Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Juni 2004
 

10.6. Theater der Regionen
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Christa Hassfurther (Hallein)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Gesellschaftliche Teilhabe durch "soziale Kunst".

Gerda Medek (Wien, Arge - Randkunst)
[BIO]

 

"Jeder Mensch ist Künstler" (Josef Beuys)

Die pragmatische Bemächtigung der Kunst und Kultur als Ware zur Bedienung von Zielgruppen, welche auch die Tourismusindustrie und die Politik zur besseren Vermarktung ihrer Produkte und Inhalte für sich in Anspruch nimmt, wurde hier von der Sozialarbeit verwendet, um den unter Verschluss gehaltenen, verschwiegenen und vertuschten Lebenswirklichkeiten von Randgruppen Stimme und Forum zu verschaffen.

Die gegenwärtigen strukturellen Veränderungen bringen für diese Schwächsten der Gesellschaft zahlreiche Belastungen mit sich: Langzeitarbeitslose, Menschen mit Behinderungen, Obdachlose und MigrantInnen, jene die schlecht ausgebildet, krank oder älter sind und den Anforderungen des Arbeitsmarktes nicht gerecht werden können, finden zwar zumeist ihr knappes Auslangen aus sozialen Mitteln, doch mangelnde gesellschaftliche Teilhabe, fehlende Anerkennung und die stereotyp wieder kehrende "Sozialschmarotzer-Debatte" beeinträchtigen den Selbstwert der Betroffenen, Resignation und Aggression kommen vor dem persönlichen Rückzug und münden im Verzicht, sich neue Lebensperspektiven zu erarbeiten.

Die Gesellschaft wird von dieser breiten Spur menschlichen Pessimismus durchsetzt - immerhin handelt es sich in Österreich um 240 000, in der EU um 15 Mio Menschen - dieser, von der Größe her durchaus gesellschaftsprägenden, durch ihre Lebensumstände verstörten Gruppe, wurden bisher nur unbefriedigende Lösungen angeboten. Parolen wie: "positiv Denken" , oder die Suggestion: "vom Bergbauernbub zum Gouvernator", bleiben wirkungslos, entwicklungsfähige Konzepte, welche zur zukunftsgestaltenden Kraft einer neuen Kulturidee werden könnten, sind nicht erkennbar. Die großen, anstehenden Fragen der Zeit bedürfen anderer Antworten, ohne grundlegend neues Verständnis und Verhältnis zu sich selbst und allen anderen Mitmenschen, wird ein einigermaßen humanes Überleben der Gattung Mensch fragwürdig, durch die Ausgrenzung Vieler jedoch unmöglich.

Die benötigte Arbeit für alle gibt es derzeit nicht, die Politheroen welche die gesellschaftlichen Umformungsprozesse mitentscheiden, treten mit der Frage: "Wie sozial soll oder darf diese wachsende Gesellschaft sein", auf der Stelle. Tätigkeiten die Freude machen und Lebensunterhalt garantieren, sind für gut ausgebildete, junge, flexible Arbeitskräfte erreichbar, nicht aber für Menschen mit zahlreichen Vermittlungshindernissen. Diese Realität war und ist anzuerkennen!

Als Art Kollateralschaden der großen gesellschaftlichen Veränderungen hingenommen, verweist man die Betroffenen auf Eigeninitiative, ohne zu bedenken, dass sich die arbeitsmarktpolitische Situation gerade für den Sektor dieser Zielgruppe tendenziell verschlechtert hat und schließt sie damit von gesellschaftlichen Annehmlichkeiten aus. Eine durch die wachsende Belastung ausgelaugte Sozialarbeit, hat dem wenig entgegen zu setzen und muss zusehen, wie soziale Mittel gekürzt und überwiegend für Kontrolle statt zur Stärkung der Autonomie von sozial Benachteiligten eingesetzt werden.

Aus der Ohnmacht der sozialen Praxis und der Betroffeneninitiative entstand innerhalb einer Wiener Beratungsstelle für Langzeitarbeitslose, Obdachlose, psychisch Kranke und MigrantInnen in Vernetzung mit Wiener KünstlerInnen das Experiment der "ARGE Randkunst". Ziel war es, die Autonomie von sozial Benachteiligten zu stärken, ihre Teilhabe und gesellschaftliche Mitgestaltung einzufordern und die Vermarktung ihrer künstlerischen Produktionen zu ermöglichen. Unter dem Motto: "Wenn wir das Elend nicht ausrotten können, verkaufen wir es!", wurden Menschen aus jenen Rand- und Problemgruppen, welche aus verschiedenen Gründen in bestehenden Institutionen und Einrichtungen keinen Platz fanden, ermuntert die eigene Lebenswirklichkeit gestalterisch darzustellen und zu bearbeiten.

