Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. November 2003
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Die Geisteswissenschaften im Europäischen Forschungsraum

Eine Herausforderung für die Geisteswissenschaften, eine Herausforderung für Europa

Peter Fisch (Europäische Kommission)

 

Meine Damen und Herren,

Am Anfang dieser sehr wichtigen Konferenz, möchte ich ganz kurz drei Kernpunkte ansprechen, die unsere Diskussion in den nächsten Tagen beeinflussen könnten.

1. Der Begriff eines Europäischen Forschungsraums (ERA)

Als die Europäische Kommission die Initiative "Für einen europäischen Forschungsraum" lancierte, hat sie, und besonders Kommissar Philippe Busquin, eine Reihe von Zielen hervorgehoben. Ich möchte im Zusammenhang mit dieser Konferenz die wichtigsten in Erinnerung bringen:

Es ist offensichtlich nötig, die Fragmentierung und mangelnde Leistungsfähigkeit zu überwinden, die durch die Art und Weise entsteht, wie Forschung in Europa strukturiert und organisiert ist.

Mehrwert könnte durch die verbesserte Zusammenarbeit aller Rollenspieler geschaffen werden.

Gemeinsame europäische Anstrengungen würden auch ein deutliches Signal an junge Forscher in aller Welt aussenden und sie motivieren in Europa Forschung zu betreiben.

Im Ganzen gesehen würde eine vermehrte Zusammenarbeit und in einer Weise eine konstruktive Konkurrenz die Qualität der Wissenschaft in allen Ländern und Disziplinen stärken.

Um diese ehrgeizigen Ziele zu erreichen, sind große Anstrengungen nötig, nicht nur in "Brüssel", sondern bei allen, die davon betroffen sind, auf allen Ebenen und in allen Disziplinen. Da die ERA als eine offene Initiative ohne hierarchische Strukturen gedacht ist, wird sie eine größere Diversität in den Zugängen ermöglichen, die sich an den spezifischen Bedürfnissen der Regionen und der Disziplinen ausrichten.

Es sollte deutlich sein, daß eine derart weitreichende Initiative nicht nur eine direkte Einwirkung auf europäische Forschungsaktivitäten hat, sondern daß sie auch die zukünftige Forschungspolitik auf nationaler und regionaler Ebene stark beeinflussen wird.

2. Die besondere Rolle der Geisteswissenschaften in der ERA

Es ist deutlich, daß ein solcher Europäischer Forschungsraum unvollständig wäre ohne eine starke Beteiligung der Gesellschaftswissenschaften und der Geisteswissenschaften. Es muß aber betont werden, daß die Kulturwissenschaften und Geisteswissenschaften eine Reihe besonderer Eigenschaften haben, die sie von anderen Forschungsfeldern unterscheiden Ich werde mich hier auf nur drei dieser Besonderheiten beschränken:

1. Da die Geisteswissenschaften eine Art von "universeller" Botschaft aussenden sollen, und sich in erster Linie auf die Förderung von Wissen für die Menschheit zuspitzen statt auf Konkurrenzvorteile für bestimmte Geldgeber, sind sie gleichzeitig viel mehr auf nationale Geldmittel angewiesen als andere Disziplinen. Das Fehlen einer industriellen multinationalen Kooperation in diesem Bereich und die beschränkten Geldmittel von internationalen öffentlichen Geldgebern in den Geisteswissenschaften machen die nationalen Programme zum Zentrum nicht nur im Bezug auf die geldlichen Mittel, sondern auch für die Erarbeitung von Forschungszielen.

2. Zusammen mit den Sozialwissenschaften sind die Kulturwissenschaften und die Geisteswissenschaften in vielen verschiedenen Disziplinen organisiert, ohne ein zu starkes Band, das sie alle in ein kohärentes Paket verschnürt. Gleichzeitig sind die Kulturwissenschaften, im Gegensatz zu den sogenannten "harten Wissenschaften", tief in eine Vielfalt nationaler Forschungstraditionen und Forschungssprachen eingebettet, die ein Teil des europäischen Reichtums auf diesem Gebiet sind, die aber gleichzeitig den Austausch von Ideen und Ergebnissen über die Grenzen hinweg erschweren könnten.

3. Schließlich, und als Folge davon, sind die Geistes- und Kulturwissenschaften besonders empfindlich für alle Arten von europäischen Aktivitäten, die als "Kooperation", "Koordination", "Integration", "Harmonisierung" oder "Konzentration" beschrieben werden können. Obwohl Handlungsbedarf in dieser Richtung weithin anerkannt wird, gibt es noch einen weitreichenden Skeptizismus, ob dieser Weg nicht etwa die Qualität der Forschung beeinträchtigen könnte.

