Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. November 2003
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Kultur und europäische Erweiterung

Mercedes Echerer (Mitglied des Europäischen Parlaments)
[BIO]

 

Der Euro war lange Zeit eine Vision. Heute gehört er längst zum Alltag, wenngleich manche von uns den Preis einer Ware immer noch in die ehemalige Landeswährung umrechnen (ich auch!). Die Euromünzen und -scheine gehen innerhalb der EU und weltweit auf Reisen, komplette Münzsätze aus den verschiedenen Ländern wurden und werden gesammelt. Meine Tochter freute sich unlängst, dass sie als Österreicherin mit einem Euro spanischer Prägung in Deutschland ein Buch kaufen konnte. Der Euro ist mehr als nur eine gemeinsames Zahlungsmittel. Der Euro hat eine Doppelnatur: Er vereint Wirtschaft und Handel mit den kulturellen Unterschieden. Der Euro ist ein Symbol für die Einheit in der Vielfalt. Die nationalstaatliche "Prägung" in doppeltem Sinn bleibt erhalten, aber der wirtschaftliche Wert ist einheitlich. Neben allen positiven und negativen Nebeneffekten ist der Euro ein Erfolg und den Visionären von damals zolle ich höchsten Respekt.

Die nächste große Vision Europas wird in wenigen Monaten Realität: Die Wiedervereinigung Europas! Der Prozess zur Stärkung von Frieden, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erreicht im Mai 2004 einen neuen Höhepunkt. Aus EU-15 werden EU-25! Der Weg war lange und schwierig, begleitet von Skepsis, Misstrauen, falschen Hoffnungen, berechtigten und künstlich geschürten Ängsten, Informationsdefiziten, Missinterpretationen, radikalen Ansichten, Versuchen, vom Wesentlichen abzulenken - ein breites Feld für Populisten. Auch die Vermischung innerstaatlicher Probleme mit möglichen Problemen im Zusammenhang mit der Erweiterung hat negative Auswirkungen auf diesen Friedens- und Integrationsprozess und trägt zur skeptischen Haltung weiter Bevölkerungsschichten bei. Weitsicht und Solidarität auf jeder Ebene der politischen wie zivilen Gesellschaft wären hilfreicher gewesen.

Was nun politisch längst beschlossene Sache ist und im Mai nächsten Jahres vollzogen wird, muss nämlich letztendlich von der europäischen Bevölkerung getragen werden. Gipfeltreffen und irgendwelche Statements - und seien sie noch so positiv - reichen nicht aus, nicht für die Menschen, die auf ihre Fragen keine oder zumindest keine befriedigenden Antworten bekommen. Schon gar nicht für jene, die noch kein Interesse an den "Neuen" haben. Aber auch nicht jene Zivilgesellschaft, die wirklich positiv eingestellt und voll Neugier ist.

In das "Haus Europa" ziehen nun neue Mitbewohner ein. Aus alten Nachbarn sind neue geworden. Wie gut kennen sich die alten wie neuen Mitbewohner diese Hauses? Geschichtsunterricht, Sommerurlaube, einige Kulturreisen u.ä. reichen noch nicht aus, um die unterschiedlichen Lebensbilder und Gesellschaftsentwürfe nachvollziehen zu können.

Die Vorbereitungszeit zum Beitritt war voller Herausforderungen auch für die EU-15. Die Wirtschaft hat schon längst die neuen Märkte für sich entdeckt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vorbildlicher Betriebe haben nicht nur die Sprache des Gastlandes erlernt, sondern auch ihr Know-how in die Ausbildung vor Ort eingebracht. In den meisten Fällen war aber zu Beginn die Kommunikation auf englisch, französisch und - historisch bedingt - auch auf deutsch. Mit dem größten Selbstverständnis lernen unsere Kinder, wie damals auch wir, international verwendete Sprachen. Seit mehr als 10 Jahren wissen wir um die geplante Wiedervereinigung Europas. Mit welchem Selbstverständnis werden heute z.b. slawische Sprachen in Regelschulen gelehrt?

