Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. August 2006
 

5.7. Theater und Fest - Ursprünge und Innovationen in Ost und West
Herausgeber | Editor | Éditeur: Han-Soon Yim (Seoul National University)

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Volkstheater und (soziales) Fest

Spektakuläre Theaterwelten 1974

Ulf Birbaumer (Wien)
[BIO]

 

Ein vor einigen Jahren in Italien erschienenes Theaterlexikon, eines der wenigen, das den Begriff festa/Fest überhaupt aufnimmt, schreibt am Ende des einspaltigen Artikels über den Zusammenhang von Theater und Fest: "Ciò che distingue la festa dallo spettacolo di teatro è che nella prima non ci sono spettatori, ma tutti i partecipanti sono attori, ognuno con il proprio ruolo, la propria parte e una ‚parte’ è anche quella di non direttamente protagonisti, ma degli apparenti spettatori" (Dizionario dello spettacolo, S. 401). Der "actuant" befindet sich gewissermaßen in einer Art Doppelrolle, die auch für die Teilhabe an bestimmten Formen von Spektakelkunst gelten mag. Somit scheint eine These durchaus verifizierbar, derzufolge Theater und Fest, vor allem aber teatro popolare, spectacle vivant, performance (für alle diese Begriffe gibt es keine brauchbare deutsche Entsprechung) und soziales Fest sehr wohl zusammen gehören. Da aber Begriffe wie Volkstheater, Volksstück, Volksschauspiel etc.(siehe Aust/Haida/Hein, S. 31 ff.) alles andere denn klar sind, erlaube man mir bitte einige Annäherungen. Volkstheater also in welchem Sinne? Ariane Mnouchkine beispielsweise beruft sich für ihr théâtre populaire der 60er und 70er-Jahre, vor allem die Revolutionsspektakel "1789" und "1793" sowie "L’Age d’Or" betreffend, auf Jacques Copeau und seine Retheatralisierung des Theaters(1913) - auf ein théâtre théâtral somit, das schon Meyerhold ein Jahr zuvor in seiner Vorliebe für das Balagan (Meyerhold, Band 1, S 196ff..) bevorzugt, wenn er davon spricht, daß der Schauspieler dieser puren Theaterform sich in das Studium der fabulösen Techniken jener Epochen stürzt, wo das Theater noch theatralisch war (Vgl. L’Age d’Or, S.23). Die Mnouchkine zielt auf dieses retheatralisierte Theater und verbindet es mit der Arbeitsmethodik der "écriture collective", ein Begriff, der auch bei Armand Gattis théâtre éclaté auftaucht. Retheatralisierung meint szenische Rückgriffe auf das Simultantheater der spätmittelalterlichen Marktplätze mit seiner Stationendramaturgie, auf die arte giullarata,auf die Commedia dell’arte im Sinne von FerdinandoTavianis commedia in piazza. Volkstheater als das "andere Theater" (Rudolf Münz, 1979) oder auch, fast gleichzeitig mit Mnouchkines Théâtre du Soleil, als "derbes Theater" (Peter Brook, 1969). Im "leeren Raum" stellt Brook es dem "tödlichen" und dem "heiligen" Theater gegenüber und findet schließlich zu einer Synthese im "unmittelbaren", im "notwendigen Theater", le théâtre nécessaire). Dieses "Notwendige" beinhaltet auch einen möglichst engen Kontakt von Schauspieler und Zuschauer, eine gewisse Nähe zum Spielraum, die Einfachheit (und Unbequemlichkeit) der Sitzbänke und das schlußendliche Beisammensein aller Anwesenden zu einem gemeinsamen Bankett, oder Picknick, mit Speise und Trank(1). Ein sehr überzeugendes Beispiel war da die Uraufführung von Jean-Claude Carrières dreiteiliger Fassung des indischen Epos "Mahabharata" in einem Steinbruch bei Avignon, wo man müde, aber glücklich bis Sonnenaufgang beisammensaß (Avignon-Festival, Sommer 1985; siehe Billington:.In: Théâtre en Europe, oct.1985, S. 9 ff.)

