Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Juni 2006
 

2.3. Liebe in der Dichtung
Herausgeber | Editor | Éditeur: Ulrich Müller (Universität Salzburg)

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"Nichts bleibt mir ohne Dich"

Zu einem Gedicht von Viktor Sosnora

Ruslana Berndl (Wien)
[BIO]

 

Die Liebeslyrik in Russland, in deren Kontext das zu analysierende Gedicht von Sosnora in den 70er Jahre des 20. Jahrhunderts entstand, hat eine jahrhundertealte Tradition, die immer wieder große Wandlungen durchgemacht hat. In den 70er Jahren ist sie von solchen Namen wie Bella Achmadulina, Joseph Brodsky, Andrej Voznesenskij, Arsenij Tarkovskij, Evgenij Evtuschenko, Alexandr Kuschner geprägt. In der Bardenkultur sind wichtige Vertreter Bulat Okudshava und Vladimir Vysockij. Und mit der Popmusik der 70er Jahre gibt es in Russland auch eine neue Öffentlichkeit, eine neue Form des Kommunizierens.

Diese russische Liebeslyrik der 70er Jahre ist geprägt von Lebenslust und Sinnlichkeit, aber auch von Eifersucht und Tragödien. Es ist eine Lyrik des Nach-"Tauwetters", die Alltag neu versteht und auch interpretiert und sich neuer Medien zu bedienen beginnt. Es ist noch die Zeit der hohen Auflagen, in der Literaturzeitschriften ein Millionenpublikum erreichten, aber auch die Zeit, in der viele Dichter nicht publiziert wurden.

 

Viktor Sosnora

In diesem widersprüchlichen literarischen und gesellschaftlichen Umfeld ist das Gedicht von Viktor Sosnora zu interpretieren. Viktor Sosnora wurde 1936 in Alupka (Krim) geboren. Die Biographie von Sosnora ist durch ein Leben gekennzeichnet, das ihm viele Zugänge zur Wirklichkeit und Virtualität ermöglichte. Als 8-jähriges Kind war er in einem Partisanentrupp, lebte dann in verschiedenen Städten, studierte an der philosophischen Fakultät, die er nicht abgeschlossen hat, schließt aber das Fernstudium der philologischen Fakultät ab. Oft ließ er sich von der Kultur des alten Russlands inspirieren, von klassischen Sprachen wie Griechisch und Latein. Im Jahre 1958 wurde sein erstes Gedicht publiziert, und im Jahre 1962 ist der erste Gedichtband "Janwarskij liwen" (mit einem Vorwort von N. Ageev) erschienen. Ageev hat Sosnora seinen darauffolgenden Gedichtband - "Triptich" - gewidmet.

Viele Jahre wurde Sosnora in der UdSSR nicht publiziert. Der erste Prosaband "Vlastiteli i sudby" erschien im Jahre 1986 (20 Jahren nachdem er geschrieben wurde). Sosnora übersetzte Catull, Oskar Wilde, Edgar Poe, Aragon, Allen Ginsberg und andere ins Russische. Dreißig Jahre leitete er die Literaturstudios in Leningrad. Er veröffentlichte acht Gedichtbände und zwei Prosabücher (den Erzählungsband "Der fliegende Holländer", 1979, und den Roman "Dom dnej", 1990). Außerdem erschien im Verlag "Ardis" (USA) der Band "Izbrannoje" und im Verlag "Posev" (BRD) ein Prosaband.

Sosnora unterrichtete an der Neuen Pariser Universität (Vincennes) und in Vroclav.

Die Gedicht- und Prosabände sind in den USA, Deutschland, Tschechien, der Slowakei, in Bulgarien, Ungarn, Italien, Frankreich und anderen Ländern in Übersetzungen erschienen. Er ist auch Grafiker und Gestalter seiner Bücher. Sosnora ist der Apollon Grigorjev-Preisträger für den Gedichtband: "Kuda poschel? I gde okno?"

Jetzt lebt er in Sankt Petersburg. 2004 bekam er den Andrei Bely-Literaturpreis, den angesehensten nicht-staatlichen russischen Literaturpreis.

Einige der wichtigsten seiner Veröffentlichungen sind:

"Janwarskij liwen", 1962

"Triptich", 1965

"Wssadniki", 1969

"Aist", 1972

"Lunnaja pesn", Leningrad 1982

"Isbrannoje", Ann Arbor 1987.

