Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. August 2006
 

2.1. WIEDERHOLUNG ALS ERNEUERUNG: Innovationsstrategien der Wiederholung in der Gegenwartsliteratur
Herausgeberin | Editor | Éditeur: Zalina A. Mardanova (Nordossetien-Alanien)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Mediensimulationen

Schrift, Kopie und neue Medien in Botho Strauß’ Die Fehler des Kopisten

Jörg Löffler (Universität Oldenburg)

 

Botho Strauß’ Aphorismenband Die Fehler des Kopisten (1997) verweist bereits im Titel auf das thematische Zentrum, das der mäandernde Text in immer neuen Anläufen umkreist: Wie soll der Künstler mit der kulturellen Überlieferung umgehen, und was bedeutet dies für seinen Anspruch auf Originalität? Scheint die Identifikation von Autor und Kopist auch das reproduktive Moment gegenüber dem produktiven zu betonen, so gehen die beiden Gegenpole im Verlauf des Textes jedoch eine komplexere Verbindung ein. Künstlerische und auch gesellschaftliche Erneuerung sind von der bewußten Aneignung der Tradition gar nicht zu trennen - einer Tradition, die pointiert und polemisch gegen das Innovationspotential der neuen Medien ins Feld geführt wird. Neben die Figuren des eloquenten, medial präsenten Welterneuerers und des »blindlings schaffend[en]« Künstlers der avantgardistischen Moderne treten bei Strauß die postmodernen »Schriftfortsetzer, [...] emsige Mönche, die Geschriebenes mit intelligenten Fehlern kopieren« und dadurch »wie bei den Kopierfehlern in der Evolution« das Neue hervorbringen, das sich dauerhaft durchsetzt.(1)

Nun könnte man kritisch anmerken, daß eine solche Position kulturkonservativ oder gar sozialdarwinistisch ist und nicht ganz zufällig mit biologistischen Metaphern untermauert wird. In Kritik und Forschung ist diese Meinung auch wiederholt vertreten worden, eine Position, die sich scheinbar reibungslos in das Bild des ›neuen Rechten‹ einfügt, als der Botho Strauß spätestens seit der Veröffentlichung seines Essays Anschwellender Bocksgesang (1993) von vielen angesehen wird.(2) Die Fehler des Kopisten ist aber kein medienkritischer Essay, sondern eine Sammlung von Gedankensplittern, von Reflexions-Fragmenten im Sinne der Romantik.(3) Thesen werden hier nicht plakativ vertreten, sondern in einer durchgängig selbstreferentiellen Verfahrensweise gleichzeitig gesetzt und hinterfragt. Diese Bewegung des Textes soll in einem close reading ausgewählter Passagen nachvollzogen werden. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem Innovationsbegriff: Wie unterscheidet sich die (negativ konnotierte) Erneuerung durch die visuellen Medien mit ihren simulierten Wirklichkeiten von der wiederholenden Aneignung durch die Schrift? Und läßt sich diese Unterscheidung immer so klar treffen, daß eindeutige Werturteile möglich sind?

Eine Antwort auf diese Fragen deutet sich bereits im Kontext der oben zitierten Gegenüberstellung des ex nihilo schaffenden Künstlers und des epigonalen »Schriftfortsetzers« an. Hier ist ein längeres Zitat angebracht, denn die rhetorische Performanz der folgenden Passage erschöpft sich nicht im Neologismus eines »aufpfropfenden«(4) Weiterschreibens, das zum Modellfall für postmoderne Autorschaft avanciert:

