Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Mai 2006
 

5.9. Kultur als dritte Kraft neben Politik und Wirtschaft?
Herausgeber | Editor | Éditeur: Peter Wolsdorff (Institut neue Impulse durch Kunst und Pädagogik)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Transkulturelle Theaterarbeit am Institut für Afrikanistik, Universität Wien und daraus resultierende Projekte: das Twin Vision Theatre Project

Birgit Fritz (Wien)

   

Die Lehrveranstaltung "Transkulturelle Theaterarbeit" mit Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländern - mit Afrikaschwerpunkt - wird seit Sommersemester 2003 am Institut für Afrikanistik und neuerdings auch am Institut für internationale Entwicklung abgehalten. Aufgrund des großen Interesses der Studierenden an praktischer Arbeit gibt es seit dem Wintersemester 2004 auch eine Parallelveranstaltung dazu.

Studierende der Universität Wien treffen in dieser Blocklehrveranstaltung auf aus unterschiedlichen Gründen in Wien lebende Menschen vorwiegend afrikanischer Herkunft, größtenteils Männer. Das Hauptziel der Arbeit war und ist, schwarzen und weißen in Wien lebenden Menschen mit den Kommunikationsmitteln des Theaters eine Begegnung außerhalb der gewohnten Normen zu ermöglichen.

Die Arbeit findet nach zwei Vorbesprechungen an zwei aufeinander folgenden Wochenenden statt und passiert in Englisch beziehungsweise Französisch, so Bedarf besteht und es Übersetzungsmöglichkeiten gibt. Die Anzahl der Studierenden ist zwölf, die Anzahl der afrikanischen Gäste variiert zwischen fünf und zwölf. Manchmal gibt es in in der Lehrveranstaltung bis zu sieben verschiedene Muttersprachen, auch die Studierenden kommen aus unterschiedlichen Ländern wie der Türkei, Jordanien, Ägypten, Indien, Sri Lanka, der Tschechischen Republik, Rumänien, Slowakei oder sind Afro-ÖsterreicherInnen.

Die Kontakte zur afrikanischen Gemeinschaft in Wien werden hauptsächlich über Ute Bock und SOS Mitmensch hergestellt, Organisationen, die sich beratend und begleitend um AsylwerberInnen kümmern und durch die Mundpropaganda ehemaliger Gäste. Einige der ehemaligen TeilnehmerInnen kommen immer wieder oder wollen immer wieder teilnehmen und fühlen sich zum Teil schon für die Arbeit verantwortlich, schicken Freunde und schauen selbst an den Workshoptagen vorbei, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist.

Gearbeitet wird mit Übungen und Aktivitäten des brasilianischen Theatermachers Augusto Boal und dem von ihm erarbeiteten Methodenkatalog des "Theaters der Unterdrückten", verwoben mit anderen theaterspezifischen Übungen zu Körper, Stimme und Text, je nach Befindlichkeit und Zusammensetzung der Gruppe.

In der gemeinsamen Arbeit wird weitgehend auf Fragen verzichtet, die bei normalen Begegnungen von ÖsterreicherInnen und Nicht-ÖsterreicherInnen gestellt werden: Angaben über Alter, Herkunft, familiäre Details, Gründe des Aufenthalts in Österreich, Zukunftsperspektiven sind für Menschen mit laufendem Asylverfahren unangenehm und einschränkend und für die Theaterarbeit vorerst irrelevant. Es wird prinzipiell vermieden, eine als diskriminierend erlebte Alltagsrealität in der Arbeit zu reproduzieren.

Fokussiert wird gemeinsames Arbeiten in einem sicheren Umfeld, mit klar umrissenem Rahmen und in respektvollem Umgang. Kennenlernen mit Spiellust, Humor, ungewöhnlichen Anforderungen im Spiel. Gemeinsames Erforschen, Ertasten, Umgehen mit Unterschieden im Kontakt, bei Begegnungen, z.B. im Blickverhalten, werden im Schau-Spiel erfahren und gemeinsam reflektiert. Im zweiten Teil des Workshops werden in Form von Statuentheater Geschichten erzählt, aus dem Alltag, aus der Tradition, aus Legenden, Mythen und Märchen, die anschließend von den Anwesenden interpretiert werden. Freie Assoziation bietet Raum für das Sichtbarwerden von Differenzen, Glaubenssätzen, Werturteilen und Einstellungen, die gleichberechtigt nebeneinander stehen bleiben können.

Ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit ist das gemeinsame Essen und Kochen an den vier Workshoptagen sowie ein abschließendes kleines Fest für Bekannte und Freunde, denen die Workshopszenen, meist mit musikalischer Begleitung, vorgestellt werden.

Die studierenden TeilnehmerInnen bekommen nach Abgabe einer schriftlichen Reflexion und Protokollen ein Zeugnis ausgestellt, die afrikanischen GastteilnehmerInnen erhalten ein Teilnahmezertifikat.

Die boalsche Theaterarbeit anerkennt jeden Menschen als Schauspieler/SchauspielerIn und betrachtet das Leben als Bühne, auf der wir alle unterschiedliche Rollen spielen. (Vgl. Erwing Goffman) Boals minimalistische Definition von Theater ist: Jeder Mensch ist Theater, da jeder Mensch die Fähigkeit besitzt zu handeln und seine Handlungen zu betrachten (also Protagonist und Publikum in einer Person verkörpert).

In seiner politisch motivierten Theaterarbeit geht es darum, die verschiedenen Rollen des Lebens differenzierter wahrzunehmen und unsere Handlungen zu entmechanisieren, um dadurch größeren Handlungsspielraum zu gewinnen.

Sein Spielekatalog gliedert sich in drei Hauptteile: Spiele, die dazu dienen, genauer hinzuschauen, um besser zu sehen, genauer zu horchen, um besser zu hören und Dinge zu tun, um sie zu begreifen. In dieser forschend-spielerischen Arbeit erkennen sich Menschen in ihrer Conditio Humana, und Ängste, Vorurteile schwinden, während die Freude am gemeinsamen Tun wächst.

Ganz bewusst wird auf thematische Einschränkungen während der Arbeit verzichtet, was des öfteren von Seiten der österreichischen Studierenden auf Kritik stößt, weil sie sich zum Teil erwarten, dass im Workshop mit Problemen wie Rassismus und Vorurteilen umgegangen wird. Der Wunsch ist verständlich, das Lehrziel ist aber vorrangig ein anderes: nämlich den Beweis anzutreten, gemeinsam kreativ sein zu können, abseits aller Differenzen und politischer Hintergründe. Die teilweise Auflösung von Rassismen und Vorurteilen ist naturgemäß ein indirektes Resultat der Arbeit.

Der gemeinsame Lohn sind vier angenehme, lehrreiche, intensive Tage, die im besten Fall in neuen Kontakten münden, in einer kleinen Annäherung von Menschen, die sich sonst vielleicht nie begegnet wären.

Die mündlichen Rückmeldungen der AsylwerberInnen sind überaus positiv: Viele sagen, dies wäre der erste Anlass gewesen, mit ÖsterreicherInnen außerhalb von Amtskontakten zu sprechen; einige sagten, sie hätten die ganze Woche nur auf dieses Wochenende gewartet, andere meinten, sie hätten hier erstmals die Möglichkeit und den Raum, sich und ihre Kultur auf positive Art und Weise zu präsentieren, die Workshoptage seien wie ein Zuhause gewesen, ein Raum, wo man so sein dürfe wie man ist, ein Fest.

Für viele Studierende ergibt sich im Anschluss an die Arbeit eine Vielzahl von Fragen. Sie reflektieren die Arbeit unter verschiedensten Gesichtspunkten, immer Bezug nehmend auf ihr Studium und dafür relevante Literatur. Für viele scheint die theaterpädagogische Tätigkeit an sich eine interessante Erweiterung ihrer Ausbildung, und sie beginnen, sich mit verschiedenen Theaterformen zu beschäftigen.

Obwohl Boals Methoden bereits in den 80er Jahren in Österreich vielerorts angewandt wurden, ist gerade jetzt eine Zeit, in der sich viele mit der scheinbaren Demokratie, in der wir leben, nicht mehr zufrieden geben wollen, und in der sie mit Methoden des Theaters der Unterdrückten auf gesellschaftlich bedenkliche Entwicklungen Einfluss nehmen wollen. Das Theater, das die Realität verändert und den Zuschauer vom passiven Wesen zum Protagonisten der Handlung werden lässt, erscheint angesichts einer unsozialen Politik attraktiver denn je.

