Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Februar 2006
 

1.2. Gesellschaftliche Reproduktion und kulturelle Innovation. Aus semiotischer Sicht
Herausgeber | Editor | Éditeur: Jeff Bernard (Institut für Sozio-Semiotische Studien ISSS, Wien)

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Bericht: Gesellschaftliche Reproduktion und kulturelle Innovation. Aus semiotischer Sicht

Jeff Bernard (Institut für Sozio-Semiotische Studien ISSS, Wien)
[BIO]

 

Diese Sektion wurde organisiert vom Institut für Sozio-Semiotische Studien ISSS, Wien, zusammen mit dem International Ferruccio Rossi-Landi Network IFRN, konkret vom Verf. dieser Zeilen zusammen mit Renée Gadsden, Astrid Hönigsperger und Gloria Withalm. Sie fand im Kontext von IRICS an der Universität für angewandte Kunst Wien statt, und zwar an allen drei Tagen des Kongresses.

Im Rahmen der Hauptzweige der modernen Semiotik gehören der Peirce-Morris-Mainstream (Pragmati(zi)smus und verwandte Strömungen), der "semiologische" Mainstream (der diversen Strukturalismen inkl. Poststrukturalismus) und die wichtigen Approaches der Biosemiotik und der Sozio-Semiotik zu den einflußreichsten. Die letztere betreffend, stammt deren bisher elaborierteste Theorie von Ferruccio Rossi-Landi, in welcher der Begriff der "gesellschaftlichen Reproduktion" zentralen Stellenwert besitzt. In seinem Spätwerk bettete der Autor die Zeichensysteme und -prozesse theoretisch in der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion ein, in der sie eine privilegierte Funktion in der Intermediärstruktur einnehmen (Struktur/Intermediärstruktur/Superstruktur): Zeichenaustausch - Kommunikation. Ohne Zeichengebrauch funktioniert gar nichts. Andererseits ist festzustellen, daß seit den frühen 1960er Jahren der Aufstieg der Kultursemiotik stattfand, sowohl als Theorie als auch in angewandten Bereichen (z.B. die Moskau-Tartu-Schule in Osteuropa; Roland Barthes, Umberto Eco und andere in Westeuropa). In der Synthese sozio-semiotischer und kultursemiotischer Sichtweisen können wir uns der Herausforderung stellen, Gesellschaft (die Menschen) und Kultur (deren Hervorbringungen) als Ganzes zu sehen, und zwar in intersemiotischer Perspektive, somit auch das Thema "Gesellschaftliche Reproduktion und kulturelle Innovation". "Intersemiotik" signalisiert zudem, daß die Vortragenden eingeladen waren teilzunehmen, auch wenn sie sich anderen semiotischen Strömungen zugehörig fühlten, jedoch diese Themenkreise behandeln wollten.

Daher ersuchten wir freundlich, theoretische und angewandte semiotische Beiträge zu Fragen und Problemen vorzuschlagen, die alle Sphären der gesellschaftlichen Reproduktion betreffen, sowohl die materielle Produktion als auch die Zeichenproduktion und Ideologieproduktion, wie insbesondere deren Querbeziehungen und Interdependenzen. Wir würden es vorziehen, teilten wir mit, wenn die Beiträge sich (auch) auf die großen Herausforderungen unserer Zeit beziehen könnten, d.h. um zu zeigen, daß Semiotik ein valides Werkzeug für die Analyse, Evaluation und Interpretation gegenwärtiger Zustände, Vorgänge und Herausforderungen ist (Globalisierung, neoliberale Hegemonie, Multikulturalität, Interkulturalität, Subkulturen, "clash of civilizations", Terrorismus, Probleme der Dritten Welt etc.). Doch auch historisch orientierte Arbeiten waren willkommen, ebenso wie streng theoretische, insofern auch sie Modelle zur Behandlung und Überwindung der "challenges" unserer Zeit in Gesellschaft und Kultur (besser: Gesellschaften und Kulturen!) liefern.

Aus dem reichen Feedback ergab sich zuletzt folgende Sektionsstruktur: Begonnen wurde mit einer Subsektion "Fundamentals", die als internes Plenum angelegt war. Sodann folgten die Subsektionen "Theory" und "Cultural Change" (je ganztägig) sowie "Art & Aesthetics", "Film Studies", "Advertising & Consumption" und "Art & Literature" (je halbtägig). Den Vortragenden standen jeweils 30 Minuten zur Verfügung, weitere 10 Minuten waren der Diskussion gewidmet. Der Diskussionsbedarf war in der Tat groß, sodaß auch die Kaffeepausen dafür herangezogen wurden (einige krankheitsbedingte Ausfälle schufen weiteren Spielraum; die Betroffenen sind in diesem Bericht nicht mehr erwähnt).

