Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. März 2006
 

6.1. Modalitäten von Kulturkontakt
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Gertrude Durusoy (Ege Universität, Izmir/Turkei)

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Die Auswirkung des "Kalila und Dimna" auf die Fabeldichtung der deutschen Aufklärung

Faranak Haschemi (Allameh Tabatabai Universität, Teheran/Iran)
[BIO]

 

Einleitung

Kulturkontakt und Kulturtransfer sind in der heutigen globalisierten Welt von wesentlicher Bedeutung. Viele Mittel und Wege können zu diesem Ziel verhelfen, eines davon ist der Gebrauch von Literatur. Durch Übertragungen literarischer Texte, durch Übersetzung, Nacherzählung und Motivübernahme, kann die Kultur des jeweiligen Landes mit anderen Kulturen in Berührung kommen.

 

Kulturkontakt

Die "Kommunikation" zwischen verschiedenen Kulturen, gehört in der "zunehmend globalisierten Welt" zu "einer der wichtigsten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Aufgabenbereiche" (Roche 2001:3). Viele kulturelle Konflikte können verhindert oder behoben werde, wenn man akzeptiert, dass andere anders sind. In der Kultur gibt es kein "besser" oder "schlechter", sondern nur "anders" (Beneke 2000:64). Dadurch, dass man versucht unterschiedliche Kulturen und Mentalitäten kennen zu lernen, findet man den Weg zu anderen Gesellschaften. Diese Handlung wird als ein Mittel bezeichnet, wodurch "das Fremde zum Ferment der Kulturentwicklung" wird (Wierlacher 1994:39). Das "produktive Wechselverhältnis von Fremdem und Eigenem" könne auch von der Germanistik genutzt werden, indem sie sich auf Kulturelles konzentriert und letztendlich hilft "ethnozentrische Isolierung" zu überwinden, dadurch, dass sie "das Bewusstsein von der hermeneutischen Funktion dieser Vielfalt fördert", äussert Wierlacher weiterhin (ebd.). Ausserdem könne die Germanistik auch noch eine wichtigere Rolle spielen, indem sie lehrt, "kulturelle Unterschiede zu respektieren und ihre Erkenntnisse zum besseren Verstehen der eigenen und der fremden Kultur zu nutzen" (ebd.).

Esselborn (1999) spricht den "Bildungsaspekt" der Literatur an und deutet darauf hin, dass er zum "Selbst- und Weltverständnis" und zum Verstehen von "Eigen- und Fremdkultur" beiträgt. Mit Hilfe der Literatur können "kulturelle Kontraste und Ähnlichkeiten" hervorgehoben und das Fremde, Andere, Unterschiedliche dargestellt werden. Esselborn ist der Ansicht, dass vor allem im Bereich des Fremdsprachenunterrichts die "Wechselbeziehungen zwischen den Kulturen und Literaturen" von grosser Bedeutung sind. "Die bewusste Einbeziehung fremdkultureller literarischer Traditionen im eigenen Land oder von auswärts entspricht dem neuen Lernziel Fremdverstehen und einer interkulturellen (literarischen) Bildung, die den Umgang mit fremden Literaturen fordert. Dabei soll der eurozentrische hegemoniale Kanon aufgegeben werden zugunsten eines gleichberechtigten Austausches der Kulturen - bei Wahrung ihrer Verschiedenheit".

Karl Dedecius hat die Literatur eines Volkes als "ein Fenster" bezeichnet, durch das man den Fremden sieht und der Fremde in das Leben dieses Volkes Einblick gewinnen kann. Er hält diesen Blick "in die geistige Wirklichkeit des Nachbarn für notwendig und nützlich" (zit. Nach Nayhauss 2002:211). Die Literatur kann zur Formung der Mentalität beitragen und durch das "offene Fenster eines Volkes", durch dessen Literatur, kann viel von der Identität und Mentalität eines Volkes, einer Nation erkannt und überliefert werden. Wie Nayhauss betont, ist die Literatur eines Landes durch die Literatur eines anderen nicht zu ersetzen (ebd.211). Die Sprache eines Landes ist im Sinne von Heidegger sein "Haus des Seins", und demnach wird durch die Literatur "die individuelle Seele unseres Hausbewohners" zum Ausdruck gebracht (ebd. 212). Das "Konzept" und der "methodische Ansatz" von "Kulturtransfer" ist interdisziplinär und umfasst vor allem die Sprach- und Literaturwissenschaften (Schmale 1998:102).

 

Fabeldichtung der Aufklärung

Das 18. Jh. in Deutschland war eine Zeit der Denker und Philosophen sowie der Kritiker. Die Literatur dieser Epoche, der Aufklärung, war pädagogisch und didaktisch geprägt. Man bemühte sich um die Bildung von Verstand und Vernunft. Viele Literaten dieser Zeit gingen von der Poetik des Horaz aus, die fordert, dass der Dichter "sowohl nützen als auch erfreuen soll" ( Lat.: "aut prodesse volunt aut delectare poetae"). Es wurde nicht Kreativität verlangt, sondern Bildung, Scharfsinn und Geschmack. Damit sollte der Dichter den von der Vernunft festgelegten Regeln entsprechen.

