Evidenzcharakter, sie erzeugen ontologischen Schein. Mit den modernen Bild gebenden Verfahren entstehen Bilder aus dem Inneren des Körpers, ohne invasiv operieren zu müssen. Sie sind jedoch auf höchst kompliziertem Wege konstruierte Artefakte, deren Realitätscharakter fragwürdig ist. Da sie gleichzeitig äußerst eindrucksvoll sind, entsteht eine widersprüchliche Situation von realer Realitätferne und scheinbarer Realitätsnähe.

Hier soll weniger auf die Historie und die erkennntnistheoretischen Fragen der Wahrnehmung, der Darstellung, der Wahrnehmung der Darstellung, der philosophischen Implikationen eingegangen werden als auf die Basis der digitalen, besser informatischen, und physikalischen, mathematischen etc. Darstellungswege. Konsequenzen der Operationalisierung und der langen komplexen und kontingenten Erzeugung der neuen Bilder sollen, insbesondere am Beispiel der Bild gebenden Verfahren in der Medizin, aufgezeigt werden.

 

1. Informatische Methoden

Bilder und Symbole sind seit Beginn unserer Kultur Erkenntnisträger. In der Geschichte der Wissenschaften war die Anschauung bis in die Renaissance ein wichtiges Mittel der Erkenntnis. Gegenstand der Anschauung war häufig das Bild, das eine Analogie zwischen Natürlichem und Simulierendem herstellen sollte. Der Erkenntnisakt der Anschauung ist die visuelle Wahrnehmung, ist also mit Anschaulichkeit assoziiert, kann aber auch metaphorisch als holistischer Erkenntnisakt, mit dem Kant'schen Begriff der 'reinen' Anschauung, gebraucht werden.

Die zu Beginn der Neuzeit entstehende textuelle Wissenschaft kämpfte gegen die bildverhafteten Ideologien, indem sie sich "rationaler" Methoden, i.e. des Phänomene isolierenden Experiments, des Messens sowie des Beschreibens mit mathematischen Mitteln bediente. Unsere heutige Wissenschaft baut mehr denn je darauf, dass die Logik der Welt sprachlich, symbolisch und mathematisch fassbar, rational rekonstruierbar (Wittgenstein) sei. Doch muss sie mit der wachsenden Partikularisierung, Differenzierung und Komplexität ihrer Erkenntnisse umgehen. Bildliche Verständigungsmittel können Abstraktes, Komplexes leichter bzw. oft überhaupt erst dem Menschen erfassbar machen, auch wenn dies mit einem Verlust an Genauigkeit erkauft werden muss. Mittels heutiger computerisierter technischer Verfahren lassen sich Messungen durchführen und komplexe Datenmengen in einem Umfang erzeugen, die sich nur mehr automatisiert bearbeiten und gar nicht mehr anders kognitiv erfassen lassen als durch Verbildlichungen. Die Informatik kehrt dabei ihre eigene Entwicklung gerade um: die Vertreibung der Anschauung aus der Mathematik durch die Formalisierung (als Gegenbegriff zur Anschauung), der die Informatik ihre Entstehung verdankt, hat aufgrund der durch sie selbst betriebenen Beschleunigung und Komplexitätserhöhung umgekehrt die bildliche Darstellung in die Wissenschaft zurückgebracht: die Visualisierung von Dynamik und Komplexität zur Adaption an die kognitiven Möglichkeiten des Menschen. Diese Wiederentdeckung der visuellen Dimension zeigt nach Heintz (1995) die Umkehr des Prozesses der Formalisierung. Die Komplexität und der Umfang der wissenschaftlich produzierten Daten ist kognitiv nicht mehr fassbar, und bedarf daher einer Rückholung in die Anschauung. Diese Visualisierungstendenzen bedeuten allerdings nicht unbedingt eine Rückkehr der Anschauung des Natürlichen, sondern einer visuellen Perzeption von Virtuellem, von kompliziert konstruierten Artefakten, deren Korrespondenz mit Gegebenem erneut kontingenter Konstruktionen bedarf.