Als Literat ist Sosnora Autodidakt. Er gilt als Neoromantiker. Einen großen Einfluss hatte auf seinen schöpferischen Werdegang Lilja Brik. Sie war für ihn gewissermaßen eine Stimmgabel, die das Wesen und die Musik des Gedichtes absolut genau spüren konnte.

Die Poesie von Sosnora beruht auf dem Klang, ist sozusagen für das Gehör bestimmt. Es ist Poesie für Sybariten,die man degustieren kann.

Festzustellen ist eine poetische Nähe zu der Poesie von frühen Gedichten von Majakovskij. Vladimir Novikov bemerkt, dass "nicht nur die Experimentalität mit dem Wort-Gedicht Sosnora mit Majakovskij verbindet, sondern es gibt auch eine unerwartete Verbindung durch den lyrischen Held voll von Mut und Zärtlichkeit"(2).

Der Inhalt tritt oft in den Schatten zu Gunsten der Allmächtigkeit von Rhythmus und Klang. Die Literatur, die die Fragen stellt und soziale Programme festlegt, ist für Sosnora keine Literatur.

Es gibt zwei Hauptthemen, die Sosnora interessieren: die Liebeslyrik und Gedichte über Dichtung und Dichter.

Das Thema "Frau" ist für Sosnora eines der zentralen Themen. Dieses Thema ist voll von Episoden, Verbindungsgliedern. Seine Liebeslyrik hat einen hohen Anspruch auf Tragik. "Das lyrische ‚Du’ ist oft identisch mit der Muse. Die Liebeslyrik von Sosnora in einem alltäglichen, psychologischen Kontext wahrzunehmen, wäre laut Novikov daher falsch"(2).

Sosnora meinte: "Die besten Zuhörer sind alte Frauen und Kriminelle. Deren psychischer Haushalt ist äußerst seltsam: ohne vielleicht eine einzige Zeile im ganzen Leben gelesen zu haben, hören sie fast keine Worte, aber verstehen den inneren musikalischen Aufbau des Gedichtes, begreifen sofort das Wichtigste" (3).

Die größte Sünde, die ein Dichter begehen kann, ist nach Sosnora in "Offenbarung" von Ioann Bogoslow zu finden: "Ich habe gegen dich jenes, dass du deine erste Liebe verlassen hast" (4).

Die Gedichte von Sosnora sind mit dem Leben der Buchstaben versehen. Sie sind buchstäblich. Sie verstecken sich nicht in den Reihen der erstarrten Wörter. Das Wort von Sosnora ist sehr plastisch und pittoresk. Er verbindet auf ungewöhnliche Art und Weise Gedanken und Worte, verwendet Bild-Paradoxe. Die Gedichte sind voll von Bildern, die aus dem Kontext ausgerissen wurden. Und diese Bilder und Realien sind in einem Fluss des disharmonischen Seins. Oft wird die Syntax verletzt, und aus unzusammenhängendem Gemurmel und Wehklage, aus Ausrufen und Flüstern entsteht der Sinn. Das Gedicht besteht aus Fetzen von Assoziationen, oft aus den Bruchstücken der Geschichte. Und dieses Chaos des Sinnes spiegelt die historische Katastrophe wider.

Sosnora verwendet eine Methode, die die Wahrnehmung des Textes erschwert: komplizierte Tropen, die Verletzung der richtigen Wortkombinatorik (Anakoluthe), einen mißklingenden Reim, mit der Stütze auf Konsonanten, was bei Majakovskij so grundlegend war.

Vladimir Novikov, der einzige Sosnora-Forscher, sieht bei ihm "das Stürmen des Weltalls des Wortes und die Arbeit an den äußersten Grenzen der Erneuerung der poetischen Sprache" (2).

Die früheren Gedichte von Sosnora sind romantisch und lyrisch. Sie sind oft in der ersten Person geschrieben, was das Gewicht der Person hervorhebt. In den späteren Gedichten kommuniziert er seltener mit dem Leser. Sein persönliches "Ich" wird oft zu einem "wir". Er versucht den Sinn im Chaos der Welt zu finden, indem er einen neuen Stil anwendet, der auf unerwarteten Bildern und Metaphern, die oft abschreckend sind, basiert. Er spielt mit der Phonetik (in der Tradition von Ageev) und Semantik (in der Tradition von Chlebnikov). Oft können seine Neubildungen uns gar nichts sagen, seine Wortkombinationen findet man in keinem Wörterbuch. Man muß sie aus dem Kontext verstehen. Beim Auslassen von Subjekten, Prädikaten und Präpositionen reduziert er Sätze zu Fragmenten oder kurzen Ausdrücken. Und seit vierzig Jahren ist er sich selbst in dieser Tradition treu.

