Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. August 2004
 

10.7. Kreative Kontexte
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Simone Griesmayr (Linz)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Pierre Bourdieu: Terror der Ökonomie
Gegenfeuer wider dem Neoliberalismus

Sebastian Lasinger / Alexander Vojvoda (JKU Linz) (*)

 

  "Wir haben ein Europa der Banken und Bankiers, ein Europa der Unternehmen und der Unternehmer, ein Europa der Polizeibehörden und Polizisten, und demnächst werden wir ein Europa der Armeen und Soldaten haben" Pierre Bourdieu (www.igmedien.de)
 
  "Es geht mir um die Verteidigung des Staates und seiner Vernunft gegen die pure Ökonomie!" Pierre Bourdieu (www.berlinonline.de)

 

Der Neoliberalismus zeigt sich im Schein der Unausweichlichkeit. Es ist unmöglich sich der fortschreitenden Ökonomie zu entziehen. Größtmögliche Steigerung von Produktivität und Wachstum als letztes und einziges Ziel menschlichen Handelns.

 

Die mathematische Theorie des Marktes

Die mathematische Theorie des Marktes wird als absolut rationales und widerspruchsfreies System dargestellt. Eine vollkommene Ordnung deren Logik sich ihren Weg bahnt und jede Übertretung ihrer Gesetze unverzüglich selbst straft. Diese Darstellung hat nichts mit der Realität des Marktes zu tun, sondern ist Teil der neoliberalen Doktrin.

Was heißt Herrschaft? Das Gesetz des Marktes nach Bourdieu:

"Das Recht des Stärkeren. Eine Glorifizierung und Ratifizierung der Herrschaft was man heute Finanzmärkte nennt, also Rückkehr zum Raubtierkapitalismus, der kein anderes Gesetz kennt als den maximalen Profit, Rückkehr zu einem ungebremsten Kapitalismus, der gleichzeitig immer stärker rationalisiert, an die Grenzen seiner ökonomischen Effektivität getrieben wird, durch die Einführung moderner Herrschaftsformen wie dem Management und den Einsatz manipulativer Techniken, wie der Marktforschung und der Werbung."

Ein Beispiel für die Mängel der ökonomischen Theorie sieht Bourdieu in ihrer Haltung gegenüber dem Bildungswesen. Die ökonomische Theorie weigert sich Bildung in Rechnung zu stellen, und das in einer Zeit, die immer wieder von den Ökonomen selbst als Wissensgesellschaft bezeichnet wird.

Es kommt zu einem tiefen Schnitt zwischen dem Ökonomischen und dem Gesellschaftlichen, das beiseite geschoben wird und den Soziologen überlassen wird, wie eine Art Ausschussware.

 

Die Entstehung des Neoliberalen Diskurses

Konservative think tanks erzeugen mit Hilfe von Zeitschriften, Klubs, Vereinigungen von Unternehmen, Intellektuellen und Journalisten neoliberale Ansichten und Theorien - mit denen die Öffentlichkeit bearbeitet wird. Es entstehen Selbstverständlichkeiten und ein Vokabular, das von Journalisten und Kommentatoren gedankenlos verwendet wird, um die Welt zu erklären. Ein kollektiver Glaube an die neoliberale Sichtweise entsteht.

Neoliberalismus

Der Neoliberalismus entwickelt sich, laut Bourdieu, nicht nur auf ökonomischer Ebene, sonder erhebt auch, in einer bestimmten Form, den Anspruch eine soziale Ordnung zu sein. Darüber hinaus erläutert Bourdieu, dass es schon so weit geht, dass der Neoliberalismus in Wirklichkeit den Status einer Sozialphilosophie für sich beansprucht, die jede einzelne Facette des gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen Lebens beeinflussen darf und dies auch in Anspruch nimmt.