Wir alle wissen, dass Sprache das "Tor zum Anderen" sein kann. Wo es keine zwingende Notwendigkeit gibt, halten sich aber Angebot und Nachfrage in Grenzen. Die Konsequenz: Wer kennt heute zumindest in Auszügen das zeitgenössische künstlerische Schaffen des europäischen Ostens? Die Botschaften aus den neuen Mitgliedsländern sowie deren Rezeption dürfen nicht auf Folklore reduziert werden. Was fehlt, ist die verbindende Kulturarbeit. Es gibt unzählige Einzelinitiativen privater wie politischer Natur, aber es fehlt in Brüssel wie in den Mitgliedsländern an Mut zu neuen Rahmenbedingungen und an visionärer Politik im Kulturbereich im allgemeinen.

Im europäischen Kontext heißt das: Es gab im Rahmen der Heranführungsstrategien auch im kulturellen Bereich Unterstützung für die Kandidatenländer. Eine Beteiligung an den kulturellen Förderprogrammen - als Juniorpartner - ist willkommen. That's it! Kultur wird begrüßt, wo sie 'nicht weh tut'. Kritik in künstlerischer Ausgestaltung wird bis zu einem gewissen Grad als Beweis für eine liberale Geisteshaltung geduldet. Kultur und kultureller Austausch werden als positiver Nebeneffekt zu wirtschaftlichem Erfolg gewertet, aber kaum als ein selbständiger Politikbereich anerkannt, der weit mehr ist als reine Förderpolitik. Kultur kostet! Aber selbst da, wo empirische Studien belegen wie viel mehr an investiertem Geld über die Umwegrentabilität wieder zurückkommt, wird gezögert und gespart. Es stimmt, dass die Mittel überall knapp sind. Es geht aber, wie gesagt, nicht immer nur ums liebe Geld - es geht auch um strukturelle Maßnahmen.

Die 10 neuen Länder der EU waren und sind voll damit beschäftigt, den acquis communitaire vollständig zu implementieren und da bleiben kaum Ressourcen übrig, um sich auch noch der Kulturpolitik zu widmen. Immer wieder und leider immer öfter höre ich den Satz: Der Beitritt zur EU ist uns wichtig, aber unsere Kultur lassen wir uns nicht "wegharmonisieren". Was wie eine Verteidigung des "Nationalstolzes Kultur" klingt, zeugt eher von einer falschen Einschätzung europäischer und internationaler Politik. Internationale Verträge und Abkommen haben ebenso drastische Konsequenzen für die heimische Kulturpolitik wie die europäische Gesetzgebung.

Die Kulturschaffenden der alten wie der neuen Länder sind aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht als das "GATS-Gespenst" in fast allen europäischen Gazetten umging. In dieser Sache waren sich die meisten einig: Wir, d.h. die EU-Mitgliedsländer, müssen unsere kulturelle Vielfalt schützen. Was das genau heißt oder was man unter "Schutz der kulturellen Vielfalt" versteht ist nicht immer klar. Im Rahmen der GATS-Vorverhandlungen ging es auch um die Liberalisierung des Bereiches Kultur und Medien. Nach den Gesetzen des GATS bedeutet das: Quoten im Fernsehen sind z.b. diskriminierend und gehören abgeschafft. Oder: Subventionen durch die öffentliche Hand sind wettbewerbsverzerrend und gehören abgeschafft oder müssen allen offen stehen.

Es bedeutet aber auch, dass sogenannte Schwellen- oder Entwicklungsländer den Abbau von Barrieren erwarten; Barrieren wie z.b. die Visapflicht für Kulturschaffende.

Versuche, diese unterschiedlichen Probleme innerhalb des GATS zu lösen, halte ich für falsch. Der europäische Markt für Kultur aus aller Welt ist ein beispielhaft offener Markt. Wer immer mit der EU kooperieren möchte, kann das tun, sofern er/sie Partner findet. Bestehende Barrieren wie die Visapflicht könnten meiner Meinung nach auch auf bilateralem Weg gelöst werden.