Die größte Frage oder auch der größte Zweifel der Studierenden, der sich aus der Arbeit ergibt, ist der, wie und ob sich das gemeinsame kreative Schaffen in einen gesellschaftlichen Prozess außerhalb der Universität übertragen lässt und wie sich eine solche Begegnung über einen längeren Zeitraum hinweg entwickeln würde. Doch bevor ich auf dieses Experiment zu sprechen komme, ein paar Sätze zur Eingangssituation und zum Danach der Lehrveranstaltung.

Es scheint offensichtlich, dass angesichts der Komplexität der Welt und des politischen Geschehens in vier Tagen keine tiefgehenden Veränderungen stattfinden können. Deshalb ist es notwendig, die Arbeitsaufgaben zu vereinfachen. So steht zu Beginn der Lehrveranstaltung - unabhängig von unseren persönlichen Geschichten - immer der Impuls, während der gemeinsam verbrachten Zeit lediglich nach dem zu suchen, was wir gemeinsam kreativ schaffen können - mit dem, was wir mit uns bringen,. Die Veränderung der Welt, wie sie sich uns darstellt, passiert durch das gemeinsame Schaffen von neuen Erfahrungen, sowohl von uns selbst als auch im Kontakt mit den "Andere", den "Fremden".

Doch sofort beim Verlassen des theatralen Spielraums stellt sich uns wieder die Realität in den Weg. Der Umgang mit ihr bleibt dann jeder und jedem selbst überlassen. Möglicherweise erleichtern die Erfahrungen aus der Lehrveranstaltung das Improvisationsvermögen.. Was jedoch längerfristig auffällt, das sind die unterschiedlichen Motive der TeilnehmerInnen, zu diesem Workshop zu kommen. Während es für die afrikanischen Teilnehmer hauptsächlich die Motivation ist, neue Freundschaften zu schließen, ist es für die Studierenden sehr oft das Interesse an Selbsterfahrung, Informationsgewinn für ihr Studium und bleibt mitunter so etwas wie eine Laborsituation. Kontakte und Freundschaften über den universitären Rahmen hinaus stellen sich nur in einzelnen Fällen ein, meistens bleiben die Erfahrungen innerhalb des Workshops, wenn auch in den Reflexionen davon berichtet wird, dass sich die Alltagsbegegnungen offener, stressfreier und unbelasteter gestalten.

Weitere Anmerkungen aus den Reflexionen sind, mehr über das Alltagsleben von AsylwerberInnen erfahren, die afrikanische Kultur verstehen lernen zu wollen, Genderfragen zu behandeln, der Umgang mit Rassismen, die politische Situation an sich, die unter anderem Sprachlosigkeit erzeugt.. durch den verspürten Zwang zum politisch Korrekten, der oft zu grober Humorlosigkeit führt. Material für eine Erweiterung der Arbeit gibt es also genügend.

Der Name der Gruppe ist Twin Vision (die Vision zweier Geschwister, die sich gleichen, aber nicht dieselben sind, und die gemeinsam weiter sehen können als alleine):

Nach mehreren Treffen und Verzögerungen formte sich eine Gruppe von 25 Menschen, zwölf EuropäerInnen aus Österreich und Italien und 13 Afrikaner: zwei aus Äthiopien, einer aus Liberia, und zehn aus Nigeria (davon zwei Edo, ein Yoruba und sieben Igbo). Wir beschlossen, wöchentlich jeden Montag drei Stunden Theaterarbeit zu machen und auf ein konkretes Ziel hinzuarbeiten - drei Aufführungen im Theater des Augenblicks

Dinge, mit denen uns unsere alltägliche Trainingsarbeit konfrontierte, waren unpünktliches Erscheinen, Wartezeiten bis zu drei Stunden, Handyläuten, Hunger, das unterschiedliche soziale Verhalten, unterschiedliche Kunstauffassungen, Wohnungslosigkeit, psychische Belastungen, die aus Rücksicht auf uns Weiße, denen die Belastungen des Asylwerberdaseins nicht zugemutet werden sollten, nicht ausgesprochen wurden, Schlaflosigkeit., Fluchttraumata, Krankheiten, Trauerarbeit, Genderkonflikte, Identitätskrisen, unterschiedliche Auffassungen von Training, unterschiedliche Visionen, Romantik gegen Moderne, Religiosität gegen Atheismus, Frauen gegen Männer, Arbeitsbedingungen von Asylwerbern in Wien und noch so einiges mehr.