Es handelte sich um Sozial- und Notstandshilfe beziehende, erwerbsfähige Menschen ohne Erwerbsmöglichkeit, welche diesen Umstand zumeist als persönliche Niederlage betrachteten und - erschwerend - als heterogene Gruppe oft genug in sich selbst uneins waren. Erschwerend war auch, dass es die soziale Praxis hier mit dem untätigen Menschen, der ein trauriger Mensch ist, welcher seine Trauer über das nicht gelebte Leben mit Alkohol und Medikamenten betäubt, zu tun hat, welcher an Veränderungsprozesse erst herangeführt werden muss. Es erwies sich als notwendig und hilfreich, die zahlreichen sozialen Defizite schon im Vorfeld der gestaltenden Arbeit im Gruppengeschehen nach der Methode des "Sozialen Lernens" zu thematisieren.

Was im Experimentalismus der fünfziger und sechziger Jahre von Ruth. C. Cohn in der von ihr initiierten Methode der themenzentrierten Interaktion (TZI) postuliert wird, nämlich: "Störungen haben Vorrang" und müssen ihren Ausdruck finden, ehe an sachbezogenes Arbeiten am Ich-, Wir- oder Sachprozess gegangen werden kann, hat sich in der sozialen Praxis mit der Verbindung von Theater vielfach bewährt. TZI zielt darauf ab, lebendige Kommunikation zu fördern und Rivalitäten zugunsten von Kooperation zu vermindern. Sie kann dazu verhelfen, sich selbst und andere so zu leiten, dass wachstumsfreundliche und heilende, statt gefährdete Tendenzen im Menschen angeregt werden, alles Auswirkungen, welche zur interkulturellen Versöhnung und zum Verständnis "des/r Anderen" beitragen können.

TZI ist ein hilfreiches Interaktionsmodell, das die Person (Ich), die Gruppe (Wir) und die Aufgabe, das Thema (Es) als gleichwertig behandelt und das Umfeld - im engsten und im weitesten Sinn - ("the globe") stets mitberücksichtigt, und geht davon aus, dass die Autonomie des Menschen umso größer ist, je bewusster er seine soziale und universelle Interdependenz anerkennt und aktiviert und begleitete die eigentliche kreative Arbeit. Die Themen dieser Gruppengespräche waren naturgemäß im sozialen Umfeld angesiedelt, im schöpferischen Verfahren wurden Inszenierungen Wort für Wort aus dem Geschehen gefiltert und aufgezeichnet, gegen ungeklärte Sozial- und Kulturverhältnisse, gegen den Stillstand des bürgerlichen Kulturbegriffes mit seinen Attitüden gerichtet und mit der deutlichen Forderung auf ein Recht der gesellschaftlichen Teilhabe, in ein assoziiertes Geschehen eingefügt.

Vor der Aufgabe, diesen Menschen neue Perspektiven zu eröffnen und Hoffnung auf die Zukunft zu wecken, war die Sozialarbeit insgesamt überfordert. Die benötigte Arbeit hatte sie nicht anzubieten, Tätigkeiten die Freude machen und Lebensunterhalt garantieren, schon gar nicht. Die Überlegung war vorerst, Betroffene von ihren Lebensumständen berichten zu lassen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Innerhalb erster gruppendynamischer Prozesse kristallisierten sich die verschiedensten von den Teilnehmenden bestimmten Themen persönlicher Betroffenheit heraus und endeten regelmäßig in sogenannten "Verzweiflungsabenden", welche auf Vorschlag der Beteiligten in einer Art Performance kultiviert wurden: "Wir geben der Verzweiflung Raum!" hieß es. "Die therapeutischen Lustabende funktionieren nicht, die tollen Feste enden in Tristesse. Wir weigern uns, mit verkrampften Grinsen Gefälligkeitsfröhlichkeit an den Tag zu legen, soviel haben wir nicht zu lachen, wie man uns weismachen will! Verzweifelte, vereinigt Euch zum Verzweiflungsabend!"