Die Subsektion "Fundamentals" (9.12.) wurde moderiert von Gloria Withalm und dem Verf. (beide Wien). Erstere führte in das Werk Rossi-Landis (1921-1985) unter besonderer Betonung seiner extensiven und in der Tat fundamentalen Behandlung der gesellschaftlichen Reproduktion ein, in der die Zeichensysteme und -prozesse einen hervorragenden Stellenwert einnehmen. Sie erwähnte insbesondere auch jene Stellen, in denen Rossi-Landi das Moment der kulturellen Innovation betonte. Jeff Bernard (Wien) schloß an mit der Fortführung des Werkes von Rossi-Landi im Rahmen der Arbeiten des ISSS, besonders im Hinblick auf die Verschmelzung mit kultursemiotischen Aspekten, eine wichtige Fragestellung, wenn kulturelle Innovation zur Debatte steht. Francesco Muzzioli (Rom) führte sodann Anwendungen Rossi-Landischer Theoreme im Bereich der Literatur vor, indem er drei diesbezüglich wenig beachtete Schlüsseltexte diskutierte. Es wurde aus diesen drei Beiträgen klar, wie sehr Rossi-Landis Ansätze für eine gesamtheitliche Durchdringung des Fragenkomplexes der Sektion von Nutzen sind. Guido Ipsen (Dortmund) widmete sich nach der Pause der gesellschaftlichen Semiosis, den gesellschaftlichen Konsens und Wandel, somit auch der Frage der Innovation, aus unterschiedlicher Sicht, doch ebenfalls grundlegend, nämlich aus Perspektive des amerikanischen Pragmatismus, speziell Peirce, wobei Komplementarität mit Rossi-Landi in intersemiotischem Sinne nicht ausgeschlossen wurde. Janice Deledalle-Rhodes’ (Perpignan) Text befaßte sich abschließend mit Stereotypenbildung und -wandel, ebenfalls gespeist aus Peirce und mit starken Exemplifizierungen aus dem orientalischen Raum.

Die Subsektion "Theory" (10.12.) stand unter der Obhut des Verf. und wurde von Elisabeth Peters (Wien) eingeleitet, die auf Basis einer umfangreichen Dissertation die diskursive Konstruktion der sog. Informationsgesellschaft behandelte. Karl Gfesser (Stuttgart) steuerte danach in guter Ergänzung ein genuin semiotisches Informationsschema bei, das auf Grundlage der Benseschen "Basistheorie" entwickelt war und die systematische Fortführung der Gedanken der "Stuttgarter Schule" belegte. Mihály Szívós (Budapest) befaßte sich mit dem "impliziten Wissen" (Polanyi), seinen semiotischen Aspekten und seiner Bedeutung für kulturelle Innovation. Nach der ersten Pause wurde mit weiteren Beiträgen direkt zu Rossi-Landi fortgesetzt. Augusto Ponzio (Bari) rekapitulierte den Komplex Sprache/Ideologie im Rahmen der gesellschaftlichen Reproduktion und zog scharfe Schlußfolgerungen in bezug auf die Deutung gegenwärtiger Verhältnisse. Susan Petrilli (Bari) verglich Rossi-Landis Ansatz zu Sprache, Zeichenarbeit und gesellschaftlicher Reproduktion mit Th.A. Sebeoks Auffassung der "modellierenden Systeme" und letztlich seiner "global semiotics". In intersemiotischem Sinne erscheinen die Gedanken der beiden Geistesgrößen heutzutage als komplementär (auch für die Fundierung einer "Semioethik"). Nach der Mittagspause gelangte Symeon Degermentzidis’ (Kreta) Ausführungen zum Vortrag, der Rossi-Landische/Bernardsche Ansätze zur gesellschaftlichen Reproduktion und kulturellen Innovation mit der Theorie der "structural holes" von Roland Burt verband und hieraus Soziostrategeme ableitete. Matko Mesˇtrovi´c (Zagreb) folgte mit Überlegungen zur Globalisierung, die zugleich eine globale (ökologische, soziale und sozio-reproduktionelle) Krise ist und nach wahrhaft planetarem Denken ruft. Gordana Jovanovi´c (Belgrad) diskutierte sodann die Herausforderungen der "kulturalistischen Wende" und arbeitete deren zunehmende Ambivalenzen heraus. Madeleine Schechter (Tel Aviv) folgte mit intersemiotischen Überlegungen zum Ganzen und seinen Teilen sowie insbesondere zur Liminalität (also zu den sehr wichtigen Zwischenzonen). Igor Zatsman (Moskau) schloß ab mit der Präsentation eines semiotischen Drei-Ebenen-Modells der Kommunikation, in dem es um die Relation Realität/Datenverarbeitung ging (Begriffe/Objekte/digitale Codes).