Dieses neoliberale Modell basiert auf drei Prinzipien:

Die gedanklichen Führer dieser neoliberalen Denkweise sind wenige institutionelle Investoren, in deren Händen das Kapital konzentriert ist und die dieses auch vermehren wollen. Dadurch wird auf die Unternehmen und die Politik ein Zwang ausgeübt, der das Ziel dieses neoliberalen Modells widerspiegelt: die Maximierung der kurzfristig zu erzielenden Gewinne.

Wie schon erwähnt beruht diese Sicht auf der Annahme, dass das neoliberale Modell, neben der ökonomischen Ebene, auch noch einen sozialphilosophischen Anspruch erhebt. Dies zeigt sich deutlich im so genannten "ökonomischen common sense". Dieses System beruft sich auf eigene Überzeugungen und Werte und eine eigene moralische Weltsicht. Diese Gefüge verbinden sich mit sozialen und kognitiven Strukturen einer bestimmten sozialen Ordnung. Hier tritt der Fall des US-amerikanischen Modells in den Vordergrund. Der neoliberale, ökonomische Weg, der in den Ländern Europas eingeschlagen wurde, ist die Universalisierung dieses Systems. Daher ist man gezwungen bei einer Kritik des Wirtschaftssystems der europäischen Staaten, dieses mit einer Kritik des US-amerikanischen Systems gleichzusetzen.

 

Mythos Globalisierung

Die Theorie der Globalisierung ist eine symbolische Waffe bzw. ein wirksamer Mythos.

Einerseits versteht Bourdieu darunter im engeren Sinn eine Vereinheitlichung des globalen ökonomischen Feldes bzw. die Ausweitung dieses Feldes. Allerdings verbindet Bourdieu damit eine zweite Bedeutung, nämlich eine Wirtschaftspolitik, die darauf abzielt, durch rechtliche und politische Maßnahmen, eine Beseitigung aller Beschränkungen zu erwirken, welche dieser Vereinheitlichung im Weg stehen.

Die Globalisierung erfordere die Rückführung staatlicher Ausgaben, insbesondere auf dem Gebiet der sozialen Rechte im Bereich von sozialer Beschäftigung und sozialer Sicherung, die für zu teuer und dysfunktional gehalten werden.

Dies ist jedoch kein zwingendes Gesetz von Technik oder Ökonomie, sondern ein Ergebnis einer von bestimmten Akteuren und Institutionen initiierten Politik. Der Begriff der Globalisierung verkörpert die perfekte Form des universellen Imperialismus und einen Rechtfertigungsmythos.

Konservative Revolution

Das Prinzip des Neoliberalismus, dass das Soziale als getrennt von der Wirtschaft betrachtet werden sollte und dass die sozialen Ausgaben und Rechte gekürzt werden sollten, werden unter dem Deckmantel der "Reform", "Revolution", "Bewegung" oder "Veränderung" durchgeführt.

Diese Situation bedeutet für Bourdieu einen Rückschritt in archaische Zeiten, in denen die Errungenschaften der Arbeiterbewegung, also die Arbeiterrechte und vieles andere, bedroht sind. Pierre Bourdieu bezeichnet den Sozialstaat als die größte Errungenschaft des 19. Jahrhunderts und diese Errungenschaften gilt es zu verteidigen. Die neoliberale Wirtschaftspolitik geht in diesen Punkten einen Weg in die andere Richtung. Sie fordert eine Schmälerung der sozialen Rechte und einen Abbau der sozialen und öffentlichen Ausgaben des Staates.

Genau an dieser Stelle setzt Bourdieus Kritik an: Der Staat hat sich dem Druck der neoliberalen Wirtschaft unterworfen und seinen Kampf als Balanceelement zwischen Wirtschaft und Sozialsystem aufgegeben. Der Staat und das politische System unterliegen dem Zwang der institutionellen Investoren. Diese haben, durch ihr angesammeltes Kapital, die Möglichkeit ihre Interessen, im Sinne der kurzfristigen Profite, durchzusetzen.