Nach der feierlichen Eröffnung durch den Obmann der Crazy Industries, einer Psychiatriebewegung, kam ein "Exkurs über die Auflösung der Sprache", der Sprechgesang zur Gittarre: "Lieder in Moll", ein Vortrag "Über Harakiri", Merlin führte durch den Abend: Die Hoffnung auf einen trüben Novembertag wurde erfüllt, postmortale Musik belegte die Verzweiflung auch dort, wo man sie nicht vermutete. Der Eintritt war für gutgelaunte und chronische Optimisten ausnahmslos verboten."

Dieser selbstbestimmte, authentische Aktionismus, der durchaus nicht in Verzweiflung, sondern als gut besuchte Veranstaltung vergnügt endete, eröffnete sich als Etwas, das für eine Vielzahl der Klienten gleichzeitig verbindend im weitesten Sinn war. Die gemeinsamen Erfahrungen waren die Wurzel des Verstehens, das gemeinsame Betreiben eines Projekts, war der Schlüssel zur gegenseitigen Toleranz und legte die Weiterführung der Idee nahe.

Die Erwachsenenarbeit betrachtete sich hier sowohl als Vermittlerin von sozialem Lernen, als auch als Vermittlerin von Kultur, welche die TeilnehmerInnen als einer "des schlechten Blicks", einer die Angst macht, mitunter derb daherkommt, einer vor theatralischer Überhöhung triefenden bis zur Unkenntlichkeit verzerrten, bezeichneten, welche sich aber im Laufe der Arbeit mit Sarkasmus, Humor und Ansätzen von Optimismus füllte und Qualität erhielt, welche auch dem anspruchsvollen Publikum zusagte.

Die einfache These war: Veränderungsprozesse - wie sie nötig wären, um den Betroffenen wieder Chancen zu eröffnen - sind dann wahrscheinlich, wenn Autonomie, Anerkennung und Erfolg angeboten werden können und dies gilt für den Einzelnen wie für das Kollektiv.

Professionelle KünstlerInnen gaben den Schliff und viele wichtige Tipps bei den folgenden gemeinsam entstandenen Arbeiten:

Der Einakter "Das derf doch net wahr sein!" (Das darf doch nicht wahr sein!) befasste sich satirisch mit neuen, innovativen Projektideen. Das Stück wurde 12 mal in Wien aufgeführt.

Es folgte die "Erste Wiener Arbeitslosen-CD", sie wurde gemeinsam getextet, komponiert, im Studio aufgenommen und mit einer Auflage von 500 Stück verkauft.

Der Milleniumskalender: "Even Raindogs Some Kind Of Sex. Sind Obdachlose Erotisch?" Auflage 500 Stück, gestaltet vom Wiener Fotografen Rainer Nesset und dem bildenden Künstler Gerhard Häupler, berichtete als Fotokalender vom gesellschaftlichen Ausschluss auf vielen Feldern. Der Kalender ist von der Planung bis zum Vertrieb gemeinsam mit den Teilnehmern entstanden und sollte auf provokante Weise auf die Probleme von Obdachlosen aufmerksam machen.

Die halblustige Burleske "Aus. Schluss" erzählt aus der Sicht von Betroffenen die Geschichte ihres persönlichen Scheiterns. Die Behörde verfügt, dass Obdachlose in Zukunft auf ursprünglich für Hunde gedachte Plätze vermittelt werden müssen. Nach einer Empörung über diese Willkür versuchen die Betroffenen sich selbst zu helfen. Dieser Selbsthilfe wird allerdings die Unterstützung versagt. Mit der Aufführung von "Aus. Schluss" wurde das Projekt in dieser Form abgeschlossen.

Das Experiment ist als solches gelungen, das Theater in der Vernetzung mit den sozialen Institutionen bot sich hier als besonders geeignetes Medium zur Thematisierung von gesellschaftlichen Problemen an. Die arbeitslose Zwangsfreizeit ließ sich hier unter entsprechender Anleitung und Animation in sinnvolle Bahnen leiten: Neuorientierung, Aufarbeiten psychosozialer Defizite, oder "nur" das Verhindern von Ausbrüchen latent vorhandener Probleme oder Krankheiten, ersparte den Betroffenen einen Teil Elend und der Gesellschaft die Folgekosten dieses Elends. Die Aufnahme in ein soziales Gefüge bietet Chancen und verhindert Ausgrenzung für den Einzelnen, strukturell geförderte Kooperation fördert neue Lebensweisen, neues Verhalten und kann am Anfang eines neuen Kulturansatzes stehen.

