Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. August 2006
 

2.3. Liebe in der Dichtung
Herausgeber | Editor | Éditeur: Ulrich Müller (Universität Salzburg)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Liebeslyrik - "Bruchstücke einer großen Konfession"

Ulrich Müller (Universität Salzburg)

  

 

1. Liebe in der Dichtung

Das Thema der Liebe, welche in ihren vielfältigen Ausprägungen das Dasein des Menschen bestimmt, ist demgemäß auch in der Dichtung aller Epochen und Sprachen behandelt worden, und zwar auf vielfältige Weise. Liebe ist ein zentrales Motiv der gesamten Weltliteratur.

Zum einen werden dort allgemein-menschliche Universalien thematisiert, neben Liebe auch Haß, ferner Freude, Trauer etc. Zum anderen sind aber die speziellen Formen der Gesellschaft und Epoche prägend wichtig. Insofern ist zu erklären, daß die immer gleichen oder ähnlichen Grundthemen in stetig neuen Variationen behandelt werden.

Die Art und Weise, wie das Thema Liebe in der Dichtung dargestellt wird, hat natürlich mit der Person der Autorin oder des Autors zu tun, mit seinen/ihren Erfahrungen, Vorstellungen, Wünschen oder Ängsten. Also nicht im Sinne von autobiographischer Darstellung, also aus dem wirklichen Leben der jeweiligen Autorin bzw. des jeweiligen Autors. Ich will hier nicht auf die etwas seltsame Diskussion von vor einiger Zeit eingehen, ob es Autorinnen oder Autoren überhaupt gäbe, und dies speziell in den älteren Literaturen, etwa im Mittelalter. Sondern ich will mich mit der Frage beschäftigen, ob Liebeslyrik früherer Autoren etwas mit deren Person zu tun hat, genauer gesagt, ob sich mittelalterliche Liebeslyrik in dieser Hinsicht von der Erlebnislyrik der Goethezeit unterscheide, die ja nach einem Ausspruch Goethes auch "Bruchstücke einer großen Konfession" sein soll.

Genauer gefragt: Besitzen mittelalterliche Liebesgedichte eine innere Authentizität, die mit derjenigen etwa von Goethes Sesenheim-Liedern oder Römischen Elegien vergleichbar wäre. Oder, noch griffiger gefragt: Gibt es im Mittelalter so etwas wie Erlebnis-Lyrik, also Gedichte, die nicht nur einem Autor zugeschrieben werden, sondern die auch eine biographische Authentizität besitzen? Ich kann dieses Problem im vorliegenden Kontext allerdings nur anreißen, bin aber darauf an anderen Ort mehrfach und genauer eingegangen.(1)

 

2. Erlebnislyrik versus Rollenlyrik

Die eben gestellte Frage schien in letzter Zeit klar beantwortet, nämlich mit: Nein.

Dazu ein ganz kurzer Rundblick: Die Definition von Erlebnislyrik lautet im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, und zwar durch Marianne Wünsch (Band I, 1997, S.498-500): Form einer Lyrik, die (tatsächlich) ein individuelles Erlebnis des Autors ausdrückt (ältere Variante des Begriffs) oder die Fiktion eines solchen Erlebnisausdrucks aufbaut (neuere Variante des Begriffs)"; und anschließend wird dort verwiesen auf: "bestimmte Lyrikformen der Goethezeit und des 19.Jhs. [....], "in denen ein Ich sich auf zumindest scheinbar individuelle Weise über eigene Zuständlichkeiten in einer mehr oder weniger spezifizierten (Um-)Welt auf eine Weise äußert, daß der Eindruck eines biographisch-psychischen Substrats entsteht".(2) Man darf dies als derzeitigen Forschungskonsens werten, und Ähnliches steht etwa auch im Metzler Literatur Lexikon (1990).

