Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Juni 2006
 

5.4. OPEN AND CLOSED SYSTEMS: The Improbable Way towards an Equilibrium
Herausgeber | Editor | Éditeur: Manuel Durand-Barthez (Toulouse)

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Hermann Brochs Werttheorie und Der Tod des Vergil

Christian Sinn (Universität Konstanz)
[BIO]

 

Spätestens seit Anfang des Jahres 1936 scheint der Dichter Broch zum Gegner seiner selbst zu werden: "Die gegenwärtige Welt in ihrem Wertzerfall hat für [...] künstlerische Leistungen keinen Platz; [...] und es ist beinahe unethisch, ihr etwas aufzwingen zu wollen, was sie nicht braucht, anstatt ihr das zu geben, [...] was sie benötigt, nämlich Linderung ihrer Krämpfe, was man im großen politisch, im kleinen dadurch zu betätigen hätte, daß man für einen gewissen Kreis Menschen sorgt und ihm nach Kräften hilft, wozu der egozentrische Dichter natürlich nicht imstande ist", schreibt er am 6.3. 1936 an Daisy Brody.(1) Zur gleichen Zeit, im März 1936 beginnt Broch aber auch die Arbeit am Tod des Vergil, dessen letzte, fünfte Fassung im März 1945 erscheint.

Für einen gewissen Kreis Menschen zu sorgen und ihm zu helfen, hiervon legt Broch in seinem gehetzten Leben, in dem er sich nicht nur >im kleinen< für andere bis zur Selbstaufgabe engagierte, selbst ein glaubwürdiges Zeugnis ab. Politisch gesehen sind fast alle seiner Projekte von der UNO erfüllt worden, die er anläßlich der Gründung der UNO in der International Bill of Rights and of Responsibilities entwarf. Daß es heute einen Gerichtshof zur Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit gibt, war vor Broch reine Utopie. Der Literaturwissenschaftler irrte aber, ließe er sich hiervon beeindruckt darauf ein, Brochs Literatur auf Ethik zu reduzieren. Er vergäße, daß Broch auch ein Satiriker(2) ist, dem es in erster Linie im alten Sinne des Wortes von satura, die Fruchtschüssel als Synonym für einen Diskursmix, um das Wagnis geht, fest etablierte Diskurse zu verändern, ohne dabei einem vorgegebenen ethischen telos zu folgen. Satire als radikale Diskurskritik verstört, wenn auch ethisch motiviert, noch den Diskurs der Ethik und widersetzt sich dem Gewaltmonopol einsinnig verstandener Hermeneutik. Im Unterschied zu der Satire, die sich als Pasquill auf Einzelnes beschränkt, operiert Brochs Satire in der humoristischen Tradition eines Jean Paul, einer sich zwar totalisierenden Literatur, die sich aber entgegen allen Rezeptionsgewohnheiten noch selbst in Frage stellt. Ihr Totalitätsanspruch ist akzeptabel, weil sie den nebulösen Begriff des humanum als Fähigkeit präzisiert und einlöst, über sich selbst lachen zu können.

Brochs Literaturbegriff meint deshalb auch mehr als den Versuch, die Dichtung durch die Dichtung kritisieren zu wollen. Brochs Kritik liegt genauer gesagt seine Werttheorie zugrunde, die von einem produktiven performativen Widerspruch bestimmt wird, der allerdings kaum wahrnehmbar wird. Denn von erheblichem philosophischen Gewicht ist bis heute die These Hannah Arendts, daß Broch seine gesamte Philosophie auf den Begriff des Ich zurückführe. In der Tat formulierte ja Broch selbst klar genug gegen Arendt: "Ohne Ich-Theorie keine Werttheorie, ohne Werttheorie keine Ethik und keine Ästhetik. Und nachherrüberzurück keine Anthropologie"(3) In diesem Kontext scheint Broch eine radikale Idealismusthese zu vertreten, die gleichsam wie bei Schelling auf die Freiheit des Ich als dessen absolute Selbstmächtigkeit zielt. Neben dem Idealismus Brochs, findet sich jedoch in dessen literarischen wie philosophischen Texten eine scharfe, geradezu katholisch motiviert scheinende Idealismuskritik, die in einem suggestiven mystischen Stil die Moderne als Selbstherrlichkeit und Vermessenheit beschreibt und gegen die sie die alte ordo-Vorstellung setzt. Der in der Moderne konstatierbare Zerfall der Werte steht in Analogie für eine von göttlicher Ordnung abgefallene Menschheit.