Laut Sosnora ist "die Poesie die Säuberung des Seins durch das Wegfegen des gesunden Menschenverstandes. Das Instrument dieser Säuberung ist die Metapher, einfacher gesagt eine Methode, die es erlaubt, das Allgemeine als Persönliches, das Gewohnte als Einzigartiges zu sehen" (1). Das philosophische Axiom von Sosnora besteht in der Verbindung des Nichtvereinbaren (1). Sosnora bevorzugt die Sprache der Nichtentsprechungen vor der Sprache der Entsprechungen. Diese Ästhetik zeugt vom Verstehen der Gegensätze (Gegensätzlichkeiten). Er bewahrt die kindliche Impulsivität und spielt mit den Nichtentsprechungen.

Laut Sosnora ist "nur eine solche Sprache gut, die durch eigene persönliche seelische Erfahrung bestätigt ist und durch sie hervorgerufen wird. Das echte Gehirn hat Krümmungen" (die Maxime von Sosnora) (1). "Für den Dichter", meint Sosnora, heißt "nicht nach der Lüge zu leben", "nach der Metapher zu leben" (1). Er gebraucht nicht zu oft Metaphern, sondern ihre phonetische Metonymie, die räsonierende Assonanz.

Sosnora nennt sich "Hasser der Realität um des Lebens willen" (1). Mit seinen Gedichten befreit er unser Denken von schmutzigen und schrecklichen Momenten, da wir oft mit fremden Augen beobachten und ohne Sinn. Laut Sosnora ist der Dichter einer, der "nicht umsonst sieht" (1).

Die Literatur von Sosnora steht in enger Verwandtschaft mit Chlebnikov, Zwetajeva, Sabolozkij. Die Sprache reinigt sich selbst, die Syntax bekommt eine neue Energie, die musikalische Natur seiner Lautbilder kann immer wieder festgestellt werden.

Aus der Sprache, für sie und mit deren Hilfe werden neue Inhalte geholt. Für Sosnora ist der Prozess des Bauens wichtiger als Ergebnis. Er sucht wie ein moderner Maler die Stütze in der allgemeinen Wahrnehmung von Farbe und Komposition, die Bedingtheit und Verwischtheit eines konkreten Bildes zulässt.

Sosnora besteht auf Einem: "Das geistige Leben des Menschen sollte unabhängig von den äußeren Bedingungen der Existenz erleuchtet sein. Eine romantische Idee? Aber, jedoch, niemand hat bewiesen, dass die Romantik verstorben sei" und "wir leben nicht in einer faden Realität, sondern in einer wunderbaren und wütenden Welt" (1).

 

Das Gedicht "Письма тебе" (Вариции )

Das zu interpretierende Gedicht ist in zwei Quellen enthalten:

"Lunnaja pesn"

"Devjat knig"

Das Gedicht trägt verschiedene Titel:

"Pisma tebe" "Briefe an Dich" und

"Pisma iz lesa" - "Briefe aus dem Wald"

 

"Письма тебе"
(Вариции)

1

Лист желтый на небе не желтом,
но и не синем.

Иголочки с блеском у елей, а паутина -
как пена.

Воздух воздушен, и где-то там плачут
пчелы.

Вот ветерок и листья еще
пролетели

(помни полет стрекозы и ее кружевца -
крылья).

Солнце все засевает солнечным
цветом.

Вот я уйду во время луны
в небе.

Запах звериный, но из зверей
лишь я
не вою.

В этом лесу я как с тобой, но ты -
где ты?

Хоть бы оставила боль, но и боль -
былая.

И, запрокидывая лицо свое
к небу,

Я говорю: ничего без тебя
мне нету.

 

Briefe an dich
(Variationen)

I

Gelbes Blatt an einem Himmel, der nicht gelb ist,
auch nicht blau.
Tannen mit blickenden Nadeln und eine Spinnwebe
wie Schaum.
Luftig ist die Luft, und irgendwo greinen dort Bienen.
Da - ein Windchen, und noch ein paar Blätter
- vorbei
(denk an den Flug der Libelle, an ihre geklöppelten
Flügel).

Alles übersät die Sonne mit sonnigem
Schein.

Da geh ich fort zur Zeit des Monds
Am Himmel.

Tierischer Ruch, doch unter den Tieren
- ich allein
heule nicht.

In diesem Wald bin ich wie mit dir, doch du -
bist wo?