Die Subsektion "Art & Aesthetics" (10.12.), geleitet von Gloria Withalm (Wien), bestand aus vier Vorträgen, die vor allem auf kulturelle Innovation fokussierten. Peter Zajac (Bratislava) rekapitulierte das Wechselspiel der verschiedenen Ästhetiken in den letzten zwei Jahrhunderten und favorisierte für neuere Tendenzen die Bezeichnung "Ästhetik des Schwingens" (als Antwort auf die Avantgardeästhetiken). Marius Velica (Galati) befaßte sich mit den visuellen, insbesondere printmedialen Zeichen und mit deren Wirkweise am Beispiel eines Politikerrücktritts in der britischen Tagespresse, mit Fokus auf Headlines und Bildauswahl. Daina Teters (Riga) sprach über innovative Raummodelle der Avantgarde, über deren Frage nicht nach dem Wo, sondern dem Wie, und den Zusammenhang mit der Selbstschreibung und -findung der Gesellschaft. Die Künstlerin und Verlegerin Ruth Aspöck (Wien) stellte abschließend die Frage "Was ist Kunst?", also nach einem Kernthema kultureller Innovation, und beantworte sie teils mit allgemeinen Überlegungen, teils durch Wiedergabe individueller Erfahrungen. Kunst ist für sie kreative, spirituelle, spielerische Antwort an die Welt.

Gloria Withalm (Wien) moderierte auch die Subsektion "Film Studies" (10.12.) mit vier Beiträgen, deren Thematiken selbst alle auch als Exemplifizierungen kultureller Innovation gelten dürfen. So sprach Judit Bárdos (Budapest) über Eisensteins berühmtes Werk Oktober (1927) und arbeitete dessen originäre vs. nunmehr veränderte Rezeptionsbedingungen und -merkmale heraus (zu letzteren: Stichwort Ironie). Susanna Välimäki (Jyväskylä) untersuchte die homosexuellen Re-Signifikationen/Repräsentationen/Konnotationen der Musik-Komponente in der TV-Serie Angels in America (insbesondere die Charakterisierung der dragqueens). Gabriele Jutz (Wien) beschäftigte sich mit der Kreativität des filmischen Zitats am Beispiel des Found-Footage-Films (der Avantgarde), der auch Fragen des Filmischen an sich aufwirft (Performativität/Iterabilität). Als Demonstrationsbeispiel diente ihr Marilyn x 5 von Bruce Connor. Abschließend befaßte sich Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern) mit dem intensiven zeichenhaften Wechselspiel von Blick, Tanz und Musik (z.B. mit der instrumentalen Charakterisierung der Protagonisten) in Brittens Oper Death in Venice und mit deren Innovationspotential.

Den Vorsitz der Subsektion "Cultural Change" (11.12.) hatte Renée Gadsden (Wien) inne. John Deelys (Houston, TX) Text über die Semiotik der Gemeinschaft bildete den Auftakt; gestützt auf Peirce und J. von Uexküll grenzte er hierin systematisch Tiergesellschaften von menschlichen Gemeinschaften ab. Das Thema von Merja Bauters & Elena Collavin (beide Helsinki) war Kreativität/Innovation in der Gesellschaft, wofür semiotische und sozialpsychologische Überlegungen und Vorschläge vorgelegt wurden. Pia & Sonja Kral (Wien) behandelten sodann in einer "anthropologisch-semiotischen Skizze" zur sozialen Reproduktion die Rollen von Texten, Bildern und Riten; der Fokus lag auf Initiation und Herrscherersetzung. Farouk Y. Seif (Seattle, WA) sprach vor dem Hintergrund von Jean Gebsers "aperspektivischer Welt" über die Widersprüche zwischen gesellschaftlicher Reproduktion und kultureller Innovation und unternahm eine eingehende Hinterfragung des Begriffs "kultureller Wandel". Nach der Mittagspause wurde fortgesetzt mit dem Vortrag von Vassilis Dalkavoukis (Thessaloniki) über die ehemals nomadischen Sarakatsani (Nordgriechenland) und deren "ethno-regional" eingestimmte Reproduktion ethnischer Identität. José Sanjinés (Conway, SC) befaßte sich sodann mit dem semio-kulturellen Innovationspotential von Reisen und legte hierbei eine breite Reflexion von Weltreisenden-Erfahrungen vor (Columbus, Dumas, Moitessier). Rolf-Dieter Hepp (Berlin) folgte mit einer Nachzeichnung von Problemhorizonten semiotisch-epistemologischer Wachsamkeit, zuletzt in scharfer Gesellschaftskritik mit Aufzeigung symbolischer Machtpotentiale und mit zahlreichen in der Diskussion nachgereichten Beispielen.