In diesem Zusammenhang mit dieser Form eines spectacle vivant contemporain scheinen vorerst noch zwei theoretische Hinweise relevant: ein theateranthropologischer und ein ethnoszenologischer. Piergiorgio Giacchè, wohl einer der kreativsten und fundiertesten europäischen Theateranthropologen weist in "Lo spettatore participante"(Giacchè, 1991) darauf hin, daß Theater als reales anthropologisches Forschungsfeld nur dann sinnvoll "beackert" werden kann, wenn diese Untersuchungen, bei strikter Kontemporaneität, sicher auf zwei Säulen stehen, nämlich der der Erforschung des Körpers des Schauspielers und der der Erforschung des Körpers des Zuschauers, und so zu einer nützlichen Synthese von Sozial- und Kulturwissenschaft führen können.

Noch näher an unsere postulierte Verbindung von Theater(spectacle vivant) und (sozialem) Fest führt Pradiers "Ethnoszenologie" (Pradier, 1996; 1997) heran, die er als études dans les différentes cultures des pratiques et des comportements humains spectaculaires organisés(PCHSO) definiert. Diese neue Disziplin, wohl der Theaterwissenschaft am nächsten, dient primär der Erklärung des liminoiden Beziehungsgeflechts zwischen Ritual, Fest und Spektakelkunst, aber auch der eines Paradigmenwechsels in der Betrachtung von spectacle vivant contemporain, ja einer erneuerten Theaterhistoriographie ganz allgemein (vgl. Birbaumer: Theater und "mondialisation", 2002, S. 104 f.), wobei spectaclaire am ehesten dem englischen performing entspricht. Der Mittelteil dieses Neologismus geht auf das griechische skênê zurück, das primär ein Gebäude, eine Hütte, ein Zelt, eine Baracke meint. Es bedeutet ferner ganz allgemein die Bühne, auch in der einfachsten Form der auf Fässer gelegten Bretter, wie sie - ikonologisch vielfach belegt - in der commedia(dell’arte) in piazza Verwendung fand. skênê bedeutet aber auch Bankett oder Festessen. Pradier: «La greffe de la nourriture n’est pas ici sans interêt si l’on songe à la liaison qu’elle entretient avec le spectacle dans de nombreuses cultures. L’espace théâtral au Japon ne fut-il pas celui d’un banquet?» (Pradier, 1996, S. 14)

Die männliche Form skênos meint nicht nur den Körper des Schauspielers, sondern auch den Körper des Autors (im Sinne des actuant bei Grotowski) sowie den Körper des Zuschauers.

Zur création collective von "L’Age d’Or" sagt Mnouchkine übrigens sinngmäß: Wir alle sind Autoren! (Nicht allerdings, wir alle sind Schauspieler!) "Nous avons des auteurs, nous sommes tous auteurs. C’est de plus en plus vrai. Je ne vois pas pourquoi on a le droit de s’intituler auteur que si l’on a une plume. Un comédien qui improvise est un auteur, un auteur dans le sens le plus large du terme. Alors, des auteurs, nous en avons." (A.M., interview avec Denis Bablet. In: Travail théâtral, automne 1974, S.11); ganz im Sinne der Commedia dell’arte also, mit deren Hilfe auch der Einstieg in die Produktion gewagt wird. Sie soll auch als Beispiel dienen für Theater als Fest.

Dazu haben die Mnouchkine und das Soleil von Beginn an in der Cartoucherie in Vincennes auch räumlich die Voraussetzungen geschaffen, etwa durch den Vorraum, wo gegessen, getrunken, gelesen, diskutiert, wird (in der Pause und nach der Aufführung auch mit den Schauspielern und der Prinzipalin), bunte Lampen vermitteln den Eindruck einer "guinguette à quatre sous" oder eines mediterranen Strandfestes. Das ist übrigens auch heute noch so ähnlich. Dazu kommt die "offene Garderobe", wo die Künstler freiwillig Einblick gewähren.

