Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Dezember 2005
 

10.4. Virtualisierung von Raum, Wahrnehmung und Kultur
HerausgeberInnen | Editors | Éditeurs Klaus Wiegerling (Stuttgart) / Christoph Hubig (Stuttgart)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Objekte als virtuelle Hüllen.

Beispiele aus der griechischen Antike

Walter Ötsch (Zentrum für Soziale und Interkulturelle Kompetenz und Institut für Volkswirtschaftlehre, Johannes Kepler Universität Linz)
www.econ.jku.at/oetsch
[BIO]

 

1. Hüllen

Nach Susanne Langer ist nur der Mensch fähig, dinghafte Objektvorstellungen zu entwickeln. Diese Fähigkeit ist nach Piaget nicht angeboren, sondern erlernt.(1) Merleau-Ponty hat gemeint, wir könnten uns ein Objekt visuell nur präsent machen, wenn wir seine aktuell unsichtbare Rückseite mit-imaginieren. Das Sehen eines Gegenstandes schließe das Wissen um das Vorhandensein aller An-Sichten ein, die aus der gegenwärtigen Positionierung des Objekts zum wahrnehmenden Leib aktuell nicht erkenntlich sind. Ein Gegenstand werde gleichsam (gedanklich) "von außen" von allen Seiten berührt. Die Berührungs-Fläche selbst können wir uns (in einem visuellen Bild) als virtuelle Hülle denken. Sie zieht eine Grenze zur Umwelt, umschließt den Gegenstand vollständig und macht ihn zur abgegrenzten Einheit. (Sie schafft in Merleaus-Pontys Worten "einen Innenhorizont für das Objekt, in dem andere Gegenstände um das Objekt herum selbst zum Horizont werden".)(2)

Die Wahrnehmung von Objekten steht nach Merleau-Ponty in direktem Rückbezug auf die Eigenwahrnehmung des Leibes. Auch der Leib kann als (vorgestellte) Hülle klassifiziert werden. Die Empfindung des Leibes als abgegrenztes und einheitliches Selbst bedarf des Gewahrseins einer "unsichtbaren" Rückseite, die fast zur Gänze außerhalb des Gesichtsfeldes liegt. Sie grenzt den >Innen-Raum< des Leibes vom >Außen-Raum< der Dinge ab.(3) Durch die Hülle bekommt der Leib einen Innen-Horizont, aus dem der Außen-Horizont des Raumes entsteht. (Beide Horizonte liegen in einem gemeinsamen Feld.)

Das Konzept einer Hüllenbildung um den Leib und um Objekte kann für kulturgeschichtliche Zwecke nutzbar gemacht werden. Wenn die Bildung virtueller Hüllen um Objekte eine menschliche Leistung ist, dann können wir fragen, ob in unterschiedlichen Kulturen und Epochen "Objekt-Hüllen" auf jeweils kultureigene Weise gebildet worden sind. Können für bestimmte Kulturen, Epochen oder soziale Schichten jene Muster einer Hüllenbildung um Objekte ausfindig gemacht werden, die nur ihnen als Ausdruck einer besonderen Wahrnehmungs-Form eigen sind? Welche Indizien vermögen wir auf welche Weise als genuine Wahrnehmungs-Berichte deuten, die Hinweise auf die "Funktions-Leistung der Sinne" geben? Erlaubt ihre Identifikation ein Verständnis fremdartiger Wahrnehmungs-Vorgänge, speziell des Sehens?

Im folgenden einige Andeutungen zu diesen Fragestellungen. Aus der Fülle möglicher Anwendungsfälle greife ich zwei Beispiele aus dem antiken Griechenland auf.

 

2. Mythische Objekte

Der erste große Text des europäischen Abendlandes ist Homers Ilias. Homer entwirft das grandiose Panorama einer mythischen Welt. Objekte sind hier Manifestationen göttlicher Kräfte, Kurt Hübner spricht von der "mythischer Substanz", mit der alle Dinge (gedanklich) "ausgefüllt" sind.(4) Mythische Substanzen bezeichnen keine Bausteine eines Systems, das in sich eine feste Struktur besitzt, sondern sind wie "kristallisierte Atmosphären", die an einem Ort und zu einer Zeit präsent sind und zugleich im gesamten Wahrnehmungs-Feld zu finden sind. Demeter ist bei Homer eine Göttin und zugleich in jedem reifen Getreidekorn enthalten: es besitzt die "Substanz" demeter. Die Erde ist die Göttin Gaia, sie zeigt sich in jeder Scholle Erde, usw.