Wäre der Schmerz auch vergangen -
Gewesen wäre er doch.

Und mein Gesicht zum Himmel
reckend

sage ich: nichts bleibt mir
ohne dich"

(Übersetzung: Felix Philipp Ingold: (5)).

Dieses Gedicht mit den zwei Titeln kann man in zwei Teile unterteilen. Der erste Teil ist leicht und undramatisch. Er ist durch ziemliche Emotionslosigkeit charakterisiert.

Das Gedicht ist durch Naturdarstellung geprägt. Die Naturelemente sind: Blatt, Himmel, Tannen, Nadeln, Spinnwebe, Schaum, Luft, Bienen, Wind, Blätter, Libelle, Sonne, Mond, Wald. Die Nicht-Dramatik entsteht durch folgende Zeile: Вот ветерок и листья еще пролетели : Da - ein Windchen, und noch ein paar Blätter - vorbei. Ein Windchen also und kein Wind, kein Sturm bringen die Veränderung. Besondere Wörter charakterisieren den Wald wie zum Beispiel das Adjektiv "gelb". Wald ist hier Metapher und stellt die Nicht-Dramatik dar. Die Metapher Wald ist durch das Adjektiv "gelb" charakterisiert. Gelb ist im Wald eine Farbe des Herbstes, verbunden mit einem unbestimmten Himmel, der weder gelb noch blau ist. Dieser Himmel kommt zur Zeit des Mondes vor und beim Gesicht-Recken, mit dem sich das lyrische "Ich" ihm zuwendet.

Die Natur in diesem Gedicht wird ironisch behandelt:

(помни полет стрекозы и ее кружевца -
крылья ).

(denk an den Flug der Libelle, an ihre geklöppelten
Flügel).

Der Flug mit den merkwürdigen, geklöppelten Flügeln weist auf einen gekünstelten Flug hin.

Воздух воздушен -"Luftig ist die Luft": das ist ein romantisches Bild, aber eine ironische, eine merkwürdige Redundanz, eine Identität der Identität.

и где-то там плачут
пчелы.
und irgendwo greinen dort Bienen -
Запах звериный, но из зверей
лишь я
не вою .
Tierischer Ruch, doch unter den Tieren
- ich allein
heule nicht.

Es ist hier die Selbstironie zu spüren, indem Sosnora auf andere verweist, in diesem Fall zum Beispiel auf die Bienen, die greinen. Er zeigt uns damit, wie er den Schmerz selber fühlt.

Erst aus dieser Opposition zur Nicht-Dramatik ergibt sich die Dramatik des Gedichtes. Diese Opposition wird im Gedicht durch das Schlussbild erzeugt.

Das Gedicht endet mit der Auflösung des Objektes, mit der Selbstnegation:

Я говорю: ничего без тебя
мне нету.
sage ich: nichts bleibt mir
ohne dich.

Also, sie ist weg. Er hat nichts mehr.

Dieses Gedicht hat einen erzählenden Charakter und weist eine melodische Vielfalt auf.

Einen warmen Ton erreicht Sosnora durch ausdruckvolle Mittel. Es verwendet in dem Gedicht viele Farben, aber keine dunklen Farben; hier herrscht der sonnige Schein, und aufgrund dieses Scheins ist der Schmerz als Kontrast noch stärker zu spüren.

Die Individualität von Sosnora, sein poetischer Stil äußert sich stark in seinen bilderreichen, unerwarteten Epitheta. Durch diese Epitheta (Beiwörter) äußert Sosnora sein Verhältnis zum Gegenstand, über den er spricht. Zum Beispiel:

Лист желтый - "Gelbes Blatt": manche Forscher geben dem Epitheton "gelb" die Bedeutung von "goldig", "goldfarben"; das ausdruckvolle Epitheton Запах звериный - "Tierischer Ruch"; Воздух воздушен : "Luftig ist die Luft", diese Beifügung (Attribut) übt Einfluss auf die Ausdruckskraft des Wortes "Luft" aus. Dieses Epitheton gibt dem Gegenstand eine individuelle Schattierung, wirft auf ihn ein bestimmtes Licht und macht ihn stilistisch bedeutend.

Sosnora verwendet hier einen nicht traditionellen Vergleich: плачут пчелы - "greinende Bienen". Auf den ersten Platz ist die übertragene Bedeutung gesetzt. Die poetische Wirksamkeit dieser Redewendung besteht in der emotionellen Schattierung und der Anschaulichkeit.