Als informatische Repräsentations- und Verarbeitungsmethoden werden gemeinhin Formalisierung und Symbolverarbeitung durch Algorithmen angesehen, die auch die Anwendung von Verifikationsmethoden zur erlauben. Auf der materiellen Ebene aber transportiert der Rechner Signale. Für die Darstellung von Bildern und für nicht klassische Rechnerstrukturen, wie Quantencomputing werden Signale zum alleinigen Medium der Repräsentation und Verarbeitung. Anders als bei der Algorithmik sind hier Beobachtung und Empirie Mittel der Herstellung von Evidenz.

Für die Beschreibung der informatischen Methode ist es demgemäß sinnvoll, zwischen verschiedenen Ebenen und Möglichkeiten zu unterscheiden:

  1. Auf der physischen, materiellen Ebene ist der Computer nur in der Lage, Signale zu speichern, zu kopieren, zu transformieren und zu transportieren. Diese sind für den Menschen zunächst nicht interpretierbar. Sie sind jedoch - mit Genauigkeitsverlusten - wandelbar in diskrete Zahlen, Symbole, deren materielle Repräsentationen zwar wieder nur (andere) Signale sein können, auf einem Ausgabemedium Menschen jedoch als Zeichen erscheinen.
  2. Zeichen, Symbole, Zahlen und Buchstaben sind jedoch die Medien, mit denen Menschen aktiv am Rechner operieren, programmieren, schreiben. Daher können sie den Computer als Zeichen verarbeitende Maschine interpretieren, obwohl er nichts weniger tut als dieses. Formalisierung ist schließlich die wesentliche Methode der Informatik, um realweltliche Phänomene so aufzubereiten, zu symbolisieren, dass sie algorithmischer Behandlung zugänglich werden, d.h. sich den Computer-typischen Signaltransformationsprozessen zuführen lassen. Daher wird oft die informatische Methode (die von Menschen ausgeführte Methode - nicht die von Maschinen ausgeführte, das sind Signaltransporte und -transformationen) als Symbolverarbeitung beschrieben; Software ist symbolischer Code, die Verbindung zwischen Software und Hardware überwindet den Sprung vom Zeichen zum analogen Signal von der menschlichen Interpretation über die diskret-analoge Repräsentation auf E/A-Medien, die einen ähnlichen Sprung zu überwinden hat, bis zur analogen Hardwarerepräsentation.
  3. Häufig ist zwischen interpretierbaren Symbolen und Signalen noch eine Zwischenebene eingeschaltet, die der Daten. Dabei handelt es sich, bereits von der materiellen Ebene entfernt, um Zahlenwerte (etwa Grauwerte, oder integrierte Werte auf den Rezeptoren der Tomographietrommel), welche jedoch nur noch als rein numerische Werte interpretierbar sind, während sich die eigentlich zu interpretierende Information erst nach weiterer Prozessierung oder durch integrale Betrachtung ergibt.
  4. Formalisierung und symbolische Repräsentation beschreiben informatische Methoden, jedoch nicht ausschließlich:
    1. der so genannte "pictorial turn" vom Text zum Bild, der mit zunehmendem Speicherplatz auch paradigmatische Veränderungen innerhalb der Informatik zeitigt, lässt sich, so meine These, nicht sinnvoll als Symbolverarbeitung beschreiben,
    2. für die aus der Biologie und Physik importierten Paradigmen (künstliche Neuronale Netze, Gen- oder DNA-Computing, Quantencomputing) sind Zeichenprozesse nicht mehr konstitutiv (selbst dann wenn DNA-Strings sich aufgrund von "Buchstabenübereinstimmungen" koppeln). Konnektionistische Systeme beispielsweise repräsentieren Objekte bestenfalls als Gesamtsystemzustände, die Zustände einzelner Knoten und Kantenwerte sind ähnlich den Pixelwerten nicht sinnvoll interpretierbar, denn als bedeutungslose Signalwerte. Bedeutungen für Menschen erscheinen dann als holistische Erscheinungen (Bilder), oder komplizierter zu interpretierende Ausgaben, für die konstruierte Hilfsmittel verfügbar gemacht werden müssen.