"Rollenlyrik" wird - jetzt im Metzler Literatur Lexikon (Hrsg. von Günther und Irmgard Schweikle, 2., überarbeitete Auflage Stuttgart 1990, S.394f.) - definiert als: "Sammelbezeichnung für lyrische Gedichte, in denen der Dichter eigene oder nachempfundene Gefühle, Gedanken, Erlebnisse oder Reflexionen einer Figur, meist einem für seine Zeit kennzeichnenden Typus (Liebender, Hirte, Wanderer usw.) in Ich-Form (Monolog) in den Mund legt" (S.394). Und es heißt anschließend ausdrücklich: "Weitere Höhepunkte der abendländischen Rollenlyrik sind die Minnedichtungen der Trouvères und Trobadors, der deutsche Minnesang, die mittellateinische Vagantenlyrik, die Lyrik Petrarcas und des Petrarkismus ...".

Dementsprechend stellt Ingrid Kasten in ihrem Artikel "Minnesang" (wiederum im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft II, 2000, S.607) im Abschnitt "Forschungsgeschichte" kurz und bündig fest: "Das Verständnis des Minnesangs als ‘Erlebnisdichtung’ wurde mehr und mehr von dem Konzept der ‘Rollendichtung’ abgelöst".

So weit, so gut - oder: So weit, so schlecht?

 

3. Liebeslyrik im Mittelalter: Ulrich von Liechtenstein und Dante

Aber wie war wohl das Verständnis mittelalterlicher Liebeslyrik zur damaligen Zeit? Wir können das Publikum natürlich nicht mehr befragen, doch gibt es einige Hinweise darauf, wie mittelalterliche Liebeslyrik vom damaligen Publikum verstanden und aufgefaßt wurde. Immerhin zwei wichtige und repräsentative Autoren des 13. Jahrhunderts sagen deutlich, wie ihre Liebesgedichte von ihnen gemeint sind: Zum einen der Steirer Adlige Ulrich von Liechtenstein in seinem Frauendienst, zum anderen Dante in seiner Vita Nuova. Die genannten Texte sind eine Verbindung von Ich-Erzählung und Gedichten, zumeist Liebesgedichten. Beide Autoren vermitteln dort ihrem Publikum, daß die jeweiligen Gedichte aus einer bestimmten biographischen Situation von ihnen stammen und ihre jeweiligen Meinungen und/ oder Gefühle, also des Autors, zu diesem Moment formulieren, und sie datieren damit die Texte auch.

 

4. Liebeslyrik im Mittelalter: Jaufre Rudel und seine "vida"

Es gibt aber noch umfangreichere und - wie ich meine - eindeutigere Informationen zur Rezeption mittelalterlicher Liebeslyrik: Ich meine damit die okzitanischen (‘provenzalischen’) "vidas" und "razos", also kürzere Prosatexte, die biographische Kommentare zu einzelnen Oeuvres oder einzelnen Werken von Trobadors bieten. Diese Texte wurden bereits damals - wie noch heute - als "vida" (von lateinisch: vita") und "razo" bezeichnet (von lateinisch "ratio"). Zu 101 Trobadors (von insgesamt etwa 450, die uns namentlich bekannt sind) sind solche Erläuterungen überliefert, insgesamt etwa 225 Trobador-Biographien und Gedicht-Kommentare; die sie überliefernden Handschriften (insgesamt 24) stammen vorwiegend aus dem 13. und Jahrhundert, und zwar aus der Languedoc, aus Katalonien und insbesondere aus Oberitalien.(3)

Dafür, wie das Verhältnis zwischen Verfasser (Autor), Werk (Lied) und Inhalt der Dichtung hinsichtlich ihres "Sitz im Leben" damals verstanden wurde, sei ein einziges Beispiel angeführt, und zwar der südfranzösische Trobador Jaufre Rudel. Über ihn ist nicht viel bekannt: Er war wohl ein adliger Herr aus der Gegend von Bordeaux, der um 1150 lebte; laut einem Lied seines Trobador-Kollegen Marcabru nahm er 1147 am 2.Kreuzzug teil. Sechs (oder sieben) Texte von Liebesliedern sind von Jaufre erhalten, vier davon mit Melodie.(4) Sein bereits im Mittelalter bekanntestes Lied war dasjenige über "L’amor de lonh", ‘die Liebe in der Ferne’; drei Strophen des Liedes, durch dessen sämtliche Strophen sich das Reimwort "lonh" = ‘fern’ kunstvoll hindurchzieht, lauten in Übersetzung (von Franz Wellner):(5)

Im Mai, wenn’s wieder länger Tag,
lockt mich der Vöglein Sang dort fern,
und scheid ich dann vom lauten Hag.,
denk einer Liebe ich dort fern.
ich geh gebeugt, in trüber Lust:
ob Vogelsang, ob Weißdornblust,
mich freut’s nicht mehr als Eise und Schnee.