In der Zeile: "Wäre der Schmerz auch vergangen - Gewesen wäre er doch" - findet eine tiefe Reflexion statt, die davon zeugt, dass sogar der Schmerz auch vergangen ist, dass die Geliebte ihm nicht einmal den Schmerz hinterlassen kann. Das Durchdringen der Trauer mischt sich hier mit der romantischen Enttäuschung. Der Schmerz ist gerade deshalb zu spüren, weil er davon träumt, dass sie ihm zumindest den Schmerz hätte zurücklassen sollen. Dadurch wird das Nichts zum stärksten Moment, das im Gedicht wie eine Selbstauslöschung wirkt.

Die Wortverbindung плачут пчелы - "greinende Bienen" - verwendet Sosnora für die Vielfalt der Lautgestaltung. Er offenbart den Sinn durch den Klang. Es ist eine Annäherung der Worte nach dem Klang. Manchmal kann dieses Moment auch zu direkt vorkommen. Zum Beispiel:

боль -
былая .

Die formale Suche von Sosnora entspricht der Weltanschauung vom Anfang des 20. Jahrhunderts, oft auch des 19. Jahrhunderts. Das Weltall dreht sich um das Ich des Autors, aber es ist doch Teil vielfältiger Texte. Sosnora: "Man muß mich lesen, so wie ich schreibe - als Bücher. Ich schreibe keine einzelnen Gedichte, ich schreibe entweder nichts, oder ein Buch"(4). In einem seiner Essays spricht er über die Bevorzugung der Metapher vor der Logik.

Es ist sehr wesentlich, auch in diesem Falle, den russischen Originaltext zu kennen, wenngleich vieles sich auch mit der Übersetzung hervorragende vermitteln lässt. Der Rhythmus bleibt bei der Übersetzung des Gedichtes praktisch in allen Fällen erhalten. Die russischen Wortgruppen entsprechen fast in allen Fällen den deutschen Wortgruppen. Die Übersetzung ist oft "buchstäblich", wörtlich. Der Übersetzer verwendet "greinen die Bienen" (greinen: plärren, flennen, klagen: хныкать , ныть ) für das Russische " плачут Пчелы " - "weinen die Bienen", "das Gesicht recken" für " запрокидывать лицо " - "das Gesicht zurückwerfen". Das sind äquivalente, gleichwertige Bilder. Sowohl im russischen Text als auch in den deutschsprachigen Übersetzungen gibt es seltsame, unerwartete Wortkombinationen wie zum Beispiel: "Himmel, der nicht gelb ist", "luftige Luft".

Aber es gibt auch wesentliche Unterschiede. Zum Beispiel in den Zeilen: Иголочки с блеском у елей , а паутина - как пена . - "Tannen mit blickenden Nadeln und eine Spinnwebe wie Schaum." Im russischen Original sind es aber glänzende Nadeln. In der deutschsprachigen Übersetzung verweisen die blickenden Nadeln auf den Surrealismus. Im Russischen ist es eine Metapher für den "Morgen". Eine Spinnwebe wie Schaum vermittelt ein Bild von Feuchtigkeit. Im Russischen kann das Bild mit den glänzenden Nadeln auch sehr junge, frische Nadeln bedeuten. Damit ergeben sich aber zwei völlig verschiedene Wortwelten, die für die Interpretation des Gedichtes von großer Bedeutung sind. Die "blickenden Nadeln" führen hier in die Irre.

In den Zeilen " Вот ветерок и листья еще пролетели " gebraucht der Übersetzer weiters für die Zeile 8 " пролетели " das einfache Adjektiv "vorbei", das bedeutet: "von weiter hinten kommend in (etwas) schnellerer Bewegung, ein Stück neben jemandem, etwas her und weiter nach vorn; vorüber". Die deutschen Verben zeigen zudem in der Vergangenheit keinen Unterschied zwischen dem vollendeten Aspekt (das heißt der einmaligen Handlung) und dem unvollendeten Aspekt (der sich wiederholenden Handlung). Die Vergangenheit wird daher in der Übersetzung nicht grammatikalisch ausgedrückt, sondern mit dem adjektivisch gebrauchtem Wort "vorbei".

In der 8 und 9 Zeile ( помни полет стрекозы и ее кружевца - крылья ) gebraucht der Übersetzer ("denk an den Flug der Libelle, an ihre geklöppelten Flügel") für das Substantiv кружевца , das im Russischen in der Diminutivform im Plural ("Spitzchen") steht, das Adjektiv "geklöppelt". Es ist ein Synonym für das bürgerliche Leben.