Ein weiterer Kritikpunkt ist hier die Verschmelzung der Politik mit der Wirtschaft. Die sich an der Macht befindenden Regierungen, auch die sozialdemokratischen, verbünden sich mit der Wirtschaft und bilden ein wirtschaftlich - politisches Gefüge. Sozialdemokratische Regierungen übernehmen neoliberale Sichtweisen und die ökonomischen Modelle in ihre Sichtweisen und arbeiten diese, unter dem Deckmantel der "Reform des Sozialstaates", aus. Sie kürzen, wie es Bourdieu formuliert, den Kranken die Zuweisungen und bedauern sie gleichzeitig auf der anderen Seite.

Das US-amerikanische Wirtschaftsmodell wird hier als Ideal angestrebt. Die Universalisierung des US-amerikanischen Systems spielt hier eine wichtige Rolle, da sich der Staat in den Vereinigten Staaten völlig aus der Regulierung der Wirtschaft zurückgezogen hat. Darüber hinaus hat er viele öffentliche Güter wie Gesundheitswesen, Sozialversicherungen, Bildungswesen, Wohnungsbau usw. privatisiert und die Kontrolle dieser Institutionen der Wirtschaft überlassen. Diese Güter wurden zu Handelsgüter und deren Nutzer zu Kunden verwandelt. Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Daraus ergab sich der Begriff des "self help" (dieser Begriff und seine Bedeutung leitet sich aus dem calvinistischen Glauben ab, dass Gott jenen hilft, die sich selber helfen). Der amerikanische Staat ist nur mehr ein Strafstaat, der lediglich zuschlägt und sich aller anderen gesellschaftlicher Aufgaben entledigt hat.

 

Das globale ökonomische Feld

Hier ist es notwendig wieder auf den Begriff Globalisierung zurückzukommen und zwar im Sinne einer Vereinheitlichung des globalen ökonomischen Feldes bzw. die Ausweitung dieses Feldes. Wie bereits angeführt ist Globalisierung kein zwingendes Gesetz von Technik oder Ökonomie, sondern das Ergebnis einer bestimmten Politik. Eine Politik dazu geschaffen, um ganz bestimmte Ziele zu erreichen, wie etwa die Liberalisierung der Handelsbeziehungen. Also die Beseitigung internationaler Hindernisse, die sich vor Unternehmen und anlagesuchendem Kapital aufbauen.

Der Prozess der Vereinheitlichung des globalen Feldes der Ökonomie und Finanzen wird unter dem Deckmantel eines universellen politischen Befreiungsprojektes geführt.

Im Namen einer behaupteten Verwandtschaft von Demokratie und Markt wird politische Emanzipation für alle Völker versprochen.

Ein glorifizierter, "billiger" Lebensstil "im Sinne einer Zivilisation a la McDonald`s, Jeans und Coca Cola" ist das Geschenk dieses universellen Imperialismus.

Dieses "Gesellschaftsprojekt" dient jedoch den Herrschenden, das heißt dem Großkapital, das sich über die einzelnen Staaten hinwegsetzt und gleichzeitig auf deren Hilfe zählen kann, gerade im Fall der politisch und militärisch übermächtigen Vereinigten Staaten.

Diese Großanleger werden von den wichtigsten internationalen Institutionen unterstützt, etwa von der Weltbank, dem Internationalen Währungsfond und der Welthandelsorganisation (WTO), die ihnen immer wieder günstige Bedingungen für die eigenen wirtschaftlichen Aktivitäten sichern.

Ein offensichtliches Beispiel für die Kräfteverhältnisse, die im globalen Feld entstehen, ist der zweifellos vorhandene Mangel an Symmetrie, der zu sogenannten "double standards" führt, also zum Messen mit zweierlei Maß. Allen voran die Vereinigten Staaten, welche selbst Protektionismus und Subventionspolitik betreiben, dies aber den Entwicklungsländern verbieten.