Götter agieren in der Ilias als eigenständige Personen und sind zugleich dauerhaft an vielen Orten präsent. Die Homerischen Götter "verkörpern" sich auch "überall" zu bestimmten Zeiten, wie an Festtagen, sowie in ausgezeichneten Personen und Dingen. Sie sind in diesen "enthalten", allerdings nicht in einer erschöpfenden Weise, weil sie auch anderswo zu finden sind. Der Name eines Gottes steht bei Homer für ein "Etwas", das sich in ausgezeichneten Szenen und Ereignissen regelmäßig oder spontan "manifestiert".(5) Göttliche Wesen sind keine abgegrenzten und einmalige Personen, sondern Namen für Individuen und zugleich Begriffe mit Allgemein-Bedeutung (Kurt Hübner spricht von "Individuen mit Allgemeinheitsbedeutung").

Dieser Götter-Begriff mischt Ideelles und Materielles, Physisches und Psychisches. Nicht nur Menschen, Tiere und Pflanzen sind belebt und "beseelt" (es gibt aber noch keinen Begriff für eine psychologische Seele), sondern auch alle Objekte. Sie sind bei Homer von göttlichen Personen-Kräften "aufgeladen": "Steine, Metalle, die vier Elemente: Erde, Wasser Luft und Feuer usw. Die Erde ist gaia, der Himmel uranos, des Meer poseidon, die Quellen und Flüsse werden beherrscht von Nymphen und Flussgöttern, im Brausen der Luft zeigt sich boreas, im Blitz zeus, einsame Waldgegenden sind das Gebiet des Pan.", usw.(6)

Gott und Natur, Psyche und Geist sind in diesem Wahrnehmungs-Feld vermengt: der "psychische Gegenstand" und der "Naturgegenstand" ist durch eine Gottheit bestimmt, es wird ihm der gleiche Name zugeordnet. Die "mythische Substanz", die über das gesamte Feld ausgebreitet ist, überflutet auch das >Innere< des Menschen (später spricht man vom "Geist"). Überall wo ein Krieg tobt, ist ares am Werk. Wo Menschen in Liebe entbrennen, ist aphrodite präsent. Wo praktische Intelligenz oder kluger Rat anzutreffen sind, hat sich athene eingenistet. Apollo macht Weisheit, Maß und Würde und entrückt die Menschen durch die Leier in ein traumhaftes Schweben. Gleichzeitig muss jedes Gedachte (in unserer Denk-Weise) ein göttliches Wesen sein: Streit ist eris, Frieden eiréne, Gerechtigkeit díke, Ordnung eunómia, Satzung thémis, usw.(7) Wenn bei einem Gastmahl plötzlich eine Stille eintritt, ist Hermes zu Gast. Jeder spürt seine Anwesenheit. "Man weiß nie", meint G. Nebel zu diesen Begriffen "ob man ein Wort groß oder klein schreiben soll, ob es als Person oder Sache gilt - eben diese Unsicherheit ist Mythos."(8)

Homer schildert Menschen, die in allen wichtigen Belangen direkt von Götter und Göttinnen gelenkt werden. Vor allen entscheidenden Weichenstellungen treten Götter oder Göttinnen auf den Plan. Sie verkünden, was zu tun ist. Speziell in der Ilias, Homers älterem Werk, werden die Befehle der Götter von den beteiligten Helden ohne Widerrede oder Aufbegehren unmittelbar in die Tat umgesetzt. Dabei ist zu beachten, dass die göttlichen Wesen, folgt man Homers Text, ohne Zweifel >real< gemeint sind. Sie werden mit dem Ton der größten Selbstverständlichkeit geschildert, niemals schleicht sich eine allegorische oder symbolische Note ein. Die Götter und Göttinen sind, wie Homer sie schildert, Wesen, die den Menschen zu bestimmten Zeiten präsent sind. Götter kann man unmittelbar und direkt wahr-nehmen, oft in Augenblicken heftiger Gefühle oder bei weitreichender Entscheidungen. (Ihr flackerndes Wesen beschreibt Ernst Cassirer als "Augenblicksgötter: mythische Objektivikationen einzelner Eindrücke").(9)