Ich trau auf Gott, er zeigt einmal
die holde Liebe mir dort fern;
jetzt aber tausch ich doppelt Qual
für all ihr Glück, weil’s doch so fern.
Ach, gern zög ich als Pilger fort,
daß mich ihr schönes Auge dort
mit Stab und Mantel wandern säh. [....]

Nie mehr sei ich der Liebe froh,
find ich die Liebe nicht dort fern;
denn keine Fraue weiß ich wo
gleich schön und hold, nicht nah noch fern.
Ihr Preis steht also unverwandt,
daß tief im Sarazenenland
ich gern um sie gefangen hieß.

In der dazugehörigen "vida" Jaufres wird dieses Lied autobiographisch gedeutet und in die Lebensbeschreibung eingefügt. Dabei ist es hier unerheblich, daß die "vida" vielleicht aus diesem Lied herausentwickelt wurde - wichtig ist hier die autobiographische Interpretation dieses Textes. Die "vida"(6) lautet in Übersetzung:

Jaufre Rudel von Blaya(7) war ein sehr edler Herr, Fürst von Blaya. Und er verliebte sich in die Gräfin von Tripolis(8), ohne sie jemals gesehen zu haben, nur auf das viele Gute hin, das er von den Pilgern, die aus Antiochia kamen, über sie sagen hörte. Und er dichtete auf sie viele Lieder mit schönen Melodien und schlichten Worten. Und aus Verlangen, sie zu sehen, nahm er das Kreuz und stach in See. Und auf dem Schiff wurde er krank, und er wurde wie tot nach Tripolis in eine Herberge gebracht. Und der Gräfin wurde dies berichtet, und sie kam zu ihm an sein Bett und nahm ihn in die Arme. Und er erkannte, daß es die Gräfin war, und er kam wieder zur Besinnung. Und er lobte Gott und dankte ihm, daß er ihm das Leben solange erhalten habe, bis er sie gesehen hätte. Und so starb er in ihren Armen. Und sie ließ ihn mit großen Ehren im Tempelhaus bestatten; und noch am gleichen Tag ging sie ins Kloster, aus Schmerz, den sie wegen seinem Tod hatte.(9)

Dasselbe biographische Verständnis von Trobador-Liedern läßt sich aus allen "vidas" und "razos" nachweisen - diese Textsorten basieren ja auf einem biographischen Verständnis solcher Texte als Erlebnislyrik, also als autorisierte Ausführungen des Autors zu einem authentischen Teil seiner Biographie. Eindeutiger als die Autoren selbst (hier Ulrich von Liechtenstein und Dante) und ihre frühen Rezipienten (also die Verfasser der "vidas" und "razos" sowie Boccaccio) kann man eigentlich hier nicht Stellung beziehen: Die Lieder dieser Autoren, und das gilt wohl überhaupt für die Trobadors, Trouvères und Minnesinger, wurden damals als Werke aufgefaßt, die authentisch mit der Biographie der Autoren zusammenhängen und die durch die Namensnennungen, also die Zuschreibungen, auch als Werke dieser Autoren autorisiert waren.

 

5. Ein Beispielsfall aus der Neuzeit: Goethes "Römische Elegien"

Als Musterbeispiel für ‘Erlebnislyrik’ wird, wie allgemein bekannt und oben erwähnt, stets Goethe genannt; auf ihn sei im abschließenden Beispielsfall eingegangen.