Für "L’Age d’Or" tat die Ausgestaltung des gesamten Theaterraums (wie schon in den Revolutionsstücken "1789" und "1793") ein Übriges zum rampenlosen Zusammensein von Schauspielern und Zuschauern inmitten von Historie (17./18.Jht.), Gegenwart (70er-Jahre des 20.Jahrhunderts) und Zukunft - Utopie der Veränderung durch Theater?

Veränderbar ist, wie gesagt, vorerst einmal der Theater-Raum. Leere, vielseitig verwendbare Hallen - der "leere Raum"(Peter Brook) - die Gründerzeit-Industriearchitektur der Cartoucherie, einer ehemaligen Pulverfabrik, in der Guy-Claude François eine "paysage fabuleux" gestaltet, die Bernard Dort als eine Welt absoluten Wohlfindens beschreibt:

"Quatre dunes formant cratère, recouvertes de tapis brosse clair que surplombe un plafond de miroirs cuivrés, parcouru de tout un réseau d’ampoules électriques qui rappelle, de nouveau, les guirlandes de lumière des Palais de Merveilles dans les foires. Mais alors que ces Palais semblent souvent froids et glacés, ici, tout est chaud, presque tendre. Bien sûr, les tapis brosse sont légèrement glissants [...], mais même les glissandes et les chutes font partie du plaisir [...]. Alors on s’assied sur une des pentes du premier cratère: on s’installe, la conteuse arabe, Salouha, qui va mener le spectacle (in Art der orientalischen «conteuse», d.Verf.) vous donne quelques conseils, des acteurs vous disent que là on sera bien placé et que l’on verra et entendra [...]. Le spectacle peut vraiment commencer. Mais, en fait, ‘L’Age d’Or’ a déjà débuté: on est ailleurs, dans ‘ce climat doux’, dans cette ‘douceur’... (Entre le passé et le futur: la douceur et le jeu. In: Travail Théâtral, automne 1976, S. 84).

Sinnlichkeit und Gefühle der Geborgenheit stellen sich ein, aber ohne einzulullen ins Unkritisch-Kulinarische (der Vorwurf der damaligen brechtianischen Pariser Kritik ging wohl ins Leere), dazu ist «L’Age d’Or» zu sehr Armes Theater, zu rauh im Ästhetischen, zu sehr auf den gegenwärtigen Alltag (1975 und auch heute wieder sehr aktuell) gerichtet: alltäglicher Faschismus, soziale Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung, Ausbeutung. Krasser Realismus wäre kontraproduktiv.

Das Soleil bedient sich eines historischen theatralen Körpers, nämlich der tipi fissi der Commedia dell’arte, der Masken, des Jahrmarkts und seiner Spektakelkunst. Und sie führt die arabische Erzählerin Salouha ein, aber nicht als die aus der Rolle tretenden "Moderatorin", sondern als Vermittlerin von der Historie zur Kontemporaneität der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Ein dramaturgischer Kunstgriff (vgl. Simone Seym, S.92), der den Weg zur "Erkenntnis der Gegenwart" (Wilfried Schulz, zit.von Seym, S.99) als einen Pfad vom "Unstrukturierten zum Typischen" anbietet, und zwar "in der typischen Art der alten arabischen Erzähltradition, wonach das Erzählen von Geschichten in den Lebensalltag integriert ist" (Seym, S. 92). Die Darstellerin der Salouha, Lucia Bensasson, hat dafür eigens Studien in Nordafrika durchgeführt.Sie berichtet nicht "neutral", sondern spielt die Frau des maghrebinischen Gastarbeiters Abdallah, woduch das berichtende ("epische") Element zur anwaltschaftlichen Schilderung der sozialen und politischen Nöte mutiert: parti pris, wie Ariane Mnouchkine es bereits in den Revolutionstücken vorführte.