 

Die Beschaffenheit des globalen ökonomischen Feldes

Das globale ökonomische Feld ist als Gesamtheit weltweiter Einzelfelder zu verstehen. Das ökonomische Feld ist stark polarisiert - die heimischen Wirtschaften der führenden Nationen neigen dazu, schon aufgrund ihres Gewichts innerhalb dieser Struktur, eine Konzentration der Unternehmen und der erzielten Gewinne zu besitzen. Zugleich sind führende Nationen richtungsweisend für die Entwicklungen, die im gesamten Feld entscheidend sind.

Die Stellungen der einzelnen Unternehmen im nationalen wie im internationalen Feld hängt also nicht nur von eigenen Wettbewerbsvorteilen ab, sondern auch von wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und sprachlichen Vorteilen, die sich aus der jeweiligen nationalen Zugehörigkeit ergeben. Die Form "nationalen Kapitals" wirkt sich positiv oder negativ verstärkend auf ein Unternehmen aus. Die unterschiedlichen industriellen Felder sind heute strukturell dem globalen Feld der Finanzen untergeordnet. Dieses fast vollständig autonome, konzentrierte Kapital der Großanleger (Pensionsfonds, Investmentfonds, Versicherungsgesellschaften) wird zu einer eigenständigen Macht, welche der Kontrolle nationaler Institutionen weitgehend entzogen ist.

 

Vereinheitliche und herrsche!

Die Vereinheitlichung und Integration verschiedener Wirtschafträume mündet jedoch nicht, wie man glauben könnte, in einen Prozess der Homogenisierung, sondern geht mit einer Machtkonzentration einher.

So werden alle Teilnehmer an einem ökonomischen Spiel, für das unterschiedliche ökonomische und kulturelle Vorraussetzungen mitgebracht werden. Ehemals durch nationale Grenzen geschützte Akteure werden brutal mit hoch effizienten und machtvollen Produktivkräften und Produktionsweisen konfrontiert. Formale Gleichheit unter real ungleichen Bedingungen wirkt sich immer zugunsten der Herrschenden aus.

 

Terror der Ökonomie

Wie schon ausgeführt wurde, führt die Globalisierung des ökonomischen Feldes nicht zu einem Prozess der Homogenisierung, sondern führt immer zu einer Machtkonzentration und zu einer Konzentration des Kapitals hin. Doch wie wirkt sich diese Machtkonzentration auf die Bevölkerung, auf die Strukturen der Gesellschaft, den Arbeitsmarkt und weitere wichtige Bereiche des Staates und der Gesellschaft aus? Dies soll an zwei Beispielen erläutert werden. Man kann aus diesen Beispielen erkennen, dass manche Prozesse oder Mechanismen auf verschiedene Bereiche anwendbar sind und sich die neoliberalen Ansätze nicht nur auf einen Teil des gesellschaftlichen Lebens beschränken, sondern ineinander verwoben und gegenseitig voneinander abhängig sind, sich ergänzen und Hand in Hand miteinander gehen.

Der Arbeitsmarkt

Der Arbeitsmarkt funktionierte vor der Manifestierung der beschriebenen neoliberalen Dogmen auf der Grundlage der Produktivität der Unternehmen und der Wirtschaft. Die Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen war nach Angebot und Nachfrage geregelt.

Produktivität der Arbeit und Konjunktur zeichneten dafür verantwortlich, dass der Arbeitsmarkt relativ sicher und stabil gehalten wurde. Dies bedeutete, dass durch dieses Prinzip die Beschäftigten von einer relativ hohen Sicherheit ihres Arbeitsplatzes ausgehen konnten und dies unter einem konstanten, relativ hohen Lohnniveau. Dies hatte zur Folge, dass durch die konstanten, hohen Löhne die Nachfrage auch anstieg oder zumindest konstant gehalten wurde. Aus diesem Grund konnten auch die Unternehmen expandieren, das Lohnniveau gleichhalten und selber auch Gewinne verzeichnen.