Die einen sind intelligent und reden eine Welt herbei, die sich bereden läßt. Die anderen sind Künstler, machthungrig, potent, blindlings schaffend, radikal, als gäbe es nicht das Nichts. Daneben werden sich einige wenige zu den Schriftfortsetzern zählen, den emsigen Mönchen, die Geschriebenes mit intelligenten Fehlern kopieren, woraus sich möglicherweise, irgendwann, wie bei den Kopierfehlern in der Evolution, eine neue Gattung des Bemerkens entwickelt. So wie das wachsame Lesen bereits die Spezies »Randläufer« hervorbrachte, jenes schillernde Autor-Insekt, das links und rechts der Buchseiten auf dem Weißen krabbelt und dort, was es von den Texten verzehrt und verdaut hat, prompt in schriftlichen Absonderungen hinterläßt. Sein Organismus ist vor allem kommentatorischer Art und er kann sich nur auf diesen schmalen Rändern der Welt erhalten. (135)

Neben die Referenz auf die mittelalterliche Textüberlieferung tritt eine metaphora extensa aus dem Reich der Insekten, die auf einen kulturalistischen Darwinismus hinausläuft. Das unscheinbare, parasitäre Insekt steht für jene allein überlebensfähige Autoren-Elite, die den Illusionen der Innovation widersteht und stattdessen vom Reichtum der Tradition zehrt. Unter den Bedingungen der Postmoderne ist Schreiben nicht kreativer Akt, sondern kreatürlicher Verdauungsvorgang, und der Autor hinterläßt statt des Werks den Kommentar.(5) Rhetorisch handelt es sich hier um einen Fall von Litotes: Die Verkleinerung zum »krabbelnden« Käfer läuft letztlich auf den Triumph gegenüber dem »potenten«, aber nur scheinbar fruchtbaren Künstlertypus der »radikalen« Moderne hinaus.

Mit der Metamorphose zum lesend-schreibenden Insekt ist es jedoch noch nicht genug. In unmittelbarer Nachbarschaft zum eben zitierten Aphorismus steht ein anderer, der die ›Fallhöhe‹ der Litotes noch deutlicher auf den Punkt bringt:

Jedes Wissen und Gesetz muß nach Vico einmal ernste Poesie gewesen sein. Und ›zersetzt‹ sich wieder zu solcher, möchte man hinzufügen. Um diese Zersetzung zu beschleunigen, gibt es uns Würmer und Mikroben, die Fortschreiber, deren ›fehlerhafte‹ Überlieferung das unpoetische Wissen ihrer Zeit verdirbt, zu Faulstoff wandelt und wieder zur Krume einer poesia seriosa. (134)

Verkleinert bis zum bakteriellen Fäulniserreger, hat der fortsetzende Autor eine Aufgabe übernommen, die höher kaum sein könnte. Der kulturkritische Impetus wird hier ebenso deutlich wie das messianische Sendungsbewußtsein, das die happy few der echten Schriftsteller auszeichnet. Dazu paßt auch die erste Person Plural, mit der sich das Autor-Ich dezent in den Vordergrund spielt.

Trotz der umstrittenen neodarwinistischen Argumentationsmuster und der gerade beschriebenen rhetorischen Herrschaftsgesten würde es zu kurz greifen, Strauß’ Aufzeichnungen aus seinem uckermärkischen Tusculum als pathosgeladene Polemik abzutun.(6) Denn es ist gerade die pointierte Rhetorizität, die den Text vor seiner vorgeblichen Eindeutigkeit bewahrt und ihn zu einem in sich widersprüchlichen verdoppelt. Die leitmotivisch wiederkehrende Insektenmetaphorik etwa sperrt sich einer kohärenten Interpretation, wenn sie das traditionelle Inspirationsmodell des Gedankenblitzes ebenso exemplifizieren kann wie das geduldige Weiterschreiben eines bereits existierenden Textes:

Zarter als der Silberschleier der Halmrispen, dünner als der Rauch in der Waldlichtung ist der Durchschein der Libelle. Ihren Sprüngen aus dem Standflug gleichen im menschlichen Geist die plötzlichen Entschlüsse. Heimlich geht wohl alles Denken in Libellensprüngen, und denkend überwindet es das Jähe. Form und hardware animalisch, Programm und »Inhalt« versuchsweise human. (28)