Unabhängig davon, wie ernst diese Idealismuskritik bei einem Satiriker nun zu nehmen ist und wo und wie sie als Zitat erfolgt, ihr bloßes Faktum verbietet es jedenfalls, Broch nur in der Perspektive Arendts kritisieren wollen. Arendt nimmt Broch nicht als Dialektiker wahr, sondern unterstellt ihm die Aufgabe, die sie sich selbst gesetzt hat: eine skeptische, politische Analyse der Gegenwart im Sinne einer partikularistischen Ethik. Gegenüber ihr kann Broch dann nur noch als ein Visionär erscheinen, dem zwar in ethischer Hinsicht Respekt zu zollen ist, dessen Prinzipienfixiertheit sich aber angesichts der Moderne als unangemessen erweist. Die faszinierende Kraft von Brochs Dialektik gerät damit ins Vergessen, die seine nicht-triviale These begründet, der Literatur komme der Primat gegenüber der Politik zu. Noch die vermeintliche Wende Brochs von der Literatur zur Politik nach Der Tod des Vergil signalisiert die klare Erkenntnis, daß Politik dort, wo sie sich den Ansprüchen der Literatur entzieht, verdammt ist, den Mustern des Kitsches folgen zu müssen. Auch Brochs spätere Theorie des Massenwahns kann dieses Begründungsverhältnis nicht verändern, nur beschreiben.

Insgesamt motiviert den Zusammenhang von Literatur, Politik und philosophischer Dialektik bei Broch die Verurteilung jener Gleichgültigkeit gegen Menschen, die er in Die Schuldlosen als ethische Perversion angreift. Gegen die Verweigerung eines echten Bezugs zum Gegenüber setzt er deshalb auch seinem Idealismus die Idealismuskritik entgegen. Argumentiert Arendt partikularistisch, so Broch dilemmatisch. Seine Dialektik erzeugt im ethischen Interesse Dilemmata, denen in produktionsästhetischer Hinsicht die Spannung zwischen dem Es seiner poetischen Produktionen und dem Über-Ich seiner Theorie entspricht. Brochs Theorie sieht die Vergeblichkeit ihrer Kontrolle gleichwohl nicht nur ein, sondern bringt diese Einsicht in der Werttheorie durch den Binarismus geschlossener und offener Systeme auch mit Nachdruck zur Geltung. Denn es handelt sich um keinen lapsus, sondern um die bewußte Konstruktion einer unausweichlichen Aporie, wenn sich Brochs Binarismus selbst dem verdankt, was er geschlossenen Systemen vorwirft, die "Verwechslung des Endlichen mit dem Unendlichen".(4) Metatheoretisch gesehen nämlich setzt Broch selbst die endliche Differenz zwischen geschlossenen und offenen Systemen als unendlich, um sie dann noch durch den zweiten Binarismus von >gut< (offene Systeme) und >böse< (geschlossene Systeme) zu totalisieren.

Doch dies ist keinesfalls wesentlich für seine dialektische Einstellung. Denn seine Setzung dient nicht wiederum als Element eines sich gleichsam hegelianisch selbst erzeugenden Systems; sie erschüttert als konstruierte Aporie die Annahme der Möglichkeit einer vermeintlich sprachfreien Systembildung. Wie im Falle der Aporie von Idealismus und Idealismuskritik, argumentiert Broch durch einen bewußt hergestellten performativen Widerspruch gegen die Akzeptanz der idealistischen Autonomiethese. Daraus folgt weiter, daß keine Philosophie sich selbst autonom setzen darf und schon aus diesem Grund notwendig des komplementären Bezugs zur Literatur bedarf, da nur diese über die Möglichkeit verfügt, Argumentationen zu inszenieren, ohne mit ihnen Geltungsansprüche zu erheben. Die Literatur kann aber im Falle Brochs noch mehr, als das Denken durch Aporien in diskursethischen Gang zu setzen: Blenden pathetisierende Systeme in ihrer Autonomiesetzung die Tatsache des Todes aus, so versteht Broch selbst das "Antlitz des Todes" als "der große Erwecker".(5) Daraus folgt sein Versuch in Der Tod des Vergil, den Tod in der Literatur selbst zu entdecken.