Das Motto der konjunkturgebundenen Wirtschaften wurde durch die neoliberale Revolution aufgegeben. Nun wurde der Aktienkurs an den Börsen als ausschlaggebende Maßeinheit für die Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens herangezogen.

Durch die zunehmende Machtkonzentration auf immer weniger institutionelle Investoren, die wichtige Institutionen, wie große Versicherungen usw. kontrollieren, steht der kurzfristige Profit im Vordergrund. Die Sicherheit der Arbeitsplätze, das Aufrechterhalten des konstanten, hohen Lohnniveaus und Einhaltung der Arbeiterrechte werden kontinuierlich vernachlässigt oder als "nicht wirtschaftlich" erachtet, und daher als sinnlos und dysfunktional abgestempelt.

Diese Veränderungen stehen unter dem Banner der "Mobilität und Flexibilität". Doch wie werden die Arbeiterrechte und Sicherheit der Arbeiter zerstört?

Zunächst wird schon bei der Anstellung, also beim Arbeitsvertrag, die Grundlage für die Verunsicherung der Arbeiter gelegt. Die Arbeiterschaft erhält kurzfristig angelegte Arbeitsverträge, mit einem unsicheren und deutlich niedrigeren Lohnniveau. Diese Einstellungspolitik wird von den Unternehmen auf Druck dieser wenigen institutionellen Investoren, die durch die Konzentration des Kapitals auf eine kleine Personenmenge beschränkt ist, durchgeführt. Diese institutionellen Investoren üben auf Unternehmen und die Politik Druck aus, um ihre Interessen durchzusetzen - die Maximierung der kurzfristigen Profite.

Die Politik spielt in der Arbeitsmarktentwicklung eine sehr große Rolle, da sie sich den Regeln der neoliberalen Sichtweise unterworfen hat, mit dieser Art Imperialisten zusammenarbeitet und sich von ihnen abhängig macht. Wie schon erwähnt, kritisiert Bourdieu hier besonders die sozialdemokratischen Regierungen in Europa, die sich den neoliberalen Dogmen unterworfen haben.

Weitere Maßnahmen, um die Profite auf kürzestem Wege zu maximieren, sind Entlassungen und Lohnsenkungen. Über der Masse der Arbeiter schwebt, wie ein Damoklesschwert, die große Menge der "austauschbaren Arbeiter" - die Arbeitslosen. Die Unternehmen drücken das Lohnniveau, mit dem Argument der Austauschbarkeit des Einzelnen, auf ein unerträgliches Niveau nach unten. Ein weiteres Argument, der neoliberalen Wirtschaftsform, ist die Rationalisierung, wodurch auch Entlassungen, Lohn - und Gehaltssenkungen und der Abbau von Arbeitsplätzen gerechtfertigt werden. Diese verschiedenen Vorgangsweisen tragen alle zur Verunsicherung der Arbeiterschaft bei und schaffen eine Situation der Prekarität, die nicht nur den Bereich der Arbeit betrifft, sondern im gesamten kulturellen Bereich seine Auswirkungen zeitigt.

Diese ständige Unsicherheit und die Befürchtungen seine Arbeit zu verlieren, führen zu einer Situation der Prekarität, die gewollt eingesetzt wird, um die Arbeiter zu entsozialisieren und sie ihrer sozialen Bindungen zu berauben. Die Arbeiter und Angestellten fühlen sich in ihrer Situation allein gelassen, sie erfahren eine Situation der Vereinzelung. Durch den Prozess der Entsozialisierung werden die Arbeiter aus ihrem sozialen Gefüge an ihren Arbeitsplätzen gerissen und jeder Solidarität beraubt. Dieser Mechanismus wird noch durch eine immer größere Verschiebung der Arbeitskräfte aus dem Ausland in die Staaten der Europäischen Union verstärkt. Durch die Zuwanderung von Arbeitern nach Frankreich aus den ehemaligen Kolonien, wie zum Beispiel Nordafrika, wird eine Situation geschaffen, die ein sehr großes Spannungspotential beinhaltet und nur dadurch gelöst werden kann, dass die wirtschaftliche Situation der Länder, die ein sehr hohes Potential an Emigranten haben, verbessert wird.