Die "Römischen Elegien" Goethes,(10) die während oder nach dessen Reise nach Italien entstanden sind, waren ob ihrer unverhüllten Sinnlichkeit ein Skandalon für die Weimarer Gesellschaft. Die Datierung der "Römischen Elegien" ist nicht völlig sicher: Allgemein nimmt man heute an, daß sie zwischen Herbst 1788 und Frühjahr 1790 entstanden, doch ist es sehr gut möglich (und mir sogar wahrscheinlich), daß Goethe schon früher, noch in Rom, wie das Autograph nahelegt, an ihnen zu arbeiten begann. Er machte die Texte zuerst nur einzelnen zugänglich. Im Druck veröffentlicht wurden sie im Juni 1795 in Schillers Zeitschrift "Die Horen", wobei allerdings vier Texte ausgelassen wurden; erst über neunzig Jahre später wurden diese vier Texte in der "Weimarer Ausgabe" (Anhang zu Band 1, 1887) veröffentlicht, allerdings mit etlichen schamhaften Kürzungen - völlig unzensuriert erschienen sie schließlich 1914 in Band 53 der 1.Abteilung der "Weimarer Ausgabe".(11)

Die "(Römischen) Elegien" wurde damals vom Publikum, ganz direkt und völlig selbstverständlich, als Ausdruck von persönlichen Erlebnissen des Autors verstanden. Getreu dem Motto "Si fa, ma non parla", wurde damals und noch längere Zeit wohl nicht die dargestellte ‘Sache’ als solche, sondern vor allem die öffentliche Darstellung des persönlichen Erlebnisses, das Öffentlich-Machen als anstößig empfunden. Bis heute wird gerätselt, ob das Mädchen ‘Faustina’(12), welches wohl gemeint ist, auf deren nacktem Rücken der Autor seine Hexameter skandiert (Elegie VI), eine reale Person gewesen sei, und falls ja (was allgemein angenommen wurde): wer? In Weimar wurde allgemein an Christiane Vulpius gedacht, denn Goethe hatte, wenige Wochen nachdem er aus Italien zurückgekehrt war, in Weimar Christiane kennengelernt und ein sehr schnell bekannt gewordenes Verhältnis mit ihr begonnen. Doch brachte man den Inhalt der "Elegien" auch mit erotischen Erlebnissen des Autors in Italien in Bezug.

Die ersten Reaktionen der Leserschaft, also der Gesellschaft in Weimar, auf die Veröffentlichung der "Elegien", zeigen sich in einigen Briefen. Frau von Stein, die begreiflicherweise besonders getroffen reagierte, schrieb dazu an Charlotte Schiller:

Ich glaube, daß sie [=die Elegien] schön sind; sie tun mir aber nicht wohl. Wenn Wieland üppige Schilderungen machte, so lief es zuletzt auf Moral hinaus, oder er verband es mit ridicules - soviel ich davon gelesen habe. Auch schrieb er diese Szenen nicht von sich selbst.

Bei Gelegenheit dieser "Elegien" sagte Herder der Herzogin, Goethe sei in Italien sehr sinnlich geworden, ihn aber habe es daselbst geekelt (27.7.1795).(13)

Und der Philologe und Archäologe Karl August Böttiger, von 1791 bis 1804 Direktor des Gymnasiums in Weimar, dessen Verhältnis zu Goethe sich von anfänglicher Zusammenarbeit zu immer aggressiverer Polemik entwickelte, stellte in einem Brief an den Gymnasialprofessor und Romanschriftsteller Friedrich Schulz am selben Tag (27.7.1795) fest(14):

Aber alle ehrbaren Frauen sind empört über die bordellmäßige Nacktheit. Herder sagte sehr schön: er [=Goethe] habe der Frechheit ein kaiserliches Insigel aufgedrückt. Die Horen(15) müßten nun mit dem u geschrieben werden. Die meisten Elegien sind bei seiner Rückkehr im ersten Rausche mit der Dame Vulpius geschrieben. Ergo ...

Die erotischen Elegien Goethes stehen in Form und Inhalt eindeutig in der Tradition der römischen Liebeselegie und zumal Ovids, des europäischen "praeceptor A/amoris" - aber diese intertextuellen Bezüge und Abhängigkeiten wurden von Goethes Umgebung und seinen Zeitgenossen nicht so aufgefaßt, als ob es sich bei ihnen um reine Rollenlyrik ‘in antiker Manier’, ohne Verbindung mit dem Erleben des Autors, handeln würde.