Die erwähnte Zunahme von bildlichen Repräsentationen gegenüber textuellen ist ein wichtiges Element epistemischer Veränderungen in den Wissenschaften, ermöglicht durch die Informationstechnik, aber auch innerhalb der Informatik. Es ist daher notwendig, bei der Verarbeitung von komplexen Daten diesen paradigmatischen Veränderungen Rechnung zu tragen. Zunächst, wie oben dargelegt, besteht auf der materiellen Repräsentationsebene kein Unterschied, es handelt sich jedes Mal um analoge Signale. Doch ein Differenzierungsmittel kann z. B. der Ort sein, wo für Menschen Bedeutung erscheint, auf atomarer Zeichenebene oder auf holistischer Ebene.

Die gegenwärtige Re-Visualisierung naturwissenschaftlicher und medizin-technischer (und auch mathematischer) Ergebnisse hat ihre Ursache in der kognitiv unfassbaren Komplexität der produzierten Datenmengen, die zur Einschätzung einer Re-Visualisierung bedürfen. Diese bedeuten allerdings nicht eine Anschauung des Realen oder Natürlichen, sondern von Virtuellem, von kompliziert konstruierten Artefakten, deren Korrespondenz mit dem Gegebenen, wie etwa bei MRI und fMRI, bestenfalls auf Plausibilitätserwägungen beruht und (im Fall der Bild gebenden Verfahren in der Medizin noch) nicht auf empirischer Evidenz (Hennig 2001).

 

2. Bild gebende Verfahren in der Medizin

Eine Sorte von Messungen, die sich gar nicht mehr anders kognitiv erfassen lassen als durch Verbildlichungen, sind die Daten, welche in der Medizin durch Techniken wie (3D-) Ultraschall, Computertomografie (CT), Magnetresonanz Imaging (NMR, MRI), Positronen-Emissionstomografie (PET), Funktionelles MagnetresonanzImaging (fMRI), Magnet-Encephalographie (MEG), etc. und integrierte Verfahren sowie abgeleitete Datenmengen gewonnen werden.

Die verschiedenen Verfahren zum Blick in den Körper

sind seit der Computertomographie keine abbildenden, sondern Bild gebende Verfahren. Sie sind also keine Produkte elektromagnetischer Strahlen auf elektrochemisch präparierten Flächen wie bei der Röntgenphotographie(1), sondern auf langen, komplexen und kontingenten Wegen hergestellter Daten kompliziert errechnete Konstrukte und deren Visualisierungen. Die neuen Verfahren haben zu ungeahnten Diagnose- und Forschungsmöglichkeiten geführt. Sie haben die Datenmengen, insbesondere die aufwendigen Bilddatenmengen potenziert, und zudem die Berechnung und Speicherung abgeleiteter Daten befördert, mit der Integration weiterer abgeleiteter Daten die Ableitung weiterer integrierter Datenmengen, und damit stufenweise neue Forschungsfelder eröffnet.