In erster Linie sollte es doch um kulturelle Zusammenarbeit und kulturellen Austausch gehen. Die WTO sowie das GATS kennen aber nur die Regeln des freien Marktes. Wenn es um die Grundversorgung geht - und da schließe ich Kultur und die Teilhabe an Kultur mit ein - kann der fruchtbare Dialog mit den Mitteln des freien Marktes nicht zum gewünschten Erfolg, sondern eher in eine kulturelle Einbahnstrasse oder im schlimmsten Falle zum Kulturimperialismus führen. Es bedarf also eines internationalen Instrumentes, das der Doppelnatur kultureller Produktion, dem effektiven kulturellen Austausch und dem Schutz der kulturellen Vielfalt gerecht wird. Kein protektionistischer Ansatz, sondern eine Offensive ist der Vorschlag aus Quebec, der sich seit zwei Jahren intensiv mit diesem Thema beschäftigt. Ich will aber meiner Kollegin Christa Prets nicht vorgreifen. Sie wird Ihnen detailliert über dieses Vorhaben berichten.

Schlimm genug, dass die EU-15 zwar mit Zähnen und Klauen ihr Subsidiaritätsprinzip in der Kulturpolitik verteidigen, aber sehenden Auges die Kultur auf internationaler Ebene "ausgeliefert" hätten. Die Debatten im Konvent zur EU-Verfassung haben erst am letzten Tag den für das kulturelle Schaffen nötigen Erfolg gebracht. Nach wie vor besteht aber unter den neuen wie den alten Mitgliedsländern das Missverständnis, dass Kulturpolitik ausschließlich Sache der Nationalstaaten sei und Europa sich nicht einmische. Kulturelle Förderprogramme sind (allerdings auch nicht von allen) erwünscht, aber das reicht dann auch schon. Mehr Intervention aus Brüssel sei nicht zu erwarten. Tatsächlich einschneidende Entscheidungen kommen ohnehin nicht von der Generaldirektion Kultur und Audiovisuelles in der Europäischen Kommission. Die Verbreitungs- und Vertriebswege für Kunst sind in den meisten Fällen industrialisiert und unterliegen strengen Wettbewerbsregeln und Binnenmarktsgesetzen. Europa liefert die gesetzlichen Rahmenbedingungen, der Inhalt hingegen ist Sache der Mitgliedsstaaten. Die ehrgeizigste Kunstförderpolitik wird durch die wettbewerbs- und verbraucherorientierten Entscheidungen manipuliert. Diese Gesetze wiederum haben Auswirkungen auf die unabhängigen Verbreitungs- und Vertriebswege wie auf die jeweiligen künstlerischen Produktionen, ihre Inhalte und ihre Qualität. Kulturelle Aspekte werden zwar berücksichtigt, aber erst nachdem Wettbewerb, Binnenmarkt und Verbraucher zu ihrem Recht gekommen sind. Hingegen könnte eine europäische Kulturpolitik mit einer starken Galionsfigur nicht nur dafür sorgen, dass die kulturellen Aspekte bei der Gesetzgebung tatsächlich in Betracht gezogen werden, sie müsste auch dafür sorgen, dass die EU auf globaler Ebene Initialzündungen gibt, eine Art Motor wird, wie ihr das in Bereichen der Umweltpolitik gelungen ist. Gegen diese Idee wehren sich die alten wie die neuen Mitgliedsländer.

Der Begriff "europäische Kulturpolitik" wird oft verwechselt mit der Brüsseler "Sehnsucht", alles harmonisieren zu wollen. Eine Harmonisierung nationaler/regionaler Kulturpolitiken will niemand! Einerseits darf man weder als Künstler noch als Politiker so naiv sein, vor den europäischen und internationalen Realitäten die Augen zu verschließen: Urheberrechte, Leistungsschutzrechte, Folgerecht, Beteiligung an der Wertschöpfungskette, Buchpreisbindung, uneingeschränkte Teilhabe an künstlerischer Produktion und vieles mehr werden nun einmal in Brüssel mitentschieden. Und der zuständige Brüsseler Kommissar, ausgestattet mit einem Verhandlungsmandat der Mitgliedsländer, betritt die internationale Verhandlungsbühne. An dem davor stattfinden Prozess der Meinungsbildung und der Ausgestaltung der Rahmenbedingungen beteiligen sich aber eher nur die wirtschaftlichen Kräfte. Die Künstler, die unabhängigen Kunstproduzenten oder Kunstvermittler nehmen kaum Teil. Eine Einbindung in diese Prozesse wäre auch eine Holschuld der Kunstschaffenden und würde deren aktives Interesse voraussetzen.