 

6. Resumée

Goethes Publikum hat bei den "Römischen Elegien" nicht anders reagiert als dasjenige des Mittelalters bei den Liedern der Trobadors und bei den Liebesgedichten in Dantes "Vita Nuova" - das läßt sich aus den Textsorten der Trobador-"vidas" und -"razos" sowie aus Boccaccios entsprechenden Erläuterungen eindeutig erschließen: Diese Liebesgedichte wurden zu ihrer Zeit als Erlebnislyrik, kaum aber als Rollenlyrik verstanden und rezipiert. Und im deutschen Sprachraum wird es dann für den ‘Minnesang’ nicht anders gewesen sein als in Südfrankreich, Oberitalien und Katalonien, wo diese Biographien und Kommentare aufgeschrieben bzw. verfaßt wurden.

Die Äußerungen von mittelalterlichen Autoren und diejenigen Goethes deuten in dieselbe Richtung: Es handelt sich um "Dichtung und Wahrheit" - wobei die Betonung auf dem "und" liegen sollte. Insbesondere eine Gattung, die zu einem beträchtlichen Maße so Ich-bezogen ist wie Lyrik (und hier insbesondere Liebeslyrik, und zwar zu allen Zeiten und in allen Regionen) wird wohl stets beides verbunden haben, und insofern ist der Unterschied zwischen entsprechenden Gedichten von Trobadors und Minnesängern einerseits und den "Römischen Elegien" andererseits kein grundsätzlicher, sondern höchstens ein gradueller.

Beides ist aus dem persönlichen Erlebnis des jeweiligen Autors entstandene und dadurch geprägte Liebeslyrik, allerdings sicherlich mit einem gewissen Maß von distanzierender Stilisierung, die bei jeder literarischen Gestaltung notwendigerweise geschieht. Nur über das quantitative Verhältnis von Erlebnis und Stilisierung kann man hier streiten.

Im bereits zitierten "Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft" (I, Berlin-New York, S.499: Marianne Wünsch: Erlebnislyrik) wird festgestellt, daß es im Mittelalter keine "Erlebnislyrik im Sinne der modernisierten Version des Begriffs" gegeben habe: "Denn nicht nur im Mittelalter, sondern auch in der Frühen Neuzeit sind Ich-Sprechsituationen im Regelfalle diejenigen eines typisch-exemplarischen Ich, d.h. das Ich stellt eine kulturell kodierte Rolle dar". Eine solche apodiktisch geäußerte Aussage ist nach meiner Meinung schlichtweg falsch: Auch die mittelalterliche Liebeslyrik muß ‘Erlebnisse’ der Autoren enthalten, und auch Goethes Liebeslyrik verwendet ganz zwangsläufig ‘kulturell kodierte Rollen’.

Ich möchte mit einem Zitat des Romanciers Salman Rushdie schließen, einem intellektuellen und gelehrten Autor: Er sagte, ein Schriftsteller schreibe Literatur, indem er Material aus seinem eigenen Leben und seiner unmittelbaren Umgebung verwende, diese aber, durch die Alchemie der Kunst, fremd und anders mache ("using the material of his own life and immediate surroundings and, by alchemy, making it strange"; Fury, New York 2001, S.1).

© Ulrich Müller (Universität Salzburg)