Die Naturmetaphorik und das darwinistische Kulturmodell lassen also zwei verschiedene Lesarten zu, die sich gegenseitig aufheben: das langsam-stetige Wachstum eines Humus von Texten mit Hilfe der Mägen parasitärer Insekten und der »emsigen« Hände kleiner Kopisten wie auch das »Jähe« des plötzlichen Einfalls, das in der gerade zitierten Stelle zur Bewegungsweise des Denkens an sich erklärt wird. Die Verklammerung von genauer Naturbeschreibung,(7) »versuchsweiser« metaphorischer Übertragung und apodiktischer Setzung, die Strauß’ Text als ganzen charakterisiert, führt zu einer fortgesetzten Interferenz der heranzitierten Schreibweisen und ihrer Gattungsmuster (wie etwa Tagebuchnotiz und Aphorismus)(8) - nicht aber zu eindeutigen Thesen, die sich in einer kulturkonservativen Grundhaltung verfestigen würden.

Von einer tiefgreifenden Widersprüchlichkeit ist auch und gerade das titelgebende Motiv des Kopisten gekennzeichnet. Das zeigt sich am deutlichsten in einem eng damit verwandten Leitmotiv, dem der Simulation. An einer Stelle beklagt Strauß den »Ähnlichkeits- oder Simulationsvirus, der sich unter Menschen und Werken ausbreitet« und bringt dies im darauffolgenden Satz mit den Effekten der neuen Medien in Verbindung: »Oder die mediale Wolke des Als-ob und der Scheinbarkeit, die sich um unsere Anschauung legt und zur vollkommenen Ununterscheidbarkeit von Geschaffenem und Gemachtem führt« (168). Das »Geschaffene« der künstlerischen Fiktion wird dem bloß »Gemachten« der medialen Simulation gegenübergestellt, doch deutet sich die Fragilität dieser hierarchischen Unterscheidung schon im Verlauf der beiden soeben zitierten Sätze an, indem dort gerade die »Ununterscheidbarkeit« der beiden Gegenpole unter den Bedingungen einer postmodernen Medienkultur betont wird. Das Virus der Simulation tangiert neben den ›Machwerken‹ der Unterhaltungs- und Informationsmedien(9) ausdrücklich auch die »Werke« der zeitgenössischen Kunst und Literatur.

Deutlicher wird dies in einem anderen Aphorismus, der sich auf die »jüngere Roman-Literatur« (99) bezieht. Strauß hat an ihr auszusetzen, daß »eine nachschöpferische Unbefangenheit die Werke leichter hervorbringt«, »seitdem die Risiken der Moderne in Vergessenheit gerieten«:

Keine Neuheit, die nicht aufs neue damit verblüffte, wie sie irgendein bekanntes Muster traktiert und erfüllt. Es ist, als liefen alle Schiffe nur noch ein in den großen Hafen der Literatur und kaum eines zöge noch hinaus auf offene See. Oft genug gelingt das täuschend echte Simulieren der Erzählung. Angesichts der gewaltigen Formkräfte, die den Roman zum modernen Kunstwerk machten, bildet die Fortsetzung ein merkwürdiges Gemisch aus Trieb und Könnerei. Die Autoren sind literaturgenetische Gezüchte, sie haben die Welt der Literatur niemals von außen gesehen. (99)

Hier kehren nahezu alle Schlüsselwörter aus dem Aphorismus über die »Fehler des Kopisten« wieder, jedoch in gegenläufiger Bedeutung: Die literarische Moderne erscheint nicht mehr als »blindlings schaffend« (135), sondern als beeindruckend innovativ, während ihre postmodernen »Fortsetz[er]« in einem negativen Sinne als epigonal gekennzeichnet werden. Auch die biologistische Metaphorik steht jetzt unter umgekehrten Vorzeichen. Der »literaturgenetische« Evolutionsschritt, den die zeitgenössischen Romanciers vollzogen haben, führt nur zu ihrer Diffamierung als vom »Trieb« beherrschtes »Gezüchte«.