Als Gegenpol dazu gab es das Gefühl, in einer Art Familie aufgehoben zu sein, sich geben zu können wie man ist, frei zu sein, einen persönlichen Ausdruck zu finden, sich Zeit zu nehmen für Prozesse, Menschen, ihre unterschiedlichen Bedürfnisse. Es kam zu einer größeren Freiheit, seine Bedürfnisse zu äußern, Unterschiede wahrzunehmen und bestehen zu lassen, Freude an der Entscheidung, gemeinsam Neues zu schaffen - gemeinsam zu essen, gemeinsam Erfolg zu haben, kreativ zu sein, eine Radiosendung zu gestalten, ein Theater dreimal bis zum Bersten zu füllen, Teile von sich selbst in einem selbst gestalteten Stück auf der Bühne wiederzufinden. Selbstinszenierung. Gemeinsamkeit. Ein Stück Welt neu erfinden.

Die Probenarbeit lief inhaltlich meistens nach folgendem Schema ab:

  1. Zehnminütiges gemeinsames Nichtstun bei offenen Augen.
  2. Gemeinsames Dehnen, Strecken, Aufwärmen und anschließend ein Training namens "6 Planes of Action", das vom kanadisch-polnischen Regisseur Richard Nieoczym entwickelt wurde. Über einen Zeitraum von 50 bis 90 Minuten bewegt man sich quasi "bis an die Grenzen der Einfallslosigkeit" bei unterschiedlicher Musik auf geraden Linien und muss sich immer für eine Richtung entscheiden. Diese Arbeit dient wie die boalschen Übungen während der Workshops, jedoch mit einer anderen Intensität und Intention, der Entmechanisierung der Bewegungen und dem Freisetzen von kreativer Energie und der Stärkung des persönlichen Ausdrucks, der Erschließung authentischer Bewegungsimpulse.
  3. Anschließendes Stimmtraining: Dieselbe Übung mit Tönen und weniger Bewegung.
  4. Dann Szenenarbeit: Die Texte kamen von den AkteurInnen und wurden zu den Themen Identität, Vision und Begegnung verfasst.

In der Arbeit erfolgte ein intensives Kennenlernen der Körper, der Bewegungen, der Stimmen und des Umgangs mit Emotionen innerhalb der Gruppe. Wir wussten zwar nicht, was jeder einzelne von uns dachte, aber wir wussten über unsere Körper Bescheid, über unsere Stimmen, Reaktionen und Aktionen.

Die Textarbeit nach Boal will, dass die Menschen die Sprache dominieren, anstatt sich von ihr dominieren und in Formen pressen zu lassen. So wurden wir zu den AutorInnen unserer Geschichten.

Viele brachten Texte, die sie später nicht inszenieren wollten, die jedoch den einen der Aufarbeitung von persönlichen Geschichten dienten und für die anderen Visionen darstellten. Augusto Boal nennt sein Konzept zu dieser Arbeit der Textproduktion "Arbeit an der Ästhetik der Unterdrückten" und argumentiert, dass die Suche nach persönlichem kreativem Ausdruck die Menschen empfindsamer mache und ihnen größeres Verständnis für soziale Realitäten ermögliche. Das Spiel des Theaters und seiner Methoden sei eine Übung für das soziale Leben, eine Übung darin, die Passivität zu verlassen und die ästhetischen Neuronen so zu stimulieren, dass sie angeregt werden, neue Realitäten zu kreieren. (Vgl. Boal, 2004)