Die Wahrnehmung der Götter, nur manchmal möglich, steht mit der Wahrnehmung von Objekten, regelmäßig möglich, in Zusammenhang. Das Gemeinsame ist die Erfahrung einer Kraft, die als "göttlich" verstanden wird. Objekte sind in diesem Wahrnehmungs-Raum Ausprägungen mythisch-personaler Substanzen. Ein Ding ist, so meint Hübner, "nur eine Hülle, ein Gefäß, in welches eine solche Substanz in größerer und geringerer Dichte eindringt, weswegen das Numinose darin stärker oder schwächer anwesend sein und verspürt werden kann."(10) Ein Ding ist eine Kapsel, die eine göttliche Kraft umschließt. Alle Objekte sind in diesem Konzept mythische "Verdichtungen". Ein Objekt als Objekt zu erkennen, bedeuten die Präsenz einer mythischen Substanz zu SPÜREN. Dinge werden, so können wir vermuten, in diesem Wahrnehmungs-Raum als kondensierte Kraft-Hüllen erfahren. Im Umgang mit Dingen erlebt man die Präsenz von Kräfte,, die von ihnen ausgehen. Jeder sinnliche Eindruck, den sie hervorrufen, wird als Resultat göttlicher Kraft-Energien erkannt, das alltägliche Handeln ist automatisch davon geprägt. Dies bedeutet auch, daß jedes noch so geringfügige Ereignis religiös-symbolische Bedeutung besitzen muß. Eine religiöse Orientierung ist in diesem kollektiven Wahrnehmungs-Raum selbstverständlich (es gibt nicht einmal einen Begriff von Religion als einem abgegrenztem Bereich). Der gesamte Alltag wird mythisch-kultisch begangen. Den Boden zu bestellen ist ein Kult, den die Bauern den Göttern abstatten. Auf Kyporos hieß Ernten wörtlich "der Demeter huldigen."

Die Hüllenbildung um Objekte steht mit der Hüllenbildung um Personen in direktem Bezug ("Objektivifikation" - die Hüllen-Bildung um Objekte - und "Personifikation" - die Hüllen-Bildung um Personen - beziehen sich auf eine gemeinsame grundlegende Art, kulturell relevante Hüllen zu erfahren). Bei Homer sind auch Personen Gefäße für göttliche Energien, sie werden als "Träger" mythischer Substanzen gedeutet. Diese fließen in die Menschen in stärkerem oder shcwächerem Ausmaß ein ein. Die Identität einer Person ist von dem "Dichte" der in ihr kondensierten Gottes-Atmosphäre bestimmt. Personen "strahlen" göttlich gedeutete Kräfte aus, sie bestimmen ihr eigentliches Wesen.

Im Zentrum der Ilias stehen die Helden. Sie stammen von den Göttern ab und sind am meisten von allen Menschen mit Gottes-Kraft erfüllt. Ihre ausgezeichnete Stellung begründet sich aus der Sippe, der sie entstammen.(11) Eine Sippe ist gleichsam eine soziale Hülle (in einem sozialen Feld), die mit einer eigenen mythischen Sippen-Substanz "angefüllt" ist. Sie floß in grauer Vorzeit von einem göttlichen Wesen direkt in einen Ahnen ein und wird seither von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben. Eine Sippe "transportiert" göttliche Kräfte über Generationen. Sie "ergießen" sich nicht nur in die Menschen (in ihre personal-mythischen Hüllen), sondern auch in die Dinge (in ihre sachlich-mythischen Hüllen) im Besitz einer Sippe. Die Substanz einer Sippe ist nicht nur in den Verwandten, sondern auch in ihren Besitztümern verkörpert. Dinge im Eigentum einer Sippe sind von gleicher Energie wie die Menschen selbst erfüllt (Die Personifikation in den Sippen-Mitglieder spiegelt sich in der Objektivation der Sippen-Dinge.) In einer Sippe schwingen Personen und Dinge in derselben atmosphärischen Substanz, die sich in ihnen ergossen hat. Besitz und Mensch sind auf diese Weise direkt verbunden. Beim Tode werden sie gemeinsam bestattet, weil sie ja Teil desselben sind.(12)