Die gerade demonstrierte janusköpfige Ambivalenz tangiert selbst das vielgescholtene Hauptargument des Buches, die These vom Verfall der Kultur im Zeitalter der elektronischen Medien. Lassen sich dafür auch noch so viele Beispiele im Text finden, so gibt es auch Passagen, die einer solchen neokonservativen Argumentation explizit zuwiderlaufen. Nicht ohne Selbstironie kritisiert Strauß das regelmäßig wiederkehrende ›Lob der vergangenen Zeiten‹ und setzt zu einer überraschenden Apologie der neuesten Informations- und Kommunikationstechnologie an:

Daß sich alles vom Schlechten zum Schlimmeren entwickle, ist die Torheit der Weisen, seit es Geschichte gibt. Offenbar handelt es sich um ein kulturanthropologisches Ressentiment, das auch die kritischsten und rationalsten Geister befällt, sobald sie vom Leben mehr Vergehen spüren als Werden. [...] Wenn man hingegen in hochzivilisierten Ländern gegenwärtig einen zunehmenden Analphabetismus beklagt, so könnte das auch mit Verlagerungen der Begabung zu tun haben, da in einer Welt sich ausbreitender Piktogramme in Zukunft die Verständigung nicht unabdingbar an die Schriftsprache geknüpft ist. Was wäre verloren, wenn der Mensch wieder in Bildern, in Traumsequenzen dächte, in neuen Hieroglyphen, gleichsam als kehrte ihm mit der digitalen Erscheinungswelt auch eine magische wieder? (138  f.)

Die ›zweite Welt‹ der Mediensimulationen wird also keineswegs nur als defizitäre Kopie unmittelbarer Erfahrung bewertet, sondern kann sogar zu den ursprünglichen Formen symbolischen Denkens zurückführen, zu Mythos und Magie. Strauß bedient sich hier eines genuin romantischen Topos’, nämlich der in die Utopie projizierten Rückkehr zum Ursprung, die nicht begrifflich zu fassen ist, sondern nur in der verschlüsselten Schrift von Traum, Bild und Hieroglyphe. Durch den wiederholten Konjunktiv wird diese unzeitgemäße Anleihe aus einem idealistischen Diskurs jedoch gleichsam in Anführungszeichen gesetzt.

Dies führt schließlich zu der Frage, ob und wie der Text die Motive Abschrift und Autorschaft, die er in immer neuen Anläufen thematisiert, in die eigene Struktur und Performanz hineinnimmt. »Es gibt Zeiten der Transportarbeiter und Zeiten der Gründer. Es gibt Zeiten der Kopisten - die Zeit der alexandrinischen Grammatiker und die der mittelalterlichen Mönche« (170). Wie geht ein solcher textueller »Transportarbeiter«, als der sich Strauß(10) offensichtlich versteht, nun zu Werke, und welche Rolle übernimmt ein Autor, wenn er nichts weiter als ein »Zwischenträger« ist, wie es an anderer Stelle heißt (101)?(11)

Dies zeigt sich vor allem in seinem Umgang mit den Prä-Texten, die er in den eigenen Aufzeichnungen verarbeitet. Der Autor versteht sich vor allen Dingen als Leser,(12) der die Früchte seiner Lektüre in den vielfältigsten Formen dem eigenen Text einverleibt.(13) Neben der diskreten Anspielung für den Kreis der ›Eingeweihten‹ wie im Fall der romantischen Hieroglyphenschrift reicht das Spektrum vom indirekten Zitat unter Angabe des Autors bis zur direkten Übernahme mit Anführungszeichen und Nennung des Buchtitels. So finden sich Quellenangaben wie »Aus einem Aufsatz über die conquista von Hans Georg Kuttner« (110), »Claudel, Schriften zur Kunst« (170) oder »Hofmannsthal, Wert und Ehre deutscher Sprache« (134). Selbst Anleihen aus dem wissenschaftlichen Diskurs wie die Abkürzung »Vgl.« kommen zum Einsatz (vgl. 89), bis hin zu exakten Nachweisen wie »Ecclesiastes 9,12« (82). Es fehlen nur noch die Seitenzahlen und die bibliographischen Angaben, die aber ebenso wie das Mittel der Fußnote programmatisch nicht verwendet werden, so daß der essayistische Gestus gewahrt bleibt - und Raum gelassen wird für ungenaues Zitieren, für die »Fehler des Kopisten«, aus denen das Neue entspringt.