Die optische Invasion in den menschlichen Körper wird mit verschiedenen Problemkomplexen erkauft: Die Bild gebenden Verfahren arbeiten mit riesigen Datenmengen und führen höchst komplexe Transformationsalgorithmen zum Segmentieren, Glätten, Entschmutzen u.s.w. durch, die das Material auch fehl deuten können. Bei Bild gebenden Verfahren zur Untersuchung der inneren Struktur von Körpern werden akustische oder elektromagnetische Wellen verwendet, die sich im untersuchten Gebiet (dem Körper) ausbreiten. Sie werden je nach Dichte der Gewebe absorbiert oder an Grenzflächen reflektiert (gestreut) und die gestreuten ebenso wie die durchgelassenen Wellen werden außerhalb des (Körper-) Feldes gemessen. Je nach Wellenart, Messgrößen und Beschaffenheit der Körper und Einbettung der Körper in die Umgebung sind unterschiedliche mathematische Verfahren und Computersimulationen zur Gebietsrekonstruktion nötig. Die so entstandenen graphisch darstellbaren Wellengleichungen werden dem Prozess der Visualisierung zugeführt. Hierfür sind eine Folge von Schritten, wie Rauschelimination durch Filtern, Interpolation, Segmentierung, Rederingverfahren zur Oberflächen- und Tiefendarstellung notwendig, wofür es jeweils viele verschiedene Methoden gibt.

Durch die Bilder werden Momentaufnahmen des Rückschlusses auf Körpergegebenheiten fest gehalten, obgleich diese veränderlich sind. Zudem werden häufig aus den Aufnahmen mehrerer Probanden gemittelte Bilder zur Veranschaulichung von Aktivierungen, etwa bei bestimmten kognitiven Leistungen erzeugt. Die vielfältigen Mittelungsverfahren operieren auf unterschiedlichen Maßen, wie Längentreue, Volumentreue, affinen Transformationen oder Landmarken basierten Verfahren. Sie sind deshalb alle problematisch, weil die Varianz der menschlichen Anatomie zu groß ist, um eine gemittelte Darstellung als sinnvoll erscheinen zu lassen. Das physiologische Material ist überdies nicht immer gemäß anatomischer, physiologischer oder funktioneller Gebiete diskriminierbar, sodass eine Segmentierung schwierig ist und jedenfalls nicht voll automatisch, sondern nur interaktiv durchgeführt werden kann. Renderingverfahren werden je nach erwünschten Darstellungszielen unterschiedlich ausgewählt und verfeinert. Da es äußerst viele darstellbare Gewebeparameter gibt, werden erfundene Farben zur Diskriminierung verwendet, die farbige Spots zeigen, wo evtl. kontinuierliche Übergänge der Aktivierung realistischer wären. Aus verschiedensten Gründen also besteht eine große Entfernung dieser Bilder vom Abzubildenden über die abstrakten komplexen, kontingenten Erzeugungsprozesse. Das Innere des Körpers bleibt so letztlich verschlossen, auch wenn dramatische virtuelle Einblicke gewährt werden.

Digitale Bilder werden in Medizin und Biologie zur schnellen Erfassung wichtiger Eigenschaften lebendiger Strukturen verwendet. Die Bilder aber haben nicht nur medizinische und biologische Bedeutung, sondern auch kulturellen Sinn und kontingenten technisch erzeugten Eigensinn. In den medizinischen Körperbildern werden zugleich kulturell geformte Konzepte vom Menschen transportiert. Welche Konstrukte nun eingehen, ist nicht nur "technisch" bedingt, sondern auch kulturell, beginnend mit der Anwendung und der Auswahl der technischen Mittel.