Eine Sippe gibt ihre Energie nicht nur "persönlich" (durch Kinder), sondern auch durch ihren Besitz, ihre Dinge weiter (auch hier Subjekt und Objekt noch nicht klar getrennt und "substantiell" gleich). Homer bezeichnet dieses "Etwas" mit Begriffen wie kydos, time, euchos und kléos.(13) Die Götter haben den Helden kydos verliehen (oft mit Ruhm, Macht, Glück oder ruhmvolle Kraft übersetzt). Sie steckt in ihnen, in ihren Leibern, in ihrer Sippe, in ihrem Besitz.(14) Aus diesem Grunde ist es bei allen Kämpfen der Ilias so überaus wichtig, den Feinden nicht nur das Leben, sondern auch die Rüstung zu rauben. Mit der Rüstung geht gleichsam die Wurzel des Lebens vom Besiegten auf den Sieger über: er wird von dessen Lebens-Kraft "aufgeladen".

 

3. Poröse System-Objekte

Mythische Objekte bilden kein System, in dem Teile und Ganzes eindeutig unterschieden werden können. Die Erfindung des Konzepts des Systems (in dieser Bedeutung) ist bekanntlich die große Leistung der ersten Philosophen des Abendlandes. Sie fragen nach einer neuen Meta-Ebene: gibt es hinter dem undurchschaubaren Wirrwarr der Erscheinungen etwas Gemeinsames? Gibt es ein Grund-Prinzip von allem, ein Grund-Element, das sich im Fließen der Dinge nicht verändert, die arché aller Dinge, ihren "Ursprung, Urgrund und Abgrund"?(15) (Arché bedeutet auch Herrschaft: was ist der gemeinsame Ursprung und zugleich unveränderliche Urgrund, der alles "steuert"?). Mit dieser Frage wird eine neue Meta-Ebene erfunden: hinter den Erscheinungen, so denkt man, gibt es etwas Zusätzliches, die Welt. Sie besitzt einen Ursprung, eine arché. Aus ihr hat sich alles entwickelt, ihr ist diephysis, die Natur entsprungen (Das Wort physis stammt von phyein was "hervortreiben", "sprossen", "wachsen" bedeutet.)(16)

Mit dem Konzept der Welt bzw. des Seins wird zugleich das Konzept eines (formalen) Systems entworfen: eine Anordnung von Basis-Teilen, die sich stimmig aufeinander beziehen und ein geordnetes Ganzes bilden. Jeder Teil steht für sich und zugleich in eindeutiger Beziehung zu anderen Teilen. Teil und System bilden ein wohlgeformtes Ganzes. Objekte werden jetzt zu abgegrenzten Bausteinen eines Systems, deskósmos. Er besitzt ein Substrat, das in allen göttlich-mythischen Substanzen gemeinsam zu finden ist: das Göttliche (to theion). Ihr mythischer System-Stoff (hyle) ist Materie, Leben, Kraft und Geist zugleich. Alles ist belebt, es wird gezeugt und geboren; Thales von Milet spricht vom "Samen der Dinge".(17)

Die Welt stammt allerdings nicht von einem Gott oder einer Göttin ab. Sie kann nicht von einer Götter-Intensität alleine, nicht einmal aus der Summe aller Götter verstanden werden. Nicht sie geben der Welt ihre neue tiefe arché. Das Göttliche überschreitet alle Götter, weil es in jedem einzelnen Gott, in allen Göttern insgesamt >existiert<. Für Thales ist "alles voll von Göttern" (so Aristoteles über ihn in de anima).(18) Anaximander meint, das Göttliche "umfasse und steuere alles", neben ihm gebe es "keine anderen Ursachen".(19) Für Anaximander besteht das Sein aus "Luft". Die Luft selbst, so Cicero über ihn, sei "ein Gott ... im Entstehen begriffen .. ohne Maß und unbegrenzt und immer in Bewegung".(20) Sie ist (nach Hippolytos) "das Prinzip, aus dem alles hervorgeht: was entsteht, was entstanden ist, was in Zukunft sein wird, Götter und göttliche Dinge; alles andere gehe aus den Abkömmlingen der Luft hervor."(21) Die göttlichen Wesen werden so zum göttlichen Sein überhöht, nichts kann sich seiner Wirkungskraft entziehen, - und zugleich in ihrer Bedeutung geschmälert: jede konkrete Gottheit (jede personifizierte Erlebens-Intensität) wird dem Sein (dem Urgrund allen Erlebens) unterstellt. Das Göttliche, die gemeinsame göttliche Substanz steht über ihnen.