Salouha ist es, die es ermöglicht, Arlequin in Abdallah zu verwandeln, die den Harlekin-Sprung (siehe Münz: Theatralität und Theater, 1998, S.60ff., hier S.62) nahtlos in die artistischen Körperlazzi Abdallahs auf der Reeling und dann auf der Landebrücke im Hafen von Marseille überleitet und Pantalone in den skrupellosen Bauunternehmer verwandelt. Arlequin, der Gastarbeiter aus Bergamo in den Diensten des geizigen venezianischen Kaufmanns Pantalone, wird ins 20. Jahrhundert übertragen, wo in Abdallah ein noch schwächerer heutiger Unterprivilegierter gefunden wird. Aus reiner Profitgier jagt Herr Pantalone den arabischen Arbeiter (er braucht das dafür versprochene Geld für seine in Nordafrika verbliebene Familie) schließlich bei stürmischen Mistral aufs Baugerüst, von wo ihn eine Bö in den Tod reißt - zum Rhythmus von "Dies irae" aus Verdis Requiem.

"Une mort qui, dans l’utopie [Realutopie im Sinne Ernst Blochs, d.Verf.], provoque la révolte des ouvriers. De toutes parts ils arrivent, et poursuivent les capitalistes, leurs complices et leurs larbins, qui grimpent au mur dans une fuite grotesque, plus rapides les plus forts et derrière eux les valets... Les voilà accrochés au mur, s’y agrippants comme des cafards. Et le mur devient cible comme si l’on allait faire un carton sur eux... Vision de rêve." Da dringt plötzlich Licht durch die Fenster der Cartoucherie, und Salouha, die Erzählerin, kommentiert engagiert, aus dem Blickwinkel der Frau aus dem Maghreb natürlich(wir erinnern uns an den dramturgischen Kunstgriff), mit Trotz und Hoffnung (Ernst Bloch, siehe Seym, S.99) in Stimme und Körperhaltung, in dynamischem Gestus: "Da sind wir noch nicht (première ébauche!), aber der Tag bricht an...Vielleicht beginnt jetzt erst alles!"

Schulz kommentiert den scheinbar offenen Schluß in brechtschem Sinn: "So wird die Gegen- wart von der Erzählerin als vergangene gezeigt, die gleichzeitig den Keim schon zu ahnender Veränderung in sich trägt." (Schulz, zitiert nach Seym, 1992, S.99) Zumal Lucia Bensasson noch mit Maske auftritt, diese aber bei den letzten Sätzen nach oben schiebt.

Doch bevor Salouha die Zuschauer aus dem Spektakel entläßt, tritt noch einmal Pantalone neben den Toten und erklärt den Zuschauern, daß das Stück nunmehr beendet sei und sie nach Hause gehen könnten. Ja, erklärt er, so ende das Stück immer. Der Absturz in die Realität(die These). Doch da kommt plötzlich La Ficelle (der Arbeitsvermittler, der Abdallah nach seiner Ankunft in ein Massenquartier einweist) angerannt und verkündet, daß demonstrierende Arbeiter anmarschiert kämen(Antithese) mit roten Fahnen und Transparenten. Harlekin redivivus(Synthese). "C’est la fête!" Das Fest kann beginnen. Das Fest als Synthese (subtile Dialektik!) von Realität und Utopie. Wer derlei heutzutage als verpönt ansieht, möge das revolutionäre Fest als dramaturgischen Bestandteil der gesamten Produktion nehmen, was ja von vielen Theatermachern, gerade in den späten sechziger und in den siebziger Jahren des 20.Jahrhunderts, unternommen wird. Vision de rêve - von Ariane Mnouchkine, einer der "Autorinnen" dieser "création collective", mit leiser Ironie kommentiert: das sei ja nur eine "première ébauche", eine erste Fassung.