Dieser Literatur geht es nun aber nicht mehr darum, wie der sich in Brochs Texten auch dokumentierten Idealismuskritik, den Sinn für die Grenzen menschlicher Autonomie im Sinne einer Endlichkeitsphilosophie zu wecken; sie beschränkt sich nicht auf die Faktizität, das Du, in ihrem Extrem verweigert sie sich selbst noch einer Ethik des Anderen im Sinne von Levinas. Brochs Literaturbegriff gerät so gesehen in eine eigentümliche Spannung zu seiner Kritik der Gleichgültigkeit. Doch der Tod ist eben nichts anderes als diese Gleichgültigkeit, von der Der Tod des Vergil nicht nur zehrt, sondern die Schrift als den Tod selbst inszeniert. Die endlich-hinnehmende Vernunft wird damit folgender Krisis ausgesetzt: Es wäre ja für die Philosophie ein leichtes, könnte sie wie bisher Literatur als Lüge denunzieren und diese nach den Kriterien der Klarheit und Deutlichkeit aus dem Reich des wahrheitsverpflichteten Denkens verstoßen; doch der Tod ist eine wahre Tatsache, keine Lüge und Brochs Literaturbegriff fürchtet diese Tatsache nicht. Er macht nicht wie in der Endlichkeitsphilosophie als Argument geltend, angesichts des Todes sei es umso ratsamer im Endlichen zu verbleiben, der Tod soll vielmehr zur textuellen Präsenz werden: Was folgt dann aber für das cartesianische Denken, wenn nicht nur der Zweifel, sondern der Tod ubiquitär wird, ist?

Nicht nur verläßt Vergil diese Welt und tritt in das Nicht-Determinierte ein. Die Sprache, die in bewußter Opposition zu Joyces banalem Helden Bloom die letzten achtzehn Stunden des sterbenden Vergil in einem inneren Monolog schildert, gerät selbst aus den Fugen; sie wird wortwörtlich maßlos und stürzt den Leser in unendliche Digressionen. Durch sie erzeugt sich ein Begriff von Literatur, der seine Herrschaft in dem Maße ausbreitet, wie die Philosophie die ihre angesichts des Todes abbaut. Durch ihre reine Form entzieht sich diese Literatur der Philosophie und gibt damit zugleich das Differenzkriterium zum Kitsch an: Philosophie wie Kitsch als sich unendlich setzende endliche Systeme verfehlen die "Sinngebung durch das syntaktische System, die das eigentliche Kunstwerk ausmacht."(6) Broch hat diese Syntax des Kunstwerks theoretisch zu fassen versucht, um der eigenen Maßlosigkeit zu begegnen, so sei, allerdings auf Joyce bezogen, das Ziel alles Epischen "das Nacheinander der Eindrücke und des Erlebens zur Einheit zu bringen, den Ablauf zur Einheit des Simultanen zurückzuzwingen, das Zeitbedingte auf das Zeitlose der Monade zu verweisen, mit einem Wort die Überzeitlichkeit des Kunstwerks im Begriff der unteilbaren Einigkeit herzustellen".(7)

Aber gegen diese Leibnizianische Lösung des cartesianischen Problems von Philosophie als radikale Krisis wie gegen den medientheoretische Rückschritt hinter Lessing, die Sukzession der Schrift aufs Simultane des Bildes zu projizieren, behauptet sich die poetische Produktion von Der Tod des Vergil zum Glück als unerklärbare, irreduzible Spontaneität. Zum Glück, nämlich für Broch selbst, denn sonst folgte er jener durch die Unfehlbarkeit ihrer Methode so schlafwandlerisch sicheren Philosophie, die er kritisiert. Die Bedeutung Brochs liegt ja nicht zuletzt darin, daß er das von der Philosophie nicht bemerkte Reich der Schlafwandler angeht, auf dem sie aufruht, wenn sie es nicht selbst bewohnt. Aus diesem Grund wird auch der unbestrittene Wert der bisherigen Analysen zur Brochschen Syntax erst dort erkennbar, wenn diese auf die poetische Kraft und die philosophische Motivation Brochs zurückbezogen werden. Denn Brochs Begriff des syntaktischen Systems, sein hohes Formbewußtsein und kompositorisches Vermögen entspringen einer Kraft, die sie zu bändigen versuchen, ohne diese Kraft aber werden sie zu leeren Formeln der Rhetorik im schlechten Sinne des Wortes als bloßer ornatus. Strukturanalysen zu Broch müssen sich daher zugleich mit den unbequemen totalitären Fragen auseinandersetzen, auf die Brochs syntaktisches System die nur mühsam errungene Antwort ist.