Mythische Objekte und mythische Pflanzen werden so zu System-Teile, die dem Ganzen unterstellt sind. Die konglomerartige mythische Welt wandelt sich zu einer mythischen System-Welt, ihre Inhalte bilden eine Gesamtheit einzelner Teile. Die Erfahrung eines Objekts wird damit eindeutiger, weil es als fester System-Bestandteil begriffen wird. Die göttlichen Substanz-Kräfte, die aus den Dingen "hervorquellen" bekommen festere Charakteristika (die dann bei Aristoteles zu Akzidentien mutieren). Die Hüllen um Objekte besitzen stärker gleichbleibende Merkmale. Das jeweils Einmalige im konkreten Erleben verliert an Kraft, ihre konstanten Züge gewinnen an Bedeutung. Die all-umfassende Hülle des Seins bedingt eine mehr konstante Hülle um jedes Objekt und der Grundplan für die Wissenschaft des Abendlandes nimmt erste Konturen an.

Die Hülle um das Sein (später spricht man von der >Außen-Welt<) unterteilt ein Feld in zwei getrennte Teile, in etwas >Äußeres<, die Welt der Personen und Dinge, und etwas >Inneres<, die Welt der Simulationen und subjektiver Erfahrungen. Dem Konzept des Seins entspricht ein Konzept eines verinnerlichten Menschen, der einen "Geist" oder eine "Seele" besitzt. Das gemeinsame Feld ist dabei zwar getrennt (man unterscheidet zwischen Simulationen und >realen< Ereignissen >außen<), aber die Bestandteile beider Bereiche sind intensiv aufeinander bezogen. Die Grenze zwischen >innen< und >außen< - gebildet durch die sich berührenden Hüllen des >Außens< und des >Innens< - ist wie eine zarte Membrane, die einen beinahe ungehinderten Austausch der göttlichen Kräft-Ströme ermöglicht. Das >Äußere< fließt nach >innen<, das >Innere< nach >außen<. >Innen< und >außen< sind in gleicher Qualität, von derselben "Substanz", dynamisch fließend verbunden.

Der Leib, der dieser Grenzziehung vorangeht und sie erst möglich macht, erfährt sich in diesem Wahrnehmungs-Raum als ungemein durchlässig: ein dünnes Netz in den Brandungen eines tobenden Meeres. Diesseits und jenseits der Grenze verläuft derselbe Strom. Das, was >innen< ist, ist von gleicher Qualität wie das >außen<, weil beide Bereiche - durch die groben Maschen des leiblichen Gewebes kaum behindert - andauernd durchmischt werden. Die Seele ist, so meint Thales von Milet "im Universum eingemischt". Sie besteht aus dem gleichen "Stoff" wie die Welt. Die eine Gesamt-Substanz bildet zwei Hüllen (bzw. unterteilt das Eine in zwei Bereiche): eine Hülle des Kosmos und eine der Seele; z. B. bei Anaximenes: "Das Prinzip der seiender Dinge", so lässt ihn Aetius sprechen, "sei die Luft, denn aus ihr entstehe alles, und in sie löse sich alles wieder auf. Ebenso sagt er, wie unsere Seele, welche Luft ist, uns mit ihrer Kraft zusammenhält, so umfasst auch den ganzen Kosmos Wind [oder Atem] und Luft."(22) (ähnlich bei Diogenes aus Apollonia).

Kósmos und Psyche bestehen in diesen ersten System-Entwürfen aus demselben Stoff:(23) bei Heraklit ist die Seele ein "Funken von der Substanz der Gestirne"(24). Sie besteht aus "Feuer", wird sie zu "Wasser", dann stirbt man, die Atomisten sprechen von den "Feueratomen" der Seele. Wie Welt und Seele kann man den Körper und die Seele nicht in ihrer Substanz unterscheiden, sie besitzen dieselbe "stoffliche" Basis. Das "Denken" ist dem Körper verhaftet: "das dem Herzen umströmende Blut ist die Denkkraft" (Empedokles). Für Diogenes von Apollonia besteht alles aus Luft. Die Seele ist eine besondere "Luft, die wärmer ist als die äußere Luft, in der wir uns aufhalten, aber viel kälter als die Luft in der Nähe der Sonne."(25)Das Denken, ein >innerer< Prozess, wird durch "reine und trockene Luft" verursacht. Betrunkene und Tiere atmen feuchte Luft. Deshalb verfügen sie über weniger Verstand. Die Pflanzen schließlich sind innen "nicht hohl". Sie können keine Luft aufnehmen, "daher geht ihnen das Denken vollkommen ab".(26)