Die Subsektion "Advertising & Consumption" (11.12.) wurde von Astrid Hönigsperger (Wien) moderiert und begann mit einem Vortrag von Ewa Rewers (Poznan) über die Konsumkultur und deren Konsumtempel (Malls); sie stützte sich auf Bourdieu (kulturelles Kapital) und Featherstone (Konzeptualisierung); im akzelerierten Wechselspiel der Logik der Neuheiten und der Logik der Waren ergeben sich neue soziale Beziehungen im Rahmen einer "kulturell eingebetteten" gesellschaftlichen Reproduktion. Klaus M. Bernsau (Wiesbaden) reflektierte sodann über die Brüchigkeit des angeblich so starken Zeichens genannt "Marke" (brand) und die überhöhten Erwartungen, welche in Marken gesetzt werden. Er führte dies auch auf den Theoriemangel in diesem Bereich zurück. Nicoletta Pancheri (Trento) ging anschließen den Mythen und Utopien nach, die sich in Reklame verbergen bzw. semiotisch expliziert werden können (wie sie z.B. anhand einer Parfümwerbung darlegen konnte).

Die Subsektion "Language & Literature" (11.12.), ebenfalls von Astrid Hönigsperger (Wien) geleitet, begann mit deren eigenem Vortrag, der sich mit dem Rollenwandel von Sprachen im Wandel von Gesellschaften befaßte, mit besonderem Augenmerk auf dem romanischsprachigen Europa. Als Beispiele dienten ihr die gesetzlich festgelegten Minderheitensprachen in Italien. Harri Veivo (Helsinki) thematisierte sodann Reproduktion/Innovation in Avantgardeliteratur, vor allem den Umstand, daß Innovation doch immer auch auf Bekanntes referiert; um Aporieren zu entgehen, wird vorgeschlagen, mit Konzeptionen wie Redistribution, Rekategorisierung, Rehierarchisierung zu operieren. Der abschließende, sehr materialreiche Vortrag von Thomas Northoff (Wien) über neue Graffiti aus den Protestbewegungen führte zur Zusammenlegung der beiden noch tagenden Subsektionen und damit doch zu einer Art Abschlußplenum, in welchem eine letzte Diskussions- und Reflexionsrunde zustandekam. Es herrschte weitgehende Einigkeit über das Gelingen der Sektionsarbeit. Die Problemstellung "Gesellschaftliche Reproduktion und kulturelle Innovation. Aus semiotischer Sicht" wurde so erschöpfend behandelt wie dies in zweieinhalb Tagen möglich ist. Neben theoretischen und Grundlagenblöcken standen solche aus applikativen Bereichen, doch die Verschränkungen zwischen diesen beiden Feldern bestanden sehr wohl, auch innerhalb zahlreicher einzelner Vorträge. Die Semiotik konnte abermals den Beweis ihrer transdisziplinären Qualitäten antreten (wenn man das wohlwollende Feedback der bis zum Schluß zahlreichen Gäste in diesem Sinne als Beleg akzeptiert).

© Jeff Bernard (Institut für Sozio-Semiotische Studien ISSS, Wien)


1.2. Gesellschaftliche Reproduktion und kulturelle Innovation. Aus semiotischer Sicht

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For quotation purposes:
Jeff Bernard (Wien):Bericht: Gesellschaftliche Reproduktion und kulturelle Innovation. Aus semiotischer Sicht. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW:www.inst.at/trans/16Nr/01_2/benard_bericht16.htm

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