Zum Gestus des Essays gehört auch ein kontinuierliches name dropping aus dem Kreis von Literaten, Philosophen und Wissenschaftlern, sei es in affirmativer Absicht (»Kafka, Rilke, Heidegger«, 107) oder in kritischer (»Hölderlin-Nietzsche-Artaud«, 77), wobei die Kritik eher auf die Vereinnahmung dieser Autoren durch die politische Linke zielt.(14) Manchmal sind es auch nur einzelne Schlagwörter, die in den eigenen Text übernommen werden und durch Wiederholung einen formelhaften Wert gewinnen, wie etwa der polemische Begriff des »Katachronisten«, mit dem Raimondo Panikkar »jene kritischen Gemüter« bezeichnet, »die jegliches Ereignis der Vergangenheit aus heutiger Erkenntnis bewerten« und »Geschichte mit dem Zeitgeist kontaminieren« (111), wie Strauß es paraphrasiert.

Die Fehler des Kopisten ist also nicht nur ein Buch über das Abschreiben als angemessene Form der Autorschaft unter den Bedingungen der mediendominierten Postmoderne, sondern auch ein Buch aus Abschriften in der Nachfolge von Benjamins Passagenwerk.(15) Im Gegensatz zu diesem fragmentarischen Konvolut von Exzerpten legt Strauß jedoch ein durchkomponiertes Werk vor, das trotz des Eigenwerts der Zitate eine klare makrostrukturelle Ordnung erkennen läßt. Doch steht diese Ordnung charakteristischerweise selbst wieder unter dem Vorzeichen der Wiederholung. Die Sammlung von Notaten und Aphorismen gliedert sich in vier mit römischen Ziffern numerierte Teile, die den Ansatz eines narrativen Verlaufs erkennen lassen:(16) Im ersten Teil schildert Strauß, wie er zusammen mit seinem Sohn Frühling und Sommer in ihrem neugebauten Haus in der Uckermark verbringen, im zweiten beschreibt er (ohne jahreszeitliche Zuordnung), wie im vom Zeitgeist getriebenen Berlin dennoch »alles wie immer« (69) bleibt, der dritte Teil spielt wieder in der herbstlichen und schließlich winterlichen Uckermark, während der vierte und kürzeste das Wiedererwachen des Frühlings feiert. Zusammen mit dem Motto von Yves Bonnefoy, das dem Text vorangestellt ist (»Man ist der Sohn seines Kindes, das ist das ganze Geheimnis«, 7), ergibt sich also eine zyklische Struktur, die nicht nur dem Geschichtsbild des Autors, sondern auch seiner Vorstellung eines literarischen ›Recyclings‹(17) entspricht. Der Kreis schließt sich, und der Autor-Kopist kann sich von neuem an sein Pult setzen.

© Jörg Löffler (Universität Oldenburg)


ANMERKUNGEN

(1) Strauß 1997, 135. Im folgenden verweisen Seitenzahlen im Text auf diese Ausgabe.

(2) Als eine Stimme von vielen sei hier Thomas Assheuer zitiert, der die politische Einordnung metaphorisch mit der Kopistenthematik in Verbindung bringt: »Unbegreiflich aber ist die penetrante Politisierung, das mit erhabenen Banalitäten übertönte Raunen von der kulturellen Schicksalsgemeinschaft der Deutschen, für die Strauß Sätze unters Volk bringt, die jede rechtsradikale Postille dankbar in Runenschrift meißeln würde [...]. Strauß, der Kopist des Heils, bleibt der freiwillige Gefangene seines Ressentiments. Seit Jahren hat er sich einer Zweiweltenlehre verschrieben, dem vulgären Manichäismus von ungeweihter Demokratie und gesalbter Dichtung« (1997, 12).