Alle der insgesamt 50 TN, haben in einer abschließenden Befragung ihre persönliche Situation als befriedigender gegenüber der Ausgangssituation dargestellt. Die Motivation zur Schuldenregulierung, Alkoholentzug, Wohnungssuche usw. stieg mit der erlebten Anerkennung, welche sich auch nach erfolgreicher Fertigstellung und nach Abzug aller Entstehungskosten, in Form eines kleinen Honorars bemerkbar machte. Erlöse welche übrig blieben, wurden gemeinsam zweckbestimmt gewidmet.

Finanziert wurden die Produktionen mit geringsten Mitteln aus dem Projekttopf der sozialen Einrichtung und durch den zusätzlichen ehrenamtlichen Arbeitsaufwand der SozialarbeiterInnen. Es standen pro Projekt zwischen 1 000 und 3 000 EUR zur Verfügung, der Arbeitsaufwand der KünstlerInnen war voll ehrenamtlich, nur deshalb konnten Wohnungskautionen für drei Obdachlose erwirtschaftet werden, welche bis zum heutigen Tag in stabilen, geordneten Verhältnissen leben.

Das drei Jahre dauernde Projekt hat sich in der sozialen Praxis für die involvierte Randgruppe bewährt und war geeignet, persönlich bedingte Illusionen der TeilnehmerInnen zu vermindern und den Prozess von der Pseudo- Sozialisierung zu echter Verantwortung zu fördern, so wie deren Lebensenergien und Schöpferkräfte zu aktivieren.

Damit solches Handeln nicht im Privaten stecken bleibt und viele gemeinsam Handelnde sich zu einer zukunftsgestaltenden Kraft verbinden können, ist es denkbar, langfristig wirksame, allgemeine kulturpolitische Konzepte zu entwickeln, welche Gesamtalternativen hin zu einer Gesellschaft der Gemeinsamkeit Aller weisen und ein fundamental neues Verhältnis zu sich selbst und zu den Mitmenschen findet.

Derzeit setzt sich die ARGE Randkunst- als soziokulturelles, flexibles Konstrukt in Progress - für Theaterschaffende ein, welche durch die Kürzungen im Kulturbereich selbst häufig arbeitslos und in Existenznöte geraten sind. Ziel ist es nunmehr, auch arbeitslosen SchauspielerInnen und KünstlerInnen anderer Sparten, neben der Überbrückung arbeitsloser Zeiten, Produktionen abseits des mainstream anzubieten. Die ARGE Randkunst unterstützt durch zur Verfügung-Stellen von Proberäumlichkeiten, Übernahme von administrativen Tätigkeiten, bei der Suche nach Fördergebern, Organisation von Ausstellungen etc. Die KünstlerInnen erklären sich dafür bereit, in ihre Produktionen Personen mit besonderen Vermittlungshindernissen aus den sozialen Institutionen mit ein zu beziehen. Die ARGE Randkunst solidarisiert sich damit auch mit den verschiedenen sozialen Maßnahmenträgern und hilft mit, um deren Klienten die Wartezeit auf eingeleitete Maßnahmen zu verkürzen (Entzug, Therapie, Warten auf den Wohnplatz etc.) oder begleitend dazu, um das Zusammenspiel der verschiedensten Hilfsangebote noch effizienter werden zu lassen.

Gleich geblieben sind die Ziele der ARGE Randkunst, sozialpolitische Anliegen mit den Mitteln der künstlerischen Agitation deutlich zu machen und zwar: gegen soziale Ausgrenzung, gegen jede Form der politischen Bedrohung, gegen Unterdrückung von Menschenrechten, gegen Beschränkung von Kunst und Kultur, für Meinungsfreiheit und Demokratie und für Netzwerke der Gemeinsamkeiten zum Nutzen Aller.

© Gerda Medek (Wien, Arge - Randkunst)

10.6. Theater der Regionen

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For quotation purposes:
Gerda Medek (Wien, Arge - Randkunst): Gesellschaftliche Teilhabe durch "soziale Kunst". In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/10_6/medek15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 4.6.2004     INST