Die zunehmende Entfernung des Bildes von dem Abzubildenden, d. h. der abstrakte Charakter solcher über komplizierte Prozesse hergestellten Bilder, erhöhen mit jedem Abstraktionsschritt, jedem Ableitungsschritt und jedem Integrationsschritt die Fehleranfälligkeit, d. h. die Möglichkeit von Bild-Artefakten, die keine physiologischen Entsprechungen haben. In paradoxer Umkehrung dieser Tatsachen suggerieren die Darstellungen und weitere Bild gebende Prozesse, wie Kartographierungen des Körpers, die nicht nur auf Reproduktion, sondern auch Verarbeitung, Interpretation und folgender Erzeugung basieren, einen objektiven Blick auf den Körper, und damit Normierungen. Denn es gehen immer schon und je komplizierter und abgeleiteter desto mehr Elemente ein, die für das "lebendige Original" nicht konstitutiv sind. Welche Konstrukte nun eingehen, ist nicht nur "technisch" bedingt, sondern auch kulturell, kontingent, beginnend mit der Anwendung und der Auswahl technischer Mittel, wie hier bei den Bild verarbeitenden Methoden und Visualisierungstechniken. Dass sie Komplexität reduzieren, verstärkt die Gefahr der inadäquaten Darstellung und mit ihr der unangemessenen Normierung (Schmitz 2001), die der falsche Vorstellungen abrufenden inadäquaten Repräsentation durch bildliche Artefakte (Schinzel 2002). Denn der Mensch sieht oft mehr als ihm das Bild darbietet, er ergänzt und interpretiert gemäß seiner Vorverständnisse.

 

3. Epistemologische Veränderungen durch die technischen Bilder:

Objektivität und Evidenz

Es gibt ein starkes Interesse der Wissenschaften an visuellen Repräsentationen, das sich gleichzeitig mit einem Bedürfnis, unsere Sprache gegenüber dem Visuellen zu verteidigen oder gar zu retten, äußert. Sowie vorher die Sprache dient nun das Bild als eine Art Modell für andere Dinge (und als ungelöstes Problem, denn wir wissen immer noch nicht, was ein Bild ist und in welchem Verhältnis es zur Sprache steht, noch wie Bilder sich auf Beobachter und die Welt auswirken). Die aktuellen Informations- und Kommunikationstechnologien synthetisieren jedoch abstrakte Begriffe mit Bildern. Flusser sagt: das Bild wird "numero-logisch": "Die neuen Bilder (...) versuchen, den Betrachter zu hintergehen, und zwar auf doppelte Weise. Erstens vertuschen sie, dass sie Komputationen von Punkten sind, und geben vor, die gleiche Bedeutung wie die herkömmlichen Bilder zu haben; und zweitens, auf einem höheren Betrugsniveau geben sie ihren Ursprung aus Punkten scheinbar zu, aber nur, um sich als 'bessere' Bilder anzubieten, indem sie vorgeben, einen Umstand nicht symbolisch, wie es die herkömmlichen Bilder tun, sondern 'objektiv', Punkt für Punkt, zu bedeuten." (Flusser 1995, S. 48f.)

Die computertechnische Simulation generiert eine artifizielle Naturalität, eine künstliche Natürlichkeit. Dies ist ein wichtiges Element zur Substitution des Natürlichen, zu der viele weitere gekommen sind. Die Substitutionsmechanismen vollziehen sich wesentlich auf der symbolischen Ebene: Die Begriffe und Projektionen des Denkens fließen ein in die computergenerierten Modelle. Die technischen Bilder bedeuten also nicht die konkrete, uns umgebende Welt oder Teile von ihr, sondern beziehen sich auf ein abstraktes Begriffsuniversum. Sie sind zwar exakte und "treue" Bilder - doch "sind sie nur ihren Programmen treu, nicht ihrer vorgeblichen Bedeutung bzw. ihrem vorgeblich abgebildeten Objekt. Sie bedeuten dieses Objekt nur, insoweit die Begriffe, die ins Programm eingeflossen sind, dieses Objekt bedeuten, und diese Begriffe sind schon eine sehr weitgehende Abstraktion vom konkreten Objekt."

Und doch heften sich an diese Verfahren und Bilder Objektivitätsvorstellungen: wissenschaftliche Objektivierbarkeit wird heute nicht nur geknüpft an mathematische, statistische, physikalische und (Informations)-Techniken, sondern auch an Bilder und Verbildlichungen, weiter aus ihnen erzeugte Kartographierungen. Höchst komplexe kontingente Konstrukte leiten damit die Begriffe von Normalität, Gesundheit versus Krankheit oder Therapiebedarf, und vielen abgeleiteten Interventionen und Einordnungen, mit problematischen Ergebnissen.