Die neue Hülle des Seins und der Seele drückt eine distanzhaftere Beziehung zum Leben aus. Man ist wechselnden atmosphärischen Spannungen unterworfen, aknn sich aber reflektiernd von ihnen zeitweise lösen. Man kann über Erfahrungen systematisch nach-denken, erste Theorien der Wahrnehmung entstehen. Ihre Inhalte reflektieren das DA-SEIN in einem göttlich-fließenden Strom. (Unser Metapher war das Netz, das einen tobenden See in eine >Innen<- und >Außen>-Hälfte unterteilt). Die Menschen sind nach >außen< offen: poröse Gefäße, durch die stürmische Winde und tosende Wasser durchbrausen. Mit dem, was sie umgibt, stehen sie in dichtem Kontakt. Das was >außen< ist, was sie SEHEN, HÖREN, SPÜREN, RIECHEN, SCHMECKEN, TASTEN, ... pulsiert >in< sie hinein.

In diesem Strömen ist >außen< und >innen< das Gleiche zu finden, das gleiche Wasser, die gleiche Luft, die gleiche Substanz, die gleichen Elemente. Im Übergang gibt es keinen qualitativen Sprung. "Zwischen Mensch und Natur besteht kein Bruch, sondern ein Strömen des Gleichen und Verwandten".(27) Die Sinne erscheinen als Röhren, die von den Energie-Strömen >außen< durchbraust werden. Wahr-Nehmen wird als ungemein intensiv erfahren. Man kann zwar über dieses Erleben nach-denken, aber im Denken nicht in seiner Intensität mildern. Empedokles bezeichnet das Tun der Sinne als áthrein, das bedeutet ursprünglich "auf etwas starren." Jede Wahrnehmung, so Anaxagoras, Zeitgenosse von Empedokles (5. Jhd. v. Chr.), ist "von Schmerz begleitet."(28)

Alle vorsokratischen Philosophen, die sich zum Thema Wahrnehmung äußern, betonen das Fließen und Strömen und sich gegenseitig Benetzen. Eine detaillierte Theorie der Sinne entwirft Empedokles von Akragas, einer Stadt an der Südküste von Sizilien. Alle >Objekte< besitzen nach ihm eine schwammartige Oberfläche. "Nicht nur von Lebewesen und Pflanzen" schreibt Plutarch über Empedokles, "oder von Erde und Meer, sondern auch von Steinen und Kupfer und Eisen gehen kontinuierlich zahlreiche Ströme aus."(29) Diese treffen auf andere >Objekte<, die ihrerseits Poren haben und in sie eindringen (póros bedeutet Durchgang, Furt). Alles könne, meint Empedokles, Verwandtes und Angemessenes in sich aufnehmen und zulassen.(30) Auch der Mensch ist ein strömendes Wesen. Seine Haut besteht aus Poren. Mit ihnen saugt er die Welt um sich auf. Nur das, was durch die Poren des Menschen passt, gelangt in sein >Inneres< und kann wahrgenommen werden. Das Auge besteht aus Feuer bzw. Licht und Wasser bzw. feuchter Luft. Die Poren der Augen nehmen das von außen einströmende Feuer oder Licht in sich auf und vermögen so Licht und Dunkel zu "sehen". Beim Riechen gelangen die feinen Ausströmungen der Dinge in die Poren der Nase, was nur geschehen kann, wenn wir atmen. Die Poren der einzelnen Sinnes-Organe sind verschieden. Jeder Sinn hat seine Poren, die nur bestimmte Ströme passieren lassen. Immer trifft der Strom von >außen< auf etwas Gleiches im >Inneren<. "Denn mit der Erde sehen wir Erde; mit Wasser Wasser und mit Luft [aether]strahlende Luft, aber mit Feuer vernichtendes Feuer; Liebe sehen wir mit Liebe und Streit mit verderblichen Streit."(31) Sehen ist eine fließende Verbindung. Zwei Menschen, die sich einander ansehen, sind im gleichen Strom verbunden: "Eins wird beider [Augen]Blick" (Empedokles).