Rhetorische Formen folgen philosophischen Funktionen. Die eingangs zitierte >Egozentrik< des Dichters, von der Broch ironisch behauptet, sie sei >natürlich< für die anderen Menschen wenig hilfreich, entspringt einer Kritik des Kitsches. Es ist zwar banal, den Kitsch zu kritisieren, nicht-trivial aber ist Brochs Dichtung, die ein Denken in offenen Systemen provoziert. Denn durch dieses Denken löst sich langfristig gesehen erst das Problem sozialer Ohnmacht, das eine Endlichkeitsphilosophie nur verstärkt, indem sie diese als gleichsam ontologische Notwendigkeit begreift, damit aber wie der Kitsch nur fortschreibt. Broch war sich über die beschränkten Wirkungsmöglichkeiten von Literatur ganz im Klaren, >Wirkung< in ihrem plattesten Sinne als unmittelbare Konversion des Lesers nach der Lektüre ist von der Literatur nicht zu verlangen. "Indes: so wenig das Kunstwerk zu bekehren oder in irgendeinem konkreten Fall Schuldeinsicht zu erwecken vermag, der Läuterungsprozeß selber gehört trotzdem dem kunstwerklichen Bereich an; ihn zu exemplifizieren ist dem Kunstwerk möglich".(8)

Konkret zeigt sich der von Broch ethisch verstandene Läuterungsprozeß in einer Darstellungspraxis, die seiner eigenen Theorie widerspricht, es sei möglich, die dispersive Zeit auf ein Raumbild so zu projizieren, daß es Totalitätswahrnehmung im Sinne eines Panoramas ermögliche. Denn >Läuterung< ist ein unanschauliches Abstraktum und deshalb ist auch der intermediale Bezug von Text und Bild in Der Tod des Vergil komplexer als dessen Theorie; der Text verräumlicht sich nicht zu einem Gesamtbild, sondern zerfällt in Einzelbilder, die aber auch als einzelne so konstruiert sind, das sie mit einem Bildbegriff im Sinne einer ebenen, zentralperspektivisch organisierten Fläche nicht wahrgenommen und beschrieben werden können. Im Falle von Brochs Novellen legt Hans Politzer den Vergleich mit Bildern Chiricos nahe; in Der Tod des Vergil wird man zudem an die Zitation kubistischer Techniken denken dürfen. Es ist sicherlich legitim, verschiedene Medien auf die Form einer gemeinsamen historischen Einbildungskraft zurückzuführen; gleichwohl bleibt die Frage, ob eine Bildanthropologie die Spezifik textueller Unanschaulichkeit erfaßt, wie sie bereits auf der Ebene einzelner Worte inszeniert wird: "Todesverwobenheit" (26) "klanggewordene Todlosigkeit" (80), "Kristallecho des Unerlauschbaren" (148) "schwebende Dunkelheit" (170), "klingende Unsichtbarkeit" (188), "schweigende Sphärengesang" (422), "Nachthelligkeit" (426), "Unendlichkeitsflutung" (449).