Andererseits hat Europa in seiner Vielfalt einige gemeinsame Werte - sie sind letztendlich die Basis für die Union. Das kulturelle Potential wird aber kaum eingesetzt, es bleibt entweder innerhalb der Landesgrenzen oder betritt - von wenigen Ausnahmen abgesehen - als uniformierte Mainstreamware 'Made in XY' den internationalen Markt. Nein danke! Keine weiteren Europuddings!

Was also wäre dann europäische Kulturpolitik? Nachdem der Begriff "Kultur" ja sehr viel umfasst, werde ich mich im folgenden auf den Kunstbereich beschränken. Kunst und Politik stehen einander diametral gegenüber. Während die Politik versucht, allgemein gültige Regeln aufzustellen, Ordnung für eine Gemeinschaft zu schaffen, widmet sich die Kunst der subjektiven Wahrheit, den individuellen Lebensentwürfen. Die Abhängigkeit voneinander und das Spannungsfeld zueinander könnten größer nicht sein.

"Kunst und Forschung sind frei" - so steht es auch in Art. 13 der Grundrechtscharta, die in die zukünftige europäische Verfassung integriert wird. Die Liberalität der EU und ihr Wunsch nach Pluralität lassen sich daran messen, wie viel Freiraum den Kunstschaffenden von der gesetzgebenden Gewalt tatsächlich gewährt wird.

Kunst sucht nicht nach Berechtigung oder Begründung und fragt nicht nach dem eigenen Nutzen. Kunst entsteht aus dem Bedürfnis, sich mit der Welt individuell auseinander zu setzen. Kunstpolitik hat daher die Aufgabe, einerseits eine liberale Atmosphäre zu schaffen, in der Kunst sich überhaupt entwickeln kann und andererseits der Bevölkerung die Kunst zugänglich zu machen. Kunst, die nicht sichtbar gemacht wird, verfehlt eines ihrer wichtigsten Ziele.

Problemorientierte Beteiligung an gesellschaftsrelevanten Entwicklungen sind legitime und notwendige Forderungen an die Kunst, ebenso wie das Entwickeln völlig neuer Lebensentwürfe. Finanzielle wie strukturelle Förderung kritischer Kunst, kritischer Dialoge und Prozesse sollten ein wichtiger Teil europäischer Kulturpolitik sein. Die aus der Kunst gewonnenen Erkenntnisse sind Hilfen für reale Handlungsfelder.

Die Rolle der Kunst als Vermittlerin ist ernst zu nehmen! Kulturelle Authentizität entsteht zumeist durch das Wirken Einzelner, die, geprägt durch ihr Umfeld, die spezifische Kultur einer Epoche beeinflussen und mitgestalten. Ihre Werke sind jedoch nicht nur Botschafter der kulturellen Identität eines Landes oder, besser gesagt, einer Region, sondern nicht selten auch Schnittpunkte verschiedener Kulturen und haben somit abseits der ethnologischen, historischen und politischen Gegensätze eine Mittlerfunktion zwischen den verschiedenen Welten.

Ein Bekenntnis zur multiethnischen Gesellschaft, eine Schwerpunktförderung interkultureller Begegnungen und - last but not least - das Erlernen von Sprachen, eine ästhetische Betrachtung der Dinge, sowie die Förderung von Medienkompetenz bereits im Kindergartenalter: Diesen Aufgaben müssen sich die Mitgliedsländer in Europa gemeinsam stellen. Die Problemfelder sind bekannt und vergleichbar, die Lösungsansätze ebenfalls!

Die Konsolidierung des Friedensprozesses, die Erweiterung der Europäischen Union, kann nicht ohne eine aktive Beteiligung der Menschen stattfinden und so bedarf es auch einer aktiven Kulturpolitik.

Zeit und Energie in eine visionäre europäische Kulturpolitik zu investieren, sowie strukturelle Rahmenbedingungen und eine angemessene Kunstförderung sind Investitionen in unsere Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die sich nicht auf den Kontinent Europa beschränkt.

© Mercedes Echerer (Mitglied des Europäischen Parlaments)

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For quotation purposes:
Mercedes Echerer (Mitglied des Europäischen Parlaments): Culture and European enlargement. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003.
WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/plenum/echerer15DE.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 21.11.2003     INST