Die Prekarität der Arbeiterschaft wird zu einem wichtigen Instrument der Herrschenden. Die Unsicherheit wird institutionalisiert und auch von den Arbeitern verinnerlicht bis sie auch den Begriff des "self help" angenommen haben: Indem sie sich für ihre Taten bzw. für ihre Entlassungen selbst verantwortlich machen und die sich ständig verschlechternden Arbeitsbedingungen sowie Arbeitsverhältnisse als nicht abwendbare Folge der Wirtschaftlichkeit sehen. Diese institutionalisierte Prekarität war eine Entwicklung des neoliberalen Wirtschaftssystems, da man bis jetzt nur von einer strukturellen Prekarität sprechen konnte, die von der wirtschaftlichen Entwicklung und der Konjunktur abhängig war.

Diese institutionalisierte Vereinzelung wird in jeden Bereich der Arbeitswelt erfahren und soweit vorangetrieben, dass es als "Motor der Gesellschaft" bezeichnet werden kann. Die Verbindung von Wirtschaft und Politik, im Bereich des Arbeitsmarktes, ist eine verheerende, da die Wirtschaft nach neoliberalen Dogmen handelt und die Regierungen, auch die sozialdemokratischen, allen voran in Großbritannien und Deutschland, ihre Sichtweisen und Handlungen, im sozialen und wirtschaftlichen Bereich, dem neoliberalen Druck angleichen.

Soziales System und öffentliche Ausgaben

Pierre Bourdieu bezeichnet den Sozialstaat und das Sozialrecht, insbesondere die Arbeiterrechte, als den größten Erfolg Europas des 19. Jahrhunderts. Diese Errungenschaften sieht er, mit der zunehmenden neoliberalen Weltsicht, gefährdet. Er fordert eine europäische Bewegung, um diesen Sozialstaat zu schützen und jene zu bekämpfen, die ihn zerstören wollen. Doch wer sind diese Personen, die ihre Vorteile aus dem Abbau des Sozialstaates ziehen und wie gehen sie vor?

Es sind die Wirtschaftstreibenden, die wenigen institutionellen Investoren, die eine Macht - und Kapitalkonzentration anstreben. Diese Macht - und Kapitalkonzentration wird durch einen kontinuierlichen Druck auf den Staat durchgeführt, der einzig und allein den Sinn hat, die öffentlichen Ausgaben und das Sozialsystem auf ein Minimum zu beschränken und den Aktionären an den Börsen möglichst gute Bedingungen zu schaffen, um ihr Kapital mit den größtmöglichen Gewinn zu vermehren.

Dies geschieht durch die Verschmelzung der Wirtschaft mit der Politik, auch von sozialdemokratischen Regierungen, was als fortschrittliche Reformen dargestellt wird. Dieser Abbau des sozialen Sicherungssystems hat nur die eine Zielsetzung: die öffentlichen Ausgaben zu senken und im gleichen Schritt die Steuer- und Abgabeniveaus für die Investoren und Aktionäre zu reduzieren. Diese Maßnahmen werden auf den Schultern der Arbeitnehmer ausgetragen, die durch verkürzte und unsichere Anstellungen, niedrigere Löhne und konsumorientierte Subventionen einer Situation der Unsicherheit preisgegeben sind.