In fast jeder Zeile finden sich solche Unanschaulichkeiten, die sich schon allein darum nicht in Bilder auflösen lassen wollen, da der primäre Sinn in Der Tod des Vergil das Hören ist, und noch Riechen und Fühlen vor dem Sehen stehen. Vergil sieht nicht den Tod, er "lauschte dem Sterben" (76). In diesem Lauschen scheinen die Sinne ineinander überzugehen: "schwarzes Summen" (21), "fettiges Kreischen" (104), "aufzitterndes Grün" (28) "stummklingender Silberraum" (139) melden sich zu Wort. Zwar versucht Broch in seinen Bemerkungen zum >Tod des Vergil< und seinen Notizen zu einer systematischen Ästhetik die eigene Dichtung am Paradigma der Geometrie zu fassen. Gleichwohl holt auch hier die Theorie die faktische Produktion nicht vollständig ein. So wimmelt es in der Tat von allen möglichen geometrischen Figuren von der Mikro- bis zur Makroebene seines Textes. Aber der Anspruch einer mos geometricus, wodurch sich Der Tod des Vergil vom Kitsch unterscheidet, gibt noch nicht die Differenz zur traditionellen Philosophie an, die ebenfalls durch den Rekurs auf optische und geometrische Metaphern eine intellektuelle Distanznahme vollzieht. Sie aber wird von Brochs Dichtung radikal bezweifelt und die eigene theoretische Äußerung, es sei möglich, die Zeit auf den Raum zu projizieren, zurückgenommen, um den Leser, der den Text als Bild überschauen möchte, bereits durch das einzelne Wort vor den Kopf zu stoßen.

So zerfällt in der Perspektive Vergils nicht zuletzt aufgrund sozialer Differenzen jegliche einheitliche Raumempfindung. Die Rudersklaven im Schiffsbauch, der stinkende Unrat in der unteren Stadt, er aber vom Schiff auf der Sänfte als Barke zur sicheren oberen Stadt getragen, gleichwohl selbst ein Verwesender: "Dies alles war von äußerster Unstimmigkeit [...] Und was immer man vergessen wollte, in stets erneuter Wirklichkeitsgestalt war es wieder da, kam es wieder zurück, als neue Augen, als neuer Lärm, als neue Geißelhiebe, als neue Starrheit, als neues Unheil, jedes für sich seinen Eigenraum fordernd, eines das andere in furchtbarer Berührung einengend und bezwingend, und doch höchst seltsam und unstimmig alles miteinander verwoben. Unstimmig wie die Berührung der Dinge untereinander, war auch der Zeitablauf geworden; die einzelnen Zeitabschnitte wollten nicht mehr zueinander passen."(9)

Während aber das Vorhaben Vergils, Totalität zu denken und zu dichten, mißlingt, gilt dies nicht in gleicher Weise für Brochs Vorhaben, die historische Form dieses Denkens und Dichtens durch die Darstellung ihres Scheiterns zu überschreiten. Denn anders als der dargestellte Vergil kann Broch in Analogie zu Einsteins >physikalischer Person< eine geschichtstheoretische Person setzen: "die Konstituierung der abstrakten >geschichtstheoretischen Person< [hängt] von zwei Bedingungsgruppen [ab]: erstens [...] von der genauen Analyse der Geschichtsstruktur, zweitens aber von der nicht minder strukturellen Analyse des Bewußtseins als solchem. Die Physik braucht diese zweite Bedingungsgruppe nicht zu berücksichtigen, da sich ihre >physikalische< Person auf die Sehakt-Funktion reduziert, also auf etwas, das mathematisch zu definieren und zu verifizieren ist."(10) Für die geschichtstheoretische Person gilt dies aber nicht und es ist daher keineswegs paradox, wenn Brochs angestrebte strukturelle Analyse des Bewußtseins angesichts der Drohung eines Todes erfolgt, der kein beliebiger, sondern der Tod der Dichtung selbst ist. Wie im Falle der cartesianischen Meditationen handelt es sich hier nicht um einen existenziellen Erfahrungsbericht, sondern um ein methodisches Prinzip: Broch führt den Tod als Bedrohung jeglicher Struktur ein, um ihren labilen Ort im Bewußtsein um so besser wahrnehmen zu können.

Deshalb ist, wie der von Brochs Text faszinierte Einstein auch sogleich erkannte, der Tod des Vergil nicht nur ein Geschichtsroman, er handelt auch von der erkenntnistheoretischen Erschütterung eines katastrophischen Bewußtseins, mit der sich der Physiker zum Glück nicht auseinandersetzen muß. Hier wird in einem radikalen Gedankenexperiment, das nur um seiner selbst willen betrieben wird, der Mensch nicht aus seinem physikalischen, sondern aus seinem historischen Ort vertrieben. Beispiel hierfür ist gerade die an barocke Dramen und Geschichtsromane erinnernde historische Akribie Brochs, die die Rhetorik des Textes durch den gelehrten Verweis auf geschichtliche Daten und eine filigrane Zitationskunst nicht etwa beglaubigt, sondern sprengt. Begründet diese Freiheit zur Selbstzerstückelung der literarischen Sprache nach J. Hillis Miller ihren ethischen Imperativ, der für die Literatur als solche gilt,(11) dann stellt sich freilich die Frage, was Broch-signifikant zu nennen ist.