(3) Föls spricht von einem »gleichsam verfertigte[n] Neoromantismus« (2003, 140) und betont damit den ostentativ selbstreflexiven Gestus, mit dem Strauß auf romantische Prä-Texte Bezug nimmt. Dies gilt nicht nur für gattungstypologische und stilistische Züge, sondern auch für gedankliche Übernahmen, was im folgenden noch thematisiert werden soll.

(4) Zur »Aufpropfung« als Verfahren der intertextuellen Bezugnahme vgl. Derrida 1995, 342 und 402.

(5) Fuß bringt diese Konzeption von Autorschaft überzeugend mit dem Motiv der kulturellen Erinnerung in Zusammenhang, verfällt dann aber in Kategorien wie Erfahrung, Existenz und Authentizität, die am Text vorbeigehen und zu bloßen Unterstellungen führen: »Die Umwertung des Kopisten in eine positive Schriftstellerfigur ist durchaus geschickt eingefädelt, denn Strauß kann sein grundsätzliches poetisches Anliegen, die kulturelle Erinnerung, als Motiv vorschieben und seine Arbeitsweise somit rechtfertigen, indem er die Konsequenz des Konzepts suggeriert. Diejenigen Leser und Leserinnen jedoch, die eine ästhetische Erfahrung suchen, wird er auch durch diese theoretische Untermauerung seines Vorgehens nicht über den Konstruktcharakter seiner Texte, der aus existentieller Leere erwächst, hinwegtäuschen können« (2001, 211  f.).

(6) In seinen Ausführungen zum »Lob der Lakonie« bei Strauß unterscheidet Seel scharf zwischen ›Meinungsmache‹ und poetologischer Intention: »Ich rede hier nicht von dem Strauß, der seine kulturkritischen Meinungen gegen andere kulturkritische Meinungen stellt, mit einer weinerlichen Verachtung für das kulturkritische Meinen. [...] Ich rede von dem Autor Strauß, der sich unter der Tarnkappe des Kopisten ein freihändiges Schreiben leistet, das aus heterogenen Reflexen kurze und bündige Texte gewinnt« (1997, 20).

(7) Garbe merkt an, daß sich die zahlreichen Naturschilderungen bereits auf literarische Vorbilder beziehen: »Die Naturbeschreibungen in Die Fehler des Kopisten wirken wie aus zweiter Hand: Motive und Wortwahl sind zum Beispiel Gedichten Stefan Georges und Hugo von Hofmannsthals entlehnt« (2001, 175  f.). Diese Beobachtung läßt sich gleichzeitig als performative Umsetzung von Strauß’ Konzept des Autors als Kopisten interpretieren.

(8) Im Zusammenhang mit der schwierigen Gattungszuordnung spricht Fuß von den »Notatbüchern Paare, Passanten, Niemand anderes, Wohnen Dämmern Lügen und Die Fehler des Kopisten« (2001, 152). Viele dieser »Notate« sind wörtliche Abschriften aus anderen Büchern, worauf noch einzugehen sein wird. Wortmann thematisiert den Montagecharakter des Textes und interpretiert ihn vor dem Hintergrund einer stetig komplexer werdenden Mediengesellschaft. Die Fehler des Kopisten gehöre wie etwa Rave von Rainald Götz (1998) zu jenen »Prosatexte[n] [...], die sich durch eine Montage von Beschreibungen, erzählenden Passagen sowie essayistischen und selbstreferentiellen Reflexionen den besonderen Herausforderungen stellen, die durch die veränderten kulturellen und medialen Bedingungen der Gegenwart gesetzt sind« (2005, 40).