Der Übersetzer verwendet in der 15. Zeile ein ganz ungewöhnliches Substantiv: "Ruch" statt "Geruch", da "Ruch" hier vom Rhythmus besser passt.

In der Zeile - Вот я уйду во время луны в небе : "Da geh ich fort zur Zeit des Monds am Himmel" - wird im Russischen das abgeschlossene Futur verwendet.

In der Zeile 20 und 21 " Хоть бы оставила боль , но и боль - былая " - "Mindestens ließest (hättest) du mir den Schmerz (gelassen), aber auch der Schmerz - von früher", gibt dies der Übersetzer durch die passive Konstruktion wieder: "Wäre der Schmerz auch vergangen - Gewesen wäre er doch". Es entspricht nicht ganz dem Inhalt des Bildes von Sosnora. Im Gedicht von Sosnora bezieht sich der Autor selbst auf die Frau, die ihm den Schmerz hinterlassen würde, der Übersetzer mildert und bezieht den Schmerz auf sich selbst.

Das Bild in der deutschsprachigen Übersetzung besagt, dass es keinen Schmerz gab. Das russische Bild vermittelt hier das Verstehen, dass es den Schmerz gegeben hat, und es ihn also nicht gibt. Also, als ob er nicht leiden würde. Aber ist es nicht Ausdruck eines Leidens, wenn man sich wünscht, dass sie ihm mindestens einen Schmerz hinterlassen könnte?

Die Schönheit der Übersetzung von Felix Philipp Ingold liegt in der fast wörtlichen Wiedergabe der russischen Konstruktionen (in Verbindung mit der Kürze, Einfachheit, der Wahl von höchst genauen Wörtern). Die Qualität der Übersetzung von solchen Texten hängt ab von der Aufmerksamkeit des Übersetzers als Leser, von seiner Aufmerksamkeit für die Abweichungen des Autortextes von der Literaturnorm, auch der Sprachnorm, vom Können in der ersten Linie, diese Abweichungen, sich selbst zu erklären.

Zusammenfassung

Das Gedicht von Viktor Sosnora steht im Kontext der russischen Liebeslyrik der 70er Jahre, nimmt aber seinen besonderen Platz dadurch ein, dass seine Dramatik durch die Negation der Dramatik entsteht. Im russischen Originaltext wird im Gedichttitel einmal die Person (das lyrische Du), einmal die Metapher (der Wald) hervorgehoben. Beide Elemente sind auch im Text eng miteinander verschränkt, und durch die Wald-Metapher wird die Beziehung charakterisiert. In der Übersetzung von Felix Philipp Ingold wird das russische Gedicht hervorragend wiedergegeben und weicht nur im Fall der "blickenden Nadeln" vom Original ab (in diesem Fall aber wesentlich).

© Ruslana Berndl (Wien)


LITERATUR

* Die Ziffern der Fußnoten im Text sind nicht fortlaufend, sondern beziehen sich auf die Ziffern der Literaturliste.

(1) Арьев, Андрей: Ничей современник. Виктор Соснора: случай самовоскрешения. "Вопросы литературы", 2001, № 3 , ХХ I ВЕК: ИСКУССТВО. КУЛЬТУРА. ЖИЗНЬ . http://magazines.russ.ru/voplit/2001/3/ar.html

(2) Новиков, Владимир: Против течения ( Виктор Соснора). Русская поэзия 1960-х годов как гипертекст. http://www.ruthenia.ru/60s/kritika/novikov.htm

(3) ПОСЛЕДНИЙ ВСАДНИК ГЛАГОЛА (Интервью с Виктором Соснорой в "Литературной газете", 15.01.92, № 3, с. 5). http:// www. ruthenia. ru/60 s/ sosnora/ literaturka-92. htm

(4) Широков, Виктор: Виктор Соснора. Верховный час, «Знамя» 1998, №9. http:// magazines. russ. ru/ znamia/1998/9/ nabl1. html

(5) Thümler, Walter [Hrsg.]: Moderne russische Poesie seit 1966: Eine Anthologie. In Übertragungen von Sascha Anderson u.a. Berlin: Oberbaum, 1990, 401 S. (Übersetzung des Gedichtes von Viktor Sosnora: Felix Philipp Ingold.)


2.3. Liebe in der Dichtung

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For quotation purposes:
Ruslana Berndl (Wien): "Nichts bleibt mir ohne Dich". Zu einem Gedicht von Viktor Sosnora. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/02_3/berndl16.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 29.8.2006     INST