Durch die gemeinsame Arbeit an den Szenen der einzelnen SchauspielerInnen fühlten sich alle von der Gruppe getragen und angenommen. Eine Schauspielerin sang allein ohne Mikrophon ein schwieriges Lied, unterstützt von den anderen, die sie wie Meereswellen umspielten. Sie hatte zuvor noch nie öffentlich gesungen. Die meisten standen zum ersten Mal auf der Bühne, die Szenen wurden von MusikerInnen aus der Gruppe begleitet und ohne Unterstützung von Requisiten oder Bühnenbilder präsentiert. Wir befanden, dass Menschen, die nichts Materielles besitzen, sich so präsentieren sollten wie es ihrer Situation entspricht, mit dem, was sie zu sagen und zu geben hatten, und mit den Alltagskleidern am Leib. (Wir waren von der Kunstsektion der Stadt Wien nicht subventioniert worden, da man uns als Nicht-Kunst klassifiziert hatte.)

In den Wochen unmittelbar vor den Aufführungen fanden täglich Proben statt, oft bis spät in die Nacht. Essen wurde mitgebracht und geteilt, die technischen Vorbereitungen im Theater wurden gemeinsam mit den dortigen Technikern gemacht, z.B. Boden verlegen, Scheinwerfer hängen. Während dieser Zeit wurden durchaus Fähigkeiten erworben, die auch für die Zukunft Bedeutung haben könnten.

Wichtig war uns, dass der Schauplatz stimmte. Das Theater des Augenblicks ist ein kleines avantgardistisches, experimentelles Theaterhaus mit ausgefallenen Produktionen, vorwiegend aus Osteuropa. Dort spielen zu dürfen war ein kleines Privileg und dem Anlass, wie wir fanden, angemessen.

Abgesehen von der künstlerischen Arbeit, die beachtlich war, bemühten wir uns immerhin, in einer kleinen Gruppe den Nord-Südkonflikt, den Mann-Frau-Konflikt sowie die menschenverachtende Politik der Europäischen Union gegenüber den BewohnerInnen der sogenannten "Mehrheitswelt", der "Majority World" zu bewältigen. - Theater - experimentell und mit aller Intensität.

Während der Zeit der Aufführungen wuchsen alle über sich hinaus. Die EuropäerInnen bewältigten Vorbereitungen, Einkäufe für die Bar, die Dekoration des Foyers, das Drucken der Texte, mit denen wir die Bar und die Tische beklebten, die Bewerbung der Veranstaltung. Alle arbeiteten in ihren Jobs, für ihr Studium und zusätzlich viele Stunden im Theater, teilweise ohne Schlaf. Das Resultat war Theater pur, ein großes Fest, ein Happening. Am Ende stand das Publikum mit auf der Bühne und alle fragten sich, wie das möglich war, dieses Gefühl der Verbundenheit, der gemeinsamen großen Freude, wie man sie im Alltag selten erlebt.

Seither sind 5 Monate vergangen. Der Sommer 2005. Durchbrochen von losen Kontakten, fand sich die Gruppe im Herbst wieder zusammen voller neuer Fragen, Zweifel und veränderter Visionen. Sind wir eigentlich Freunde? Was wissen wir voneinander? Sind wir da füreinander? Können wir uns irgendwie verständigen oder gar nicht? Unsere eigenen Welten hatten uns wieder, unausgesprochen machte sich die Erkenntnis breit: Theater ist nicht genug. Doch die Antwort war ein Vakuum, ein leerer Raum.

Als Leiterin der Gruppe drängen sich mir Vorbild- und Vergleichsmodelle auf, die Arbeit von Jana Sanskriti in Indien zum Beispiel, die neben Theaterarbeit auch Menschenrechtsbildungsarbeit machen, im Kollektiv leben, Solidarität beweisen und für die Schaffung einer besseren Gesellschaft handeln. Aber natürlich ist ihre Art, Konflikte zu bewältigen, nicht unsere, haben wir uns doch nicht aus politischen Gründen formiert, sondern aus individuellen, und es wäre vermessen, der Gruppe jetzt hauptsächlich politisch wirksame Arbeit abzuverlangen. Unpolitisch sind wir unterdessen lange nicht. Unsere Arbeit ist geprägt von Weltpolitik, Medienmanipulation, Dischronisation der Zeit, dem Aufeinandertreffen der Romantik und der Moderne und dem Schon-hinter-sich-Lassen von beidem, ohne es bewusst erlebt zu haben.