ANMERKUNGEN

(1) Ausführlicher habe ich das Thema ‘Minnelyrik/ Erlebnislyrik’ in der Festschrift für Volker Mertens (2002) behandelt: Minnesang - eine mittelalterliche Form der Erlebnislyrik. Essai zur Interpretation mittelalterlicher Liebeslyrik, in: Literarische Leben: Rollentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Matthias Meyer und Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 2002, S.597-617; daraus sind hier einzelne Passagen, teilweise in etwas veränderter und/ oder stark gekürzter Form, entnommen. - Siehe des weiteren meine folgenden Beiträge: Tristan, Isolde & Co (Shakespeare ‘A Midsummernights’s Dream’, Goethe ‘Die Wahlverwandtschaften’, Da Ponte/ Mozart ‘Così fan tutte’): Magie, Naturgesetz oder ‘bed-trick’, in: Paare und Paarungen. Festschrift für Werner Wunderlich zum 60.Geburtstag. Hrsg. von Ulrich Müller und Margarethe Springeth unter Mitwirklung von Michaela Auer-Müller. Stuttgart 2004 (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 420), S.230-244; des weiteren: Der mittelalterliche Autor: Eine (postmoderne) Mischung aus Lazarus, Proteus und Medusa? - oder: Autorisation und Authentizität: Mittelalterliche Liebeslyrik als Erlebnislyrik? - in: Thomas Bein/ Rüdiger Nutt-Kofoth/ Bodo Plachta (Hrsg.): Autor - Autorisation - Authentizität. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft philosophische Editionen und der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung, Aachen, 20. bis 23. Februar 2002. Tübingen 2004 (= Beihefte zu "editio" 21), S.83-92; sowie: "L’Auteur est mort, vive l’auteur": Love in Poetry and Fiction, in: Albrecht Classen (Ed.): Discourses on Love, Marriage, and Transgression in Medieval and Early Modern Literature. Tempe, Arizona/USA 2004, S.181-188. Mit demselben Thema beschäftigt sich jetzt auch ein Beitrag von Klaus M. Schmidt, der auf dem Congress of Medieval Studies, Western Michigan University, Kalamazoo (Mich.) 2005 präsentiert wurde und der demnächst im Druck erscheinen wird.

(2) Wünsch weist dort (Artikel ‘Erlebnislyrik’) auch darauf hin, der Begriff "Erlebnislyrik" habe "nie eine genauere Definition erfahren". Dies ist eine Unschärfe, die er mit vielen und nicht nur literaturwissenschaftlichen Begriffen gemeinsam hat.

(3) Sie sind vorbildlich gesammelt und ediert in der Ausgabe von J.Boutière/ A.H.Schutz/ Irénée-Marcel Cluzel 1973. Die oben mitgeteilten Zahlen und sonstigen Informationen stammen aus der Einleitung dieser Edition. Sämtliche Texte sind dort auch ins Neufranzösische übersetzt; neuhochdeutsche Übersetzungen vieler "vidas" und "razos" finden sich bei Franz Wellner 1942 u.ö. - Zu Jaufre Rudel siehe hier und in den Anm. 4,5, und 9: J.Boutière/ A.H.Schutz: Biographies des Troubadours. Textes provençaux des XIIIe et XIV siècles. Toulouse/Paris 1950, 2e édition refondue [...] par Jean Boutière et Irénée-Marcel Cluzel avec la collaboration de M.Woronoff. Paris 1973. - Franz Wellner: Die Trobadors. Leben und Lieder. Neu herausgegeben von Hans Gerd Tuchel. 2.Aufl. Bremen 1942 u.ö. - Alfred Jenaroy (éd.): Les chansons de Jaufre Rudel. 2e édition révue. Paris 1965 (=Les classiques français du Moyen Age 15). - Hendrik van der Werf [ed.]: The Extant Troubadour Melodies. Rochester, N.Y. 1984. - Alfred Pillet/ Henry Carstens: Bibliographie der Troubadours. Halle 1933 (=Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Sonderreihe 3) [=PC]. - Horst Brunner, in: Walther von der Vogelweide. Die gesamte Überlieferung der Texte und Melodien. Abbildungen, Materialien, Melodietranskriptionen. Göppingen 1977 (=Litterae 7).

(4) Text-Ausgabe (mit neufranzösischer Übersetzung) von Alfred Jeanroy 1965. Die vier Melodien finden sich z.B. bei Hendrik van der Werf 1984, S.215*-222*.

(5) Lied V: "Lanquan li jorn sont lonc en may"; = PC 262,2; eine gereimte neuhochdeutsche Übersetzung findet sich bei Wellner 1942, S.45-47, ferner eine moderne Fassung der Melodie. Letztere wurde möglicherweise von Walther von der Vogelweide für sein "Palästina-Lied" (L 14,38) verwendet; siehe dazu Horst Brunner 1977, S.54*-56*.