Die Atomisten Leukipp von Milet (etwas jünger als Empedokles) und sein Schüler Demokrit von Abdera deuten das Fließen materiell. Von allen Gegenständen lösen sich andauernd kleine Bilder (eidola) ab, "die dieselbe Gestalt haben wie die gesehenen Gegenstände; diese Bilder strömen von den Gegenständen ständig weg und treffen auf das Auge."(32) Noch pointierter entwickelt diese Ideen der römische Dichterphilosoph Lukrez in der 1. Hälfte des 1. Jhd. v. Chr.(33) Dinge sind Mischgewebe der Elemente (textura mixta) und haben deshalb eine poröse Struktur. Sie sind offen und durchdringbar. Der Kosmos ist wie Wasser: strömend, wallend, pulsierend, verfließend, wie dauernde Wirbel. Leib und Seele sind durch eine Membrane getrennt, die von unzähligen Poren durchlöchert ist. Durch sie ergießt sich die Welt in das >Innere< hinein. Von allen >äußeren Dingen< lösen sich andauernd dünne Filmchen, simulacra genannt, so wie "das Holz den Rauch entlässt und Feuer Gebrodel, ... wie ... wenn im Sommer von sich ihr rundes Hemd herunterstreift die Zikade, wenn die Kälbchen die Haut von der Oberfläche des Körpers lassen bei der Geburt, und auch wenn die schlüpfrige Schlange ab ihr Kleid an den Dornen schält".(34)

Die Welt ist bei Lukrez mit zarten Bildern dichtbepackt, die aus allen Richtungen rasend schnell auf den Menschen einprasseln. Wahrnehmen ist das Berühren von Bildern, ein direkter Kontakt mit körperlichen Dinge-Häuten, die in den Körper eindringen. Wahrnehmen ist Einverleiben, Einatmen, Schnüffeln, Verzehren. "Wahrnehmen ist ein Mahl. Auch das Auge, das Ohr, die Haut riecht und isst."(35)

© Walter Ötsch (Johannes Kepler Universität Linz)


ANMERKUNG

(1) Vgl. die diesbezüglichen Implikationen in den Modellen der Selbst-Entwicklung nach Stern 2000.

(2) Merleau-Ponty 1965, 92f.

(3) Merleau-Ponty 1965, 28.

(4) Hübner 1985, 113.

(5) Hübner 1985, 111.

(6) Gloy 1995, 45. Hervorhebung von mir.

(7) nach Hübner 1985, 126.

(8) Nebel, G.: Pindar und die Delphik, Stuttgart 1961, 173; zit. nach Hübner 1985, 127.

(9) Cassirer 1997c, 240.

(10) Hübner 1985, 174.

(11) Das folgende nach Hübner 1985, 121f.

(12) Eine Totenfeier zu veranstalten, hieß ktéra kterézein, wörtlich "den Besitz als Eigentum bestatten" [z.B. Ilias 24, 38]. Dabei wurde (folgerichtig) nur das dem Einzelnen Gehörende (ktéma oder ktérea) zu Grabe getragen, während der kollektive Besitz (pátroa, Eigentum der Sippe) "am Leben bleiben" musste: dieser garantierte die Fortdauer des Lebens einer Sippe. Vgl. ebenda, 228.

(13) ebenda, 118ff.

(14)Time (Achtung, Ehre, Würde, Wert) begründet die Würde eines edlen Menschen. Die time eines Königs stammt von den Göttern. Agamennon verweist im Streit mit Achill auf sein Szepter [Ilias I, 234ff. ]. Es stammt von seinen Vätern, diese haben es von Zeus. Die Time seines Geschlechts "lebt" darin wie eine Erbmasse fort und genau bei diesem, nicht bei irgendeinem Szepter, ist zu schwören und bei diesem Szepter verbannt Agamemnon den aufmüpfigen Achill "von den Söhnen Achaias" im Kampf. Gleich danach wirft er "auf die Erde den Szepter": eine Bekräftigung für alles, was er ist: seine Würde, seine Ehre, seine gesamte Sippschaft, seine kollektive mythische Substanz.