Angesichts dieser immer noch existierenden Schwierigkeiten und Hindernisse stellt sich die Frage, warum wir dennoch mit unseren Anstrengungen in Richtung auf einen europäischen Forschungsraum in den Geisteswissenschaften fortfahren sollten. Ich denke, es gibt viele gute Gründe dafür, ich möchte aber nur ein paar davon hervorheben:

Vergleichende, transnationale Forschung ist in den Gesellschafts- und Kulturwissenschaften besonders relevant, um zusätzliche Einsichten in die Besonderheiten jeder analysierten Einheit zu bekommen.

Geistes- und Gesellschaftswissenschaften spielen in der zukünftigen Formung Europas eine wichtige Rolle, vor allem, wenn es um unsere gemeinsame Geschichte und Kernbegriffe wie Identität und Regierungsstil geht.

Beiträge aus den Gesellschafts- und Kulturwissenschaften werden dringend benötigt, um unser gemeinsames Verständnis einer "erweiterten" Europäischen Union und von Europas Rolle in der Welt zu verbessern.

Jede Strategie, in diesem Feld Fortschritte zu machen, sollte auf dem Respekt vor der Vielfalt und einer langsamen Annäherung gegründet sein, um gemeinsame Initiativen aufzubauen. Ein möglicher Ausgangspunkt könnte meiner Ansicht nach die Organisation eines regelmäßigen Dialogs zwischen den verschiedenen Interessenten sein, um einen regelmäßigen Informationsfluß zu schaffen. Zu einem späteren Zeitpunkt könnte das dazu führen, Initiativen für die Kooperation von Programmen zu lancieren und ein gemeinsames Engagement zu entwickeln.

3. Die Rolle der Geisteswissenschaften im Sechsten Rahmenprogramm (FP6)

Im Hinblick auf die Rolle der Geisteswissenschaften in den EU Rahmenprogrammen muß man zugeben, daß die Geschichte bisher sehr kurz ist, denn die Geisteswissenschaft "als solche" wurden bisher nicht angesprochen. Frühere Rahmenprogramme haben auf die Geisteswissenschaften nur innerhalb eines besonderen Kontextes bezug genommen, nämlich mit Bezug auf die Informationstechnologien oder die Erhaltung des kulturellen Erbes.

Hier möchte ich Sie daran erinnern, daß der Vertrag von Amsterdam als gesetzlicher Grundlage für europäische Forschungsaktivitäten diese auf solche Aktivitäten beschränkt, die die Konkurrenzfähigkeit der europäischen Industrie befördert und die Durchführung der Gemeinschaftspolitik verbessert. Obwohl das offensichtlich nicht die geeignete Grundlage ist, um alle Forschungsaktivitäten in den Kulturwissenschaften zu unterstützen, erlaubt es immerhin, einige wichtige Bereiche als integralen Teil unseres Forschungsportfolios anzusehen.

Im Sechsten Rahmenprogramm, das die Jahre 2002 bis 2006 abdeckt, werden die Geisteswissenschaften direkt und nicht länger nur als Instrumente in anderen Kontexten angesprochen. Innerhalb der sogenannten Priorität 7 "Bürger und Regierungsformen in einer Wissensgesellschaft", werden Schlüsselfragen wie die folgenden angesprochen:

Es sollte deutlich sein, daß diese Aktivitäten nur als erste Schritte betrachtet werden können, aber sie sind wichtige Schritte in die richtige Richtung.

4. Schlußfolgerungen

Während das Sechste Rahmenprogramm innerhalb bestimmter Grenzen die Tür für die Geisteswissenschaften öffnet, sollte man die Wichtigkeit der Europäischen Forschungsraum-Initiative nicht vernachlässigen, die wahrscheinlich wichtigere Folgen im Forschungsbereich der Kulturwissenschaften und Geisteswissenschaften haben wird.

Ob alle diese Initiativen schließlich zu positiven Ergebnissen führen werden, hängt von einer Anzahl Faktoren ab, deren wichtigster der Enthusiasmus und das Engagement der betroffenen wissenschaftlichen Gemeinschaften ist. Ich sehe diese Konferenz als ein sehr wichtiges Ereignis im Hinblick auf eine hoffentlich vielversprechende Zukunft für die Geisteswissenschaften im Europäischen Forschungsraum.

© Peter Fisch (Europäische Kommission)

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For quotation purposes:
Peter Fisch (Europäische Kommission): Die Geisteswissenschaften im Europäischen Forschungsraum. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003.
WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/plenum/fisch15DE.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 18.11.2003     INST