Der Staat zieht sich sukzessive als "höheres Gewissen" zurück, denn er hat auch keinen Platz in einer neoliberal dominierten Wirtschaftswelt. Die öffentlichen Güter, wie Gesundheitsversorgung und -vorsorge, Wohnungsbau, Sozialversicherung, Bildung oder Kultur, die früher dem Staat untergeordnet waren, werden jetzt schrittweise oder völlig privatisiert und kommerzialisiert. Das kennzeichnende Beispiel für diese Vorgangsweise ist das US-amerikanische Modell, in dem sich der Staat aus allen öffentlichen Bereichen zurückgezogen hat und nur noch als Strafstaat vorhanden ist, was einer Rückentwicklung zu archaischen Formen des Staates gleichkommt.

Die konservative Restauration oder Revolution zeigt hier ihr gefährlichstes Gesicht, da eine Rückentwicklung stattfindet und der Arbeitsmarkt destabilisiert wird: Arbeitsverträge werden verkürzt, Entlassungen werden durchgesetzt unter dem Motto der "Rationalisierung, Flexibilisierung und Modernisierung".

Das Sozialsystem als solches wird als veraltetes Gebilde angesehen, dass nicht mehr wirkungsvoll und vor allem sinnvoll agiert. Darum ist es Zeit dieses zu reformieren. Dies bedeutet in weiterer Folge, dass die sozialen Abgaben gekürzt und jene Personen, die das Sozialsystem nützen, auf ihre eigenen Beine gestellt sind. Jede Kritik an dieser Vorgangsweise wird als "reformunwillig" behandelt. Weiters wird suggeriert, dass jene die, dieses Absicherungssystem erhalten oder sogar ausbauen wollen, an den gescheiterten Formen der Sowjetunion hängen. Das Beispiel "Sowjetunion" wird als abschreckendes Beispiel herangezogen und jene, die die sozialen Errungenschaften Europas erhalten wollen damit assoziiert und als "ewig Gestrige" bezeichnet.

Der Abbau des Sozialsystems, wie das Beispiel USA zeigt, könnte eine erschreckende Entwicklung nehmen, die durch die Universalisierung des US-amerikanischen Modells entstehen könnte. Die Abschaffung der sozialen Sicherungssysteme würde den europäischen Raum neu prägen und eine neue Unterschicht, die bereits am Entstehen ist, schaffen. Bourdieu fordert eine gemeinsame, gesamteuropäische Lösung. Diese Lösung würde eine neue Stärkung der Gewerkschaften bedeuten, die auf europäischer Basis agieren und funktionieren müssten. Dieser Verbund müsste eine Unterstützung unter den Intellektuellen finden, die in diesem Prozess eine tragendere Rolle spielen müssten, als sie es bis dato getan haben.

 

Finanzmarkt

"In allen europäischen Ländern geht es heute darum, Voraussetzungen für ein dauerhaftes Wachstum & Vertrauen der Investoren zu schaffen, in dem man die öffentlichen Haushalte unter Kontrolle bringt und das Steuer- und Abgabenniveau auf ein erträgliches Maß absenkt und die sozialen Sicherungssysteme reformiert ..."
Hans Tietmeyer

Für Bourdieu heißt das im Klartext: runter mit den Steuern für Investoren, bis diese für sie erträglich sind und weg mit dem Wohlfahrtsstaat. Denn dieser ist unvereinbar mit den "ökonomischen Errungenschaften" - dem Kapital - der Investoren. Dies bedeutet eine Deregulierung und Liberalisierung des Finanzmarktes.

Durch die neuen Kommunikations- und Transportmittel ist das ökonomische Feld, das früher hauptsächlich auf nationaler Ebene bestand, zu einem globalen ökonomischen Feld herangewachsen. Die zeitliche Distanz zwischen den einzelnen Spekulationsorten hat sich sehr stark verringert, da jetzt nationale Unternehmen, vor allem aufgrund der Öffnung der Märkte, aus der nationalen Sicherheit gerissen worden sind und durch die Konkurrenz mit multinationalen Unternehmen zusammenbrechen, werden diese nationalen Unternehmen zu Spottpreisen von den großen Konzernen aufgekauft.