Mit dem etwas ausführlicher präsentierten Théâtre du Soleil der 70er-Jahre, das mit seinem Corpus und Gestus auch in die Theatergeschichte zurückgreift, sollte die Integration von Festkultur in populäre Spektakelkunst (spectacle vivant contemporain) verdeutlicht werden.

Und das Soleil steht bei weitem nicht allein. Auch der geniale, 1997 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Schauspielerautor Dario Fo greift mit seinen Politfarcen zurück auf den mittelalterlichen Giullare (Jokulator), auf die Volkspassion (Mistero Buffo) und vor allem auf die Commedia dell’arte, zwar ohne Maske, aber auf die Sprech- und Körperlazzi sowie die dramaturgische Struktur der commedia all’improvviso. Denken Sie nur an eines der bekanntesten Stücke, "Bezahlt wird nicht!" (Non si paga! Non si paga!), 1974 entstanden, wo christdemokratische Regierungspolitik, basisfremde Opposition und lahme Gewerkschaften scharf aufs Korn genommen werden, die eine Verelendung der großstädtischen Arbeiterbanlieus bewirkt haben (merk’s Paris 2005!), aus der nur mehr Selbsthilfe, übrigens von Frauen getragen, heraushilft. (Gratiseinkauf im Supermarkt beispielsweise). Fo selbst erläutert die Verknüpfungen mit der italienischen commedia populare:

"Die Triebfeder, der Schlüssel zum Ganzen, ist - wie schon in den alten Volksfarcen aus dem Neapolitanischen und dem Venezianischen - der Hunger. Um das Problem des Appetits zu lösen (atavistisch), versucht jeder zunächst, und ganz instinktiv, sich auf eigene Weise durchzuschlagen, um dann das Bedürfnis zu verspüren, gemeinsam zu agieren, sich zu organisieren und vereint zu kämpfen, um mehr zu erreichen als das bloße Überleben." (Dario Fo: Einleitung zu "Bezahlt wird nicht!", 1976, S. 6f.)

Zwischenbemerkung: Auch hier geht es, wie schon in "L’Age d’Or", gegen den prall gefüllten Geldbeutel der Mächtigen - ein semantischer Aspekt des Goldenen Zeitalters. Andere wären: die soziale und politische Utopie und überhaupt die andere Welt, zu der Harlekin und Harlekina die Verbindung herstellen (vgl. Münz, 1998).

Es geht also ums Überleben. Nach einem brutalen Polizeieinsatz am Schluß der Geschichte setzt Fo sein utopistisches comica finale drauf. Die Arbeiter schlagen die "Büttel der Bosse", die keuf oder feuc der heutigen Pariser Banlieusards, in die Flucht. Die Zwangsdelogierung wegen nicht bezahlter Mieten und Gas-Stromrechnungen wird gestoppt, die organisierten Waren werden nicht zurückgegeben, die "neue Art von Streik, bei dem einmal die Unternehmer draufzahlen", setzt sich durch.