(9) Zur Unterhaltungsfunktion der Massenmedien schreibt Strauß: »Wenn fünfzehn Millionen Deutsche den Spaß wollen, dann vielleicht fünfhundert Ironie und Gescheitheit. Ganze zwei wollen weitere Beweise für die unermeßliche Weite der Melancholie« (100). An solchen Stellen schlägt wieder die elitär-kulturkritische Tendenz durch, die aber nur einen Aspekt des Buches ausmacht.

(10) Über das Verhältnis des ›Erzähler‹-Ichs zum realen Autor schreibt Graff: »Nun hat aber Volker Hage anläßlich eines Vorabdrucks von ›Die Fehler des Kopisten‹ im ›Spiegel‹ Bilder von Strauß veröffentlicht: vor seinem Anwesen, vom Sohn begleitet auf Wanderung durch Feld und Flur, in Berlin vor dem Alexanderplatz und vor einer der ›Kellnerinnen‹, wie sie in ›Die Fehler des Kopisten‹ vorkommen [...] - Bilder, die nahelegen, daß das Buch doch stärker autobiographisch unterlegt ist, als es der Poesie, die es sein will, gut tun kann« (1998, 113). Doch ist die polemische Schlußfolgerung, die Graff aus dieser Hintergrundinformation zieht, mindestens ebenso »feuilletonistisch«, wie der Ton, den er an Strauß kritisiert: »Denn nun stellt sich die Frage, ob die unverhohlen bornierten Äußerungen [...] in diesem Buch [...] tatsächlich nicht bloß Kommentare eines beleidigt in die Provinz gezogenen Zeitgenossen sind; eher schwadronierende Mahn- und Strafpredigten eines feuilletonistischen Leitartiklers zur Jahrtausendwende als poetisch-poetologischer Reflex auf die unmittelbare Gegenwart« (ebd.).

(11) Ein Merkmal dieser Vermittlungsrolle ist der Verlust der eigenen Sprache, also eines der wichtigsten Kennzeichen von Autorschaft seit dem 18. Jahrhundert: »Wer weiß von sich, ob er nicht ein Zwischenträger ist? Wer weiß, welche Nachricht ihm anvertraut wurde und mit welchen Worten verschlüsselt er sie überbringt? Ob nicht das, was er so eigenständig gesprochen glaubt, in Wahrheit eine Botschaft darstellt, von der er nichts ahnt?« (101) Eine performative Umsetzung dieser These fand sich ja bereits in Strauß’ Erzählung Theorie der Drohung, wo der Ich-Erzähler beim Verfassen einer wissenschaftlichen Studie unbewußt wörtlich aus seinen Exzerpten zitiert.

(12) Auch dieser Zug des eigenen Rollenverständnisses wird zur Polemik gegen diejenigen Autorenkollegen genutzt, die sich nach dem Muster des poète maudit zum »Außenseiter-Heros« stilisieren: »Wir Leser-Autoren sind dagegen gemäßigte Naturen. Keine Rigoristen jedenfalls. Wir kennen zuviel Einzigartiges aus vielen Zeiten, als daß wir irgendeiner zeitgenössischen Exzentrizität erhöhte Bedeutung beimäßen« (77).

(13) Graff übersieht die ästhetische Funktion des Montageprinzips, wenn er kritisiert, daß »Strauß’ eigene Rechnung auch poetologisch offen« bliebe: »Die Uckermark, die ›selbstbewußte Nation‹, der Haß aufs Infotainment, [...] wollen sich eben nicht zu jenem Himmelreich der einen Sprache fügen, das Strauß annonciert hat. Es bleibt mehr Wille als Vorstellung. Seine Facetten bleiben Stückwerk« (1998, 125  f.). Ein ›Werk aus Stücken‹ entspricht jedoch gerade dem poetologischen Kalkül, das Texte wie Die Fehler des Kopisten hervorgebracht hat.