Am auffälligsten ist zunächst die Kontrapunktik zwischen der kreisförmigen Symmetrie der vier Bücher in Analogie zu den vier Elementen und einer unruhigen Bewegung innerhalb einzelner Sätze, ja Worte. Buch und Autor scheinen in Brochs eigener Aussage sich zwar darin zu finden, daß Der Tod des Vergil "nach den Prinzipien eines Quartettsatzes oder, vielleicht noch richtiger, nach denen einer Symphonie gebaut ist".(12) Dennoch und trotz dieser Familienähnlichkeit mit der Musik besteht der einzigartige Versuch Brochs darin, durch das, was er die "zweite Sprache des Menschen"(13) nennt, ein Problem zu vertiefen, das in Kants Kritik der reinen Vernunft ungelöst blieb. Kants Philosophie ordnete die Sprache der Dichtung dem Bereich der produktiven, aber sprachfrei verstandenen Einbildungskraft zu und verwies diese wiederum in den Bereich der Psychologie mit dem Argument, es handele sich um eine "verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele"(14). Damit verstellte sich Kant selbst die Lösung des von ihm durchaus richtig diagnostizierten Problems des Zeitbewußtseins. Der Tod des Vergil ist hier methodologisch gesehen beachtenswert, indem er Kants letztlich irrationale Antwort, die >verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele< lasse sich nicht begreifen, neu überdenkt. Denn in Brochs Dichtung geht die Bezeichnung zeitlicher Bestimmungen und zeitlicher Verhältnisse mit der Selbstbezeichnung der Sprache ineins.

Es wird hier also, mit anderen Worten, die eigentliche Gestalt der Zeit als Dichtung erfahrbar und faßbar. Die zweite Sprache des Menschen ist genauer gesagt die Schrift, die hinsichtlich der Geltung die erste genannt zu werden verdiente, da sie die Zeit erzeugt, von der die genetisch gesehen erste Sprache des Menschen, die Stimme, abhängig bleibt. Indem Broch innerhalb der Geometrie der Symphonie "das Spiel der urplötzlichen Vermischung aller Sphären", das "große Spiel des Sphären-Durcheinanders"(15) betreibt, vernebelt er keineswegs diese Erkenntnis, sondern weist mit der zeiterzeugenden Schöpferkraft der Dichtung zugleich auf einen zweiten signifikanten, zumeist unbeachteten Aspekt seines Textes hin, das Lachen. Es findet sich einerseits im Text im Übergang vom dröhnenden Lachen zum weisen Lächeln: Zunächst erscheint das Lachen laut, es gehört dem Pöbel an, der sich zudem wie der Tod durch "Lachensgedröhn" (148) nicht vertreiben läßt, aber das Lachen Vergils ringt sich dennoch in den Gesprächen mit den Freunden bis zum dritten Buch durch, so daß am Ende das Meer selbst lächelt (235).

Zweitens gibt es aber am Ende des Textes im vierten Buch das stille Lachen Brochs, wenn er Vergil im Kontext des alten Begriffs von Humor zitiert. Dieser Humor meint alles andere als sein späterer Ausdruck, Selbstbehagen im Endlichen zu finden, sondern die >urplötzliche Vermischung aller Sphären<, die der Tod selbst ist: "Licht um Licht ins Gegenlicht stürzend und dieses zu maßlos zunehmender Stärke schwängernd, immer mehr darin sich verdichtend, zunehmend und zunehmend, bis schließlich die Sonne selber in ihr Spiegelbild stürzte, aufgefangen vom durchsichtig emporflammenden Baumgeäste des Weltenschachtes, auch sie vergehend im Spiegelbilde, verschwindend mit diesem im hoch auffunkenden Ulmengezweige der Mitte"(16). Mit dieser kurz vor Textende vollzogenen Inversion geometrischer Spiegelung, die die zuvor aufgebaute optische Metaphorik kollabieren läßt, spielt Broch zugleich auf das sechste Buch der Äneis an. Es wird insgesamt sehr oft zitiert, besucht Äneas doch hier unter Führung der Sibylle von Cumae die Unterwelt, also jenen Ort, der als Ort des Todes zugleich Ursprung der Dichtung sein soll. Vergil selbst zitiert in diesem Buch die antike Vorstellung, daß der Schlaf in der Unterwelt zwei Türen habe, durch den die Träume ihren Weg finden. Die wahren Träume gehen aus einer Tür aus Horn, die falschen aus einer Türe aus Elfenbein. Die Ulme aber, in der Brochs Sonne selbst verflammen wird, steht im Vorhof der Unterwelt als Sitz der eitlen Träume; in jedem ihrer Blätter ist ein solcher Traum verborgen.(17)