"Einem Großkapitalisten kannst du nicht sagen: Ach bitte, würden Sie vielleicht einmal ein Stück rücken. Wir kriegen keine Luft mehr. Könnten Sie nicht so freundlich sein, ein bißchen verständnisvoller ... einigen wir uns ...nein! Die einzige Art, mit ihnen zu reden, ist daß du sie ins Klosettbecken steckst...und dann an der Strippe ziehen! [ Vgl. auch Konstantin Wecker, d. Verf.] Dann haben wir eine bessere Welt, vielleicht mit weniger hellen Schaufenstern, weniger Autobahnen...und weniger Gaunern...ich meine die wirklichen Gauner, diese kleinen, mit den dicken Bäuchen. Und Gerechtigkeit hätten wir! Wo wir, die wir immer für andere den Karren aus dem Dreck gezogen haben, endlich mal an uns denken können... Häuser bauen, die uns gehören... und ein Leben führen, das uns selber gehört!
Als zufriedene Menschen leben! Wo der Wunsch zu lachen wie ein Fest aus dir herausbricht"! Der Wunsch zu spielen und Feste zu feiern... und endlich eine befriedigende Arbeit zu leisten... wie Frauen und Männer und nicht wie halbverblödete Tiere... die ohne Freude und Phantasie dahinvegetieren! [...] Eine Welt, in der man wieder merkt, daß es noch einen Himmel gibt...und Pflanzen, die blühen...und daß es sogar einen Frühling gibt [...]
Und wenn du eines Tages sterben mußt, stirbt nicht ein alter ausgepumpter Maulesel, nein, ein Mensch stirbt, ein Mensch, der frei und zufrieden gelebt hat, mit anderen freien Menschen."
(Fo: Bezahlt wird nicht!, S. 83f.)

Ein utopistisches Finale und gleichzeitig auch ein bewußt aufgesetztes Happy End (in der Bitterkeit an Nestroy erinnernd), wo sich alles in Wonne auflöst und die Liebenden einander bekommen. Ein Finale, das gleichzeitig einen positiven Effekt erzielen will: den Übergang von einem populären Theaterspektakel in ein fröhliches Volksfest, wo gegessen, getrunken, getanzt, gesungen wird, wo vielleicht aber auch Möglichkeiten diskutiert werden, wie man den status quo der Arbeitswelt (inkl.Arbeitslosigkeit) und des sozialen Lebenszusammenhangs ändern könnte.

Ich möchte aus Gründen der Übersichtlichkeit, aber auch der eng bemessenen Zeit in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts verweilen. Auch weil in diesem Jahrzehnt nicht nur im etablierten Festivalbetrieb, sondern auch in der alternativen Theaterarbeit, oder wie Barba es sagt, im Dritten Theater, die Reise und das damit verbundene Sich-Austauschen im Kulturellen ein wichtiges Movens darstellt. Man denke nur an Bob Wilson, Peter Brook oder Armand Gatti. Eugenio Barba (Odin Teatret, ISTA) spricht dabei gerne von Tauschhandel.

(Barba, 1985, S.175ff.) Erscheint bei Mnouchkine und Fo, so verschieden die Intentionen und die Ästhetik ihrer Arbeiten auch sein mögen, das Fest dramaturgisch in die Produktionen - gleichsam als letzter Akt des Spektakels - integriert, so setzt Barba auf den Tauschhandel. Dazu ein Beispiel aus eigener Anschauung.

"Das Buch der Tänze", 1974 auf einer Reise durch die Mittelmeerländer kreiert (Entstehungsjahr!), war im Rahmen von "Théâtre en marge" (Theater am Rand; im Französischen Wortspiel mit en marche, in Vorwärtsbewegung) in die Bretagne eingeladen worden (Maison de la Culture, Leitung: Chérif Kaznadhar) und spielte in dem Dorf Saint Martin-sur-Ouste. Nachdem jeder aus der Truppe seinen Tanz getanzt und auch ein oder mehrere Begleitinstrumente gespielt hatte, schlug Barba den Anwesenden in der hölzernen "Kulturscheune" den Tauschhandel vor: zeigt ihr uns doch nun eure Tänze. Drei Musiker, darunter ein fabelhafter Akkordeonist, begleiteten nun mehr als eine Stunde lang die Dorfbewohner bei ihren alten, seit der Renaissance kaum veränderten Gruppentänzen. Bald mischten sich auch die Schauspieler des Odin unter die Tanzenden, und der Abend endete schließlich weit nach Mitternacht in einem gemeinsamen Volksfest bei Cidre, gerösteten Kastanien und bretonischer Volksmusik. Aufschriften wie "Vive la Bretagne libre!" gaben dem Schlußfest auch noch politisch- autonomistischen Charakter.