Diese Tendenz wird auch durch die Aufhebung von protektionistischen Maßnahmen in diesen Ländern gefördert. Diese protektionistischen Maßnahmen sollten die innerstaatliche Wirtschaft vor den großen, multinationalen Unternehmen schützen um eine Abwirtschaftung des Landes zu verhindern. Dies geschieht jedoch nicht, da internationale Organisationen, wie die WTO auf Druck der Vereinigten Saaten hin, jene Länder unter Druck setzt, um für die "einheimischen", vor allem multinationale Unternehmen, bessere ökonomische Voraussetzungen zu schaffen. Als Beispiel ist hier wieder die USA zu nennen, die durch ihre ökonomische, finanzielle und diplomatische Vormachtstellung Maßnahmen gegen solche Länder durchsetzen kann:

Weiters wird die USA als der "verwirklichte Sozialismus", in der Form der "Demokratie der Aktionäre" gesehen. Diese Ironie des "verwirklichten Sozialismus" bezieht sich auf die bestehende Form in der manche Firmen ihre Arbeiter entgelten. Hier wird eine Vereinigung von Arbeit und Kapital gefordert: indem man die Arbeiter mit Aktien entlohnt und bezahlt, schafft man die ideale Form, in der Arbeiter auch gleichzeitig "Besitzer" des Unternehmens sind, und die neoliberalen Maßnahmen (unter Umständen auch ihre eigene Entlassung) positiv bewerten müssten (da der Aktienkurs dadurch steigt). Hier entsteht der Anschein eines "kollektiven Unternehmens", das jedoch in zynische Interessenskonflikte münden muss. Einerseits reicht die Menge der Aktien, die an die Arbeiter ausgeschüttet werden, meist nicht aus, um eine entscheidende Rolle im Unternehmen zu haben. Andererseits stehen die Interessen als Aktieninhaber und Arbeitnehmer kausal im Widerspruch.

© Sebastian Lasinger / Alexander Vojvoda


(*) Beide sind Mitarbeiter des Kulturinstitutes an der Johannes Kepler Universität Linz. Zusammen produzieren sie die Radiosendung "Gegenfeuer" zu Literatur, Kultur, Gesellschaft und Politik für den örtlichen Kulturradiosender FRO; derzeit organisieren sie das "Austrian Social Forum" in Linz und arbeiten als Chefredakteure für das "Campus Radio" der Johannes Keppler Universität.


LITERATUR

Bourdieu, Pierre / Debons, Claude / Hensche, Detlef / Lutz, Burkart et al.: Perspektiven des Protests; VSA-Verlag, Hamburg 1997

Bourdieu, Pierre: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstandes gegen die neoliberale Invasion; UVK Universitätsverlag, Konstanz 1998

Bourdieu, Pierre: Gegenfeuer 2. Für eine europäische soziale Bewegung; UVK Verlagsgesellschaft mbh, 2001

Bourdieu, Pierre: Eine Gefahr für die Grundlagen unserer Kultur; TAZ 4.12. 1999 www.france-mail-forum.de/index0172.htm

Bourdieu, Pierre: Plädoyer für eine neue europäische Aufklärung; http://www.igmedien.de/publikationen/kunst+kultur/2000/05/35.html

Bourdieu, Pierre: Nur Mut, Arbeiter! Seid flexibel; www.tages-anzeiger.ch/serie/au2.htm

Bourdieu, Pierre: Das politische Kapital der Europäer; www.sozialismus.de/99.12/bourdieu.htm


10.7. Kreative Kontexte

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


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For quotation purposes:
Sebastian Lasinger / Alexander Vojvoda (JKU Linz): Pierre Bourdieu: Terror der Ökonomie. Gegenfeuer wider dem Neoliberalismus. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/10_7/lasinger15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 28.8.2004    INST