Wir arbeiten weiterhin jede Woche zusammen, suchen einen Weg, trotz der scheinbaren Unauflösbarkeit der individuellen Probleme einen Sinn im Gemeinsamen zu finden, Solidarität zu lernen und nicht an den Differenzen zu zerbrechen.

Für März 2006 ist eine neue Produktion geplant; Augusto Boals "Mit der Faust ins offene Messer". Soweit arbeiten wir ohne nennenswerte Subventionen. Mittlerweile haben sich auch andere Folgeprojekte ergeben: Einige von uns wurden eingeladen, in Schulen kulturelle Begegnungsworkshops zu halten, andere wollen die Methoden des Theaters der Unterdrückten lernen, um sie in ihren Ländern für die Bildungsarbeit einzusetzen. Im Winter 2005 hatten wir mehrfach internationalen Besuch: Arif Khalil aus Pakistan schreibt seine Praktikumsarbeit für eine Ausbildung über das Management von Non-profit_Organisationen im Menschenrechtsbereich bei uns; Schauspiellehrer und Theatermacher wie Sanjoy Ganguly aus Indien oder Abel Solares aus Guatemala u.a. kommen und arbeiten mit unserer Gruppe. Währenddessen laufen die Lehrveranstaltungen an der Universität kontinuierlich weiter, jedoch wird im Jänner 2006 zum ersten Mal eine Lehrveranstaltung nur für Frauen abgehalten. Die Begegnung mit Frauen aus unterschiedlichen, mehrheitlich afrikanischen Herkunftsländern wird uns mit neuen Herausforderungen konfrontieren, vielleicht auch mit Konflikten, aus denen wir gewiss lernen können.

In ungesicherten sozialen und politischen Verhältnissen geben Menschen in einem frei für sich erfundenen Raum das, was sie immer und überall zu geben haben: ein Stück von sich selbst.

Abschließen möchte ich mit einem Text von Silke Graf, einer unserer PerformerInnen:

As if...

 

Living in dreams like in a song

"Dreams are my reality"

Used to imagine myself as somebody

As if I was somebody

As if the novels I read were more

As if the songs I listened to were more

As if the movies I saw were more

More real than my diary

More real than my voice

More real than my stories

Living in the repetition of poses

Living through the imitation of words

Living my life as a cliché

This is what I became

Acting as a way to connect

To the pictures and sounds

In your head

In your world

"But I ´m still just a cliché"

And when through layers of dust

This little spot in my heart

Awakes and yawns

That is me

That has been me

That will be me

When it cries for freedom

And the right to be seen

The right to be heard

Still there is fear coming up

Still there is shame flushing in

But fear and shame get weaker

As the little spot in my heart gets stronger

And smashes to pieces and dust

The clichés that bound me

That jailed me into a world of

Finished meanings

Let there be yours

Let there be mine

Let there be me

As if ..

My dreams become reality

 

© Birgit Fritz (Wien)


Links zu im Text erwähnten Personen und Organisationen mit letztem Zugriff am 26.3.2006:
Abel Solares: http://www10.ocn.ne.jp/~kunstart/
Sanjoy Ganguly/Jana Sanskriti: www.theatreoftheoppressed.org
Arif Khalil: www.globalverkstan.net
Twin Vision Theatre Group: www.twinvisiontheatre.com
SOS Mitmensch: http://www.sosmitmensch.at/
Ute Bock: http://www.fraubock.at/
Theater des Augenblicks: http://www.theaterdesaugenblicks.net/
Institut für Afrikanistik, Universität Wien: www.univie.ac.at/afrikanistik
Goffman, Erving, The Presentation of Self in Everyday Life. New York: Doubleday, 1956
Boal, Augusto: Aestetics of the Oppressed, 2004 @ http://www.theatreoftheoppressed.org/en/index.php?nodeID=39


5.9. Kultur als dritte Kraft neben Politik und Wirtschaft?

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


TRANS       Inhalt | Table of Contents | Contenu  16 Nr.


Birgit Fritz (Wien): Transkulturelle Theaterarbeit am Institut für Afrikanistik, Universität Wien und daraus resultierende Projekte: das Twin Vision Theatre Project. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/05_9/fritz16.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 2.5.2006     INST