Ich setze meinen, vorläufigen, Schlußpunkt mit dem in Monaco 1924 geborenen Armand Gatti, der mit seinen über achtzig Jahren im Rahmen der parole errante von Montreuil bei Paris ausgehend immer noch mit voller Energie seine poetischen Ereigniskunstwerke primär in den francophonen Regionen schafft, hat bei vielen seiner Arbeiten den umgekehrten Weg eingeschlagen. In La colonne Durruti, Le lion, sa cage et ses ailes, Ambiorix ou l’arched’Adelin, 1971-1975 ( siehe Birbaumer, 1981, S.313 ff.), steht das Fest schon am Beginn, um an die Zielgruppe und ihre Individuen näher heranzukommen und um in der Folge gemeinsam mit ihnen die création collective entstehen zu lassen, als work in progress: in Erinnerung an die individuelle und kollektive Geschichte und ihren aktuellen Umgang mit ihr.

Für eine bessere Zukunft auch das.

© Ulf Birbaumer (Wien)


ANMERKUNG

(1) Peter Brook: "So verstehe ich ein notwendiges Theater: eines, in dem zwischen Schauspieler und Zuschauer nur ein praktischer Unterschied besteht, aber kein grundlegender." (Der leere Raum, 1969,S.215)


LITERATURHINWEISE

Aust, Hugo/Haida, Peter/Hein, Jürgen : Volksstück. Vom Hanswurstspiel zum sozialen Drama der Gegenwart, München 1989

Barba, Eugenio : Jenseits der schwimmenden Inseln, Hamburg 1985

Billington, Michael : Un serpent de feu sur le sable. In: théâtre en europe n° 8, octobre 1985, S. 8 ff.

Birbaumer, Ulf: Theorie und Praxis alternativer theatralischer Kommunikation am nicht-institutionalisierten Theater in Europa nach 1965 (u.a. Theaterarbeit von Fo, Boal und Gatti), Habil., Wien 1981

ders.: Theater und "mondialisation". Fragen kulturwissenschaftlicher Terminologie aus der Sicht der Theater- und Medienwissenschaft. In: TRANS. Dokumentation eines kulturwissenschaftlichen Dialogversuchs im WWW (1997-2000), hrsg. von H.Arlt u.a., St.Ingbert 2002

Brook, Peter : Der leere Raum. Möglichkeiten des heutigen Theaters, Hamburg 1969

Dizionario dello spettacolo del ‘900 , a cura di Felice Cappa e Piero Celli, Milano 1998 (Stichwort: festa)

Giacchè, Piergiorgio: Lo spettatore partecipante. Contributi per un’antropologia del teatro, Milano 1991

Meyerhold, Wsewolod E.: Balagan (1912) = Schriften, Band 1, Berlin 1979, S.196 ff.

Münz, Rudolf: Das >andere< Theater, Berlin 1979

ders.: Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen, Berlin 1998

Pradier, Jean-Marie: Ethnoscénologie: La profondeur des émergences. In: La scène et la terre. Questions d’ethnoscénologie, Arles 1996, S.13 ff.

Seym, Simone: Das Théâtre du Soleil. Ariane Mnouchkines Ästhetik des Theaters, Stuttgart 1992

Taviani, Ferdinando/Schino, Mirella: Le secret de la Commedia dell’arte, Firenze 1984 (version francaise)

Théâtre du Soleil: L’Age d’Or. Première Ebauche, Paris 1975

Travail Théâtral, revue trimestrielle (ed.La Cité, Lausanne) ; automne 1974 (Interview von Denis Bablet mit Ariane Mnouchkine), automne 1976 (Kritik von Bernard Dort).


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For quotation purposes:
Ulf Birbaumer (Wien): Volkstheater und (soziales) Fest. Spektakuläre Theaterwelten 1974. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/05_7/birbaumer16.htm

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