Indem Broch die Ulme Vergils in die Mitte seiner Dichtung verpflanzt, stellt sich sein Text nicht nur auf jedem Seitenblatt als eitler Traum aus; Kants Binarismus von Verstand und Sinnlichkeit wird durch den Humor als Einbildungskraft des Dichters aufgelöst, freilich mit Mitteln, die sich bereits Vergil verdanken. Denn dieser inszeniert innerhalb seiner Dichtung Trugbilder, simulacra, als Bezeichnungsmöglichkeit der Dichtung selbst. Philosophisch gesehen bedeutet dies zwar einen infiniten Regreß. Aber der Kampf der Philosophie, solchen Trug aufzulösen, um die Einbildungskraft zu disziplinieren, indem sie auf ihren Begriff gebracht werden soll, ähnelt nur zu sehr dem Kampf des Turnus im zehnten Buch der Aeneis: Turnus wird durch ein Trugbild der Juno in einen Scheinkampf gegen Aeneas verwickelt, so daß der wahre Aeneas den Verbündeten des Turnus, Mezentius, der nun die Hauptlast des Kampfes tragen muß, verwunden und schließlich töten kann. In diesem Stellvertreterkrieg, in dem die Dichtung sich lachend rettet, indem sie falsche Bilder von sich zeigt, gegen die die Philosophie anstürmt, um in solchem Ikonoklasmus freilich nicht nur die Dichtung, sondern sich selbst zu verfehlen, liegt die verborgene Kunst nach der Kant suchte. Man kann sie eben doch "unverdeckt vor Augen legen."(18)

© Christian Sinn (Universität Konstanz)


ANMERKUNGEN

(1) In: Kommentierte Werkausgabe. Hg. v. Paul Michael Lützeler, Bd. 13/1,. Frankfurt/M. 1981, S. 397. [Im Folgenden KW].

(2) Nicht zuletzt steht hierfür der Essay Ethik. In: Der Brenner 8. H. 13/14, (1914), S. 684-690: Lichtenberg, Kraus, Kant und Meister Eckhart, Satiriker und Philosophen werden hier unter dem Kriterium der Menschlichkeit nicht nur ethisch, sondern auch satirisch vereint.

(3) Hannah Arendt, Hermann Broch. Briefwechsel 1946 bis 1951. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt/M. 1996, S. 97.

(4) KW 9/2, S. 152.

(5) KW 9/2, S. 124.

(6) KW 9/2, S. 152.

(7) KW 9/1, S. 73.

(8) KW 5, S. 327.

(9) KW 4, S. 28-29.

(10) KW 10/1, S. 309-310.

(11) J. Hillis Miller: Response to Vincent Leitch. In: Critical Inquiry 7 (1980), S. 611-614. : "This imperative in the language forces the critic or teacher to repeat, sometimes in spite of himself, the heterogenity, the resistance to a monological reading, which is present in any literary work"

(12)KW 4, S. 475.

(13)KW 4, S. 197.

(14) Immanuel Kant: Werkausgabe. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Bd. III. Frankfurt/M. 1982, S. 190 [KrV B181].

(15) KW 4, S. 121.

(16) KW 4, S. 447.

(17) Aen. 6; Z. 282-284; 893-896.

(18) KrV B182.


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For quotation purposes:
Christian Sinn (Universität Konstanz): Hermann Brochs Werttheorie und Der Tod des Vergil. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/05_4/sinn16.htm

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