(15) so die Deutung von Weischedel 1998, 40.

(16) "Natur" ist für die ersten ionischen Philosophen immer belebte Natur, wie Pflanzen und Tiere: "Physis ist ursprünglich die sich in Sprossen bildende und ausbildende Form der Pflanze und des tierischen Organismus"; so Patzer Harald: Physis - Grundlegung zu einer Geschichte des Wortes; in: Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, Band 30, 6, Stuttgart 1936, 251; zitiert nach Fett 2000, 139f.

(17) Aristoteles, Met. A3,983b6; zit. nach Kirk u.a. 2001, 98.

(18) Aristoteles, de anima A5, 41197; zit. nach Kirk u.a. 2001, 104.

(19) Aristoteles, Phys. Gamma 4, 203b7; zit. nach Kirk u.a. 2001, 125f.

(20) Cicero, de natura deorum I, 10, 26; zit. nach Kirk u.a. 2001, 164.

(21) Hippolytos. Ref. I,7,1; zit. nach Kirk u.a. 2001, 158f.

(22) Aetius I,3,4; zit. nach Kirk u.a. 2001, 173.

(23) Das folgende nach Kirk u.a. 2001, an verschiedenen Stellen.

(24) Macrobius, Traum des Scirpio, 14,19; zit nach Capelle 1961.

(25) Nach Simplikos, Phys. 152, 22; zit. nach Kirk u.a. 2001, 482.

(26) Nach Theophrast, de sensu 39ff; zit. nach Kirk u.a. 2001, 487f.

(27) Böhme 1999a.

(28) Nach Theophrast, de sensu 27 ff; zit. nach Kirk u.a. 2001, 487f.

(29) nach Plutarch, Quaest. nst. 916 D; zit. nach Mausfeld 1986, 126f.

(30) Vgl. Mansfeld 1986, 62f.

(31) nach Theophrast, de sensu 9; zit. nach Kirk u.a. 2001, 342.

(32) nach Alexander von Aphrodisias, De sensu, 56, 12; zit. nach Kirk u.a. 2001, 467. Vgl. auch Lindberg 1987, 18f.

(33) Das folgende nach Böhme 1999 b.

(34) Lukrez, De rerum natura (Hg. von Karl Büchner), Stuttgart 1973, 259ff.; zitiert nach Lindberg 1987, 20.

(35) Böhme 1999 b.


ZITIERTE LITERATUR

Böhme, Hartmut: Sinne und Blick. Zur mythopoetischen Konstitution des Subjekts, http://www.culture.hu-berlin.de/HB/texte/natsub/sinne.html , (download am 1.12.1999), 1999a.

Böhme, Hartmut: Welt aus Atomen und Körper im Fluß. Gefühl und Leiblichkeit bei Lukrez. www.culture.hu-berlin.de/HB/texte/lukrez.html (download am 15.3.1999), 1999b.

Capelle, Wilhelm: Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte. Berlin 1961.

Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, Band III: Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt 1997.

Fett, Franz: Der undenkbare Dritte. Vorsokratische Anfänge des eurogenen Naturverhältnisses, Tübingen 2000.

Gloy, Karen: Das Verständnis der Natur. Band I: Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, München 1995.

Hübner, Kurt: Die Wahrheit des Mythos, München 1985.

Lindberg, David C.: Auge und Licht im Mittelalter, Frankfurt 1987.

Kirk, Geoffrey S.; Raven, John E.; Schofield, Malcolm: Die vorsokratischen Philosophen. Einführung, Texte und Kommentare, Stuttgart und Weimar 2001.

Mansfeld, Jaap (Hg.). Die Vorsokratiker, Stuttgart 1987.

Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Erfahrung, Berlin 1965.

Stern, Daniel N.: Die Lebenserfahrung des Säuglings, 7. Auflage, Stuttgart 2000.

Weischedel, Wilhelm: der Gott der Philosophen. Grundlegung einer philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus, 3. Auflage, Darmstadt 1998.


 

10.4. Virtualisierung von Raum, Wahrnehmung und Kultur

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Walter Ötsch (Johannes Kepler Universität Linz): Objekte als virtuelle Hüllen. Beispiele aus der griechischen Antike. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/10_4/oetsch15.htm

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