(14) Fuß hat die Anzahl der Namensnennungen penibel nachgezählt, bewertet das exzerpierende Verfahren jedoch an Hand von Kategorien wie Originalität und Individualität, die der Text durch seine Performanz bereits widerlegt: »Verdankt sich diese Notatsammlung, in der allein explizit 51 Autoren und eine Autorin genannt werden, ausdrücklich der Tätigkeit des Kopisten, so sind auch alle anderen aphoristischen Texte Botho Strauß’ eher der kommentatorischen Lektüre als einem genuinen Einfallsreichtum der individuellen Schriftstellerpersönlichkeit entwachsen« (2001, 210).

(15) Nach Föls ist Intertextualität bzw. Dialogizität ein Formprinzip, das für Strauß’ Prosa generell charakteristisch ist: »Botho Strauß’ Werk Die Fehler des Kopisten schließt referentiell an Vorgängertexte an und schafft eine Werkdialogizität, die in toto kennzeichnend für Straußsche Prosatexte ist« (2003, 146).

(16) So läßt sich auch das epische Präteritum interpretieren, mit dem das Buch beginnt und schließt: »Auf einem Hügel in der Uckermark baute ich ein weißes Haus« (7); »Die Rehe wollten es nicht glauben, daß so spät noch jemand über den Hügel kommt. Sie verhofften lang, ehe sie in hohen Sprüngen aus der nackten Mulde flohen« (207).

(17) Als Metapher für die gegenwärtige Epoche erscheint der Begriff im Text in pejorativer Bedeutung, was das Verhältnis von Reproduktion und Innovation nur umso ambivalenter erscheinen läßt: »An die Stelle von Neuerung ist das wachsende Raffinement der Verarbeitung des Altbekannten getreten. [...] Alles Neue nur neu aufbereitet, als sei das Siegel der Epoche die Recycling-Anlage« (86).


LITERATUR

Assheuer, Thomas (1997): Botho Strauß verläßt die Stadt, geht aufs Land und bestellt das Feld der Wahrheit: Die Fehler des Kopisten. In: Die Zeit Nr. 18. 12.

Derrida, Jacques (1995): Dissemination. In: Ders.: Dissemination. Wien. 323-415.

Föls, Maike-Maren (2003): Literatur und Film im Fadenkreuz der Systemtheorie. Ein paradigmatischer Vergleich. Hamburg.

Fuß, Dorothee (2001): »Bedürfnis nach Heil«. Zu den ästhetischen Projekten von Peter Handke und Botho Strauß. Bielefeld.

Garbe, Joachim (2001): Zeremonien des Abschieds - Botho Strauß: Die Fehler des Kopisten. In: Hans-Jörg Knobloch u. Helmut Koopmann (Hg.): Fin de siécle - Fin du millénaire. Endzeitstimmungen in der deutschsprachigen Literatur. Tübingen. 171-82.

Graff, Bernd (1998): Die Liebe, das Leben - ein Sprachspiel. Oder: Vom traurigen Kinderglück des Dichters. In: Text + Kritik. H.  81: Botho Strauß. 2. Aufl. 112-28.

Seel, Martin (1997): Einiges zum Lob der Lakonie. Beim Lesen von Botho Strauß’ Die Fehler des Kopisten. In: Neue Rundschau 108. 17-23.

Strauß, Botho (1997): Die Fehler des Kopisten. München.

Wortmann, Elmar (2005): Zwischen Affirmation und Distanz. Rainald Goetz’ Rave und Botho Strauß’ Die Fehler des Kopisten im Vergleich. In: Literatur im Unterricht. H.  1/2005. 39-48.


2.1. WIEDERHOLUNG ALS ERNEUERUNG: Innovationsstrategien der Wiederholung in der Gegenwartsliteratur

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


TRANS       Inhalt | Table of Contents | Contenu  16 Nr.


For quotation purposes:
Jörg Löffler (Universität Oldenburg): Mediensimulationen. Schrift, Kopie und neue Medien in Botho Strauß’ Die Fehler des Kopisten. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/02_1/loeffler16.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 29.8.2006     INST