(6) Jaufre Rudels de Blaia si fo mout gentils hom, princes de Blaia. Et enamoret se de la comtessa de Tripol, ses vezer, per lo ben qu’el n’auzi dire als pelerins que venguen d’Antiochia. Es fez de leis mains vers ab bons sons, ab paubres motz. E per voluntat de leis vezer, et se croset e se mes en mar, e pres lo malautia en la nau, e fo condug a Tripol, en un alberc, per mort. E fo foit saber a la comtessa et ella venuc ad el, al son leit e pres lo antre sos bratz. E saup qu’ella era la comtessa, e mantenent recobret l’auzir e’l flairar, e lauzet Dieu, que l’avia la vida sostenguda tro qu’el l’agues vista; et enaissi el mori entre sos bratz. Et ella lo fez a gran honor sepellir en la maison del Temple; e pois, en aquel dia, ella se rendet morga, per la dolor qu’ella n’ac de la mort de lui.

(7) Das Städtchen Blaya in Aquitanien, nördlich von Bordeaux an der Mündung der Gironde in den Atlantik gelegen (heute: Blaye-et-St-Luce, Dép. Gironde), war eine wichtige Station am Pilgerweg nach Santiago de Compostela; ob Jaufre der dortigen Adelsfamilie der Rudel de Blaye (1048-1317) angehörte, ist nicht sicher.

(8) Tripolis (im heutigen Nordlibanon), nach dem 1.Kreuzzug von den Kreuzfahrern nach jahrelangen Kämpfen erobert, war von 1109 bis 1289 Sitz einer bedeutenden Kreuzfahrer-Grafschaft. Die mächtige Burg ist heute noch zu sehen.

(9) Text, mit neufranzösischer Übersetzung, bei Boutière/ Schutz/ Cluzel 1964, S.16-19, und zwar in der etwas kürzeren Fassung der Handschriften I und K (beide 13.Jahrhundert, Oberitalien); eine neuhochdeutsche Übersetzung findet sich bei Franz Wellner 1942, S.41f. - Meine obige Übersetzung des Textes versucht, noch näher an der Vorlage zu bleiben als diejenige von Wellner.

(10) Goethes autographe Niederschrift der Gedichte (heute: Manuskript H 50, Weimar) trug ursprünglich den Titel "Erotica Romana", den er dann gestrichen und ersetzt hat durch "Elegien. Rom 1788": siehe dazu das Faksimile der Handschrift, Leipzig 1972 u.ö. - Den Namen "Römische Elegien" trägt die Sammlung seit 1806.

(11) Siehe dazu u.a. Harry Haile: Prudery in the Publication History of Goethes "Roman Elegies", in: German Quarterly 49 (1976), S.287-294; Klaus Oettinger: Verrucht, aber schön ... Zum Skandal um Goethes ‘Römische Elegien’, in: Deutschunterricht 35 (1983), S.18-30; Reiner Wild: Römische Elegien, in: Goethe Handbuch I (Stuttgart-Weimar 1996), S.225-232.

(12) Den Namen hat Goethe in den Text von Elegie XVI erst hineinkorrigiert - siehe dazu das Faksimile des oben erwähnten Autographs: "Darum macht mich (mein Mädchen: gestrichen, ersetzt durch:) Faustine so glücklich, sie theilet das Lager/ Gerne mit mir ..." Nochmals erscheint der Name im 4. Venezianischen Epigramm: "Schön ist das Land; doch ach! Faustinen find’ ich nicht wieder./ Das ist Italien nicht mehr, das ich mit Schmerzen verließ."

(13) Wilhelm Bode (Hrsg.): Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen. 2 Bände, München 1982: II S.42.

(14) Bode II, S.41; man beachte die in einem solchen Kontext bekanntlich vielsagenden drei Pünktchen!

(15) Die "Elegien" waren erstmals in Schillers Zeitschrift "Die Horen" erschienen - siehe oben.


2.3. Liebe in der Dichtung

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


TRANS       Inhalt | Table of Contents | Contenu  16 Nr.


For quotation purposes:
Ulrich Müller (Universität Salzburg): Liebeslyrik - "Bruchstücke einer großen Konfession". In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/02_3/mueller16.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 29.8.2006     INST