Zur Frage der Evidenz hat bereits Walter Benjamin Relevantes gesagt. Er stellte 1963 für den Film das fest, was in verstärktem Maße für die virtuellen Bilder, interaktiv bewegbaren 3D-Bilder, Animationen, und natürlich die biomedizinischen Verbildlichungen gilt: Der Charakter dieser Bilder ist illusionär, doch die illusionäre Natur ist eine Natur zweiten Grades, abgeleitet aus physikalischen Effekten, eine künstliche Wirklichkeit, rückberechnet, simuliert, transformiert, alles im Land der Technik und Mathematik. Eine weitere Eigenschaft, die nach Benjamin die filmische Darstellung auszeichnet, und die ebenfalls für die betrachteten Visualisierungen gilt, ist die Isolierbarkeit, wodurch völlig neue Kombinationen, Kontexte, Strukturbildungen und Abläufe ermöglicht werden. Doch in unterschiedlichen Kontexten gewinnen die Bilder unterschiedliche Bedeutungen und mit ihnen variiert die vorgebliche Evidenz.

Baudrillard (1978) schließt an Benjamins Diagnose der Entwicklung des Bildes von Abbild zu Simulation an und stellt die These auf, dass die Wissenschaft selbst zur reinen Simulation geworden ist und keine Bilder, sondern nur noch Simulakra erzeugt. Ein Simulakrum zirkuliert in sich selbst, und zwar in einem ununterbrochenen Kreislauf ohne Referenz. Das heißt, dass die Zeichen, die die Bilder sind, immer aus sich selbst heraus generiert werden und immer auf sich selbst verweisen, nicht auf etwas Reales außerhalb ihrer selbst. Diese Zirkulation der Zeichen nennt Baudrillard eben die "Präzession der Simulakra". Simulation definiert Baudrillard als die "Liquidierung aller Referentiale" und die "Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen, (...) eine programmatische, fehlerlose Signalmaschinerie, die sämtliche Zeichen des Realen und Peripetien (durch Kurzschließen) erzeugt." (S. 9)

Technische Bilder sind also schwer zu entziffern. Sie geben sich den Anschein - doch dies ist irreführend - gar nicht entziffert werden zu müssen, evident zu sein. Ihre Bedeutung scheint automatisch und damit offensichtlich zu sein: ein automatisches Abbild ähnlich dem Fingerabdruck, bei dem die Bedeutung (Finger) die Ursache und das Bild (Abdruck) die Folge ist. Die bedeutete Welt der technischen Bilder scheint die Ursache der technischen Bilder zu sein. Doch die technischen Bilder deuten auf das Programm im Apparat, das sie erzeugt hat, und nicht auf die Welt dort draußen. Sie sind Vorstellungen von Begriffen, dem kalkulierenden Denken und nicht der konkreten Welt zugewandte Flächen. Sie sind der Versuch einer Konkretion von Abstraktionen (Flusser 1995), sie scheinen also nicht Symbol, sondern Symptom der Welt zu sein.

© Britta Schinzel (Institut für Informatik und Gesellschaft, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)


ANMERKUNG

(1) Röntgenstrahlen, die Gewebe durchdringen und Absorptionsmuster projizieren, bieten das Problem, dass sich auf dem ? zweidimensionalen Bild verschiedene Gebietsstrukturen überlappen oder unter dichtem Knochen verborgen sind (weiß) und so einzelne Strukturen nur sehr schwer erkennbar sind.


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10.1. Was bedeutet visuelle Evidenz?

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For quotation purposes:
Britta Schinzel (Universität Freiburg): Digitale Bilder: Symbolische Repräsentation oder offene Konstruktion?. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/10_1/schinzel15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 9.9.2004     INST