Mit Vernunft versuchte man alles, Wissenschaft, Religion, Phantasie etc. zu behandeln und dadurch zur "Glückseligkeit" gelangen. Um dieses Ziel zu erreichen, bediente man sich der Moral, die logischerweise zum Schwerpunkt der Fabel wurde. Die Fabel hatte große Auswirkung auf die Entwicklung des Bürgertums.

Von mehreren Literaturtheoretikern des 18. Jhs. wurde die Fabel als ein Mittel der Volksführung und Volkserziehung bezeichnet. Sie sollte die Allgemeinheit, die Bürger, beeinflussen; und es sollte "Lebensklugheit" betont werden und damit zu einem konfliktfreien zwischenmenschlichen Umgang und vernünftigem Handeln beitragen. Die "echte Fabel" hatte sich laut Dithmar (1970:26) nicht an das "Gefühl", sondern an die "Ratio" zu wenden, "die keine verklärte, sondern eine schroff realistisch gesehene Welt" zeigt.

Ein wichtiges Charakteristikum der Fabeldichtung des 18. Jhs. neben der Verwendung alter überlieferter Motive ist die Wanderung von Fabelstoffen und -motiven von einer Sprache in eine andere. Alte Themen aus verschiedenen Kulturkreisen werden aufgegriffen und auf neue Art erzählt und zeit- und ortsgemäss interpretiert. Zu den größten und bedeutendsten Vorbildern der deutschen Fabeldichter der Aufklärung zählt der Franzose Jean de La Fontaine (1621-1695), der aus den bis zu seiner Zeit bekannten Fabelliteraturen "schöpfte"; von der Äsopischen Fabel hin bis zu dem altindischen Werk "Pantschatantra". Der Einfluss dieser indischen Fabelsammlung oder deren Nachbearbeitungen "Kalila und Dimna" und "Fabeln des Bidpai" auf La Fontaine wird verschiedentlich bestätigt.

Als eigene Leistung tritt im 18. Jh. die "Kritik an den sozialen und politischen Zuständen der Zeit" auf. -Die Entwicklung der Fabelliteratur verläuft nach Meinung von Emmerich in drei Phasen. Während der Frühaufklärung werden vorwiegend "moralische Ideen und neue sittliche Prinzipien" vermittelt. Nach der Jahrhundertmitte tendiert sie mehr zur "sozialen Kritik und zur Anklage des Duodezabsolutismus", und in der späteren Aufklärungszeit, d.h. "in den Zeiten zugespitzter Klassenkämpfe", kommt es durch die Fabel zur "direkten politischen Kritik an den Handlungen feudalabsolutistischer Herrscher und ihres Machtapparates" (zit. nach Leibfried 1982: 80).

Fabeldichter des 18. Jhs. hatten bereits begonnen, ihre Aussagen direkter und unverhüllter in den Vordergrund zu stellen. Obwohl die Aussage der Fabel verborgen ist, versteht derjenige, der verstehen muss, auch verhüllte und indirekte Bekundungen. Im späten 18. Jh. kommt es dann so weit, dass alles offen hervorgebracht wird.

 

"Kalila und Dimna"

"Kalila und Dimna", ein Werk, das über die ganze Welt verbreitet ist und zur "Weltliteratur" gezählt wird (Wilpert 1980:855 Bd.II "Pañcatantra"), ist eines der wichtigsten orientalischen Fabelbücher, das obendrein als Grundlage vieler Übersetzungen und Neudichtungen europäischer Fabeln gilt. Es besteht aus Rahmen-, Nebenrahmen- und Binnenhandlungen in Form von "Schachtel-" oder "Kettenfabeln".

Durch dieses Werk gelangte eine große Anzahl indischer, arabischer und persischer Erzählstoffe über den mediterranen Raum nach Europa. Es wurde erstmals das ursprüngliche "Pantschatantra", welches in Sanskrit verfaßt war, ins Pahlawi, die Mittelpersische Sprache (von 250 v. Chr. bis 642 n. Chr.), übersetzt.

Der Grund für die Vielzahl von Sprüchen, Lehrsätzen, Koranversen und Gedichten in den Fabeln des "Kalila und Dimna" ist auf das Hauptziel des Werkes zurückzuführen, nämlich, dass es als "Fürstenspiegel" zur Erziehung junger Fürsten und Prinzen gedacht war und sie "rechtes Verhalten und politische Klugheit" lehren sollte. Um Rat und Kritik nicht direkt vorzubringen, wurden sie nach orientalischem Brauch in die Fabelerzählung eingedichtet und eingehüllt und durch Wiederholungen in Form von Sprüchen etc. verdeutlicht. Im Lauf der Jahrhunderte, durch gesellschaftliche Umwandlungen, änderte sich das Anwendungsgebiet dieses Fabelwerkes und es wurde zu einem "allgemeinen Erziehungsbuch ".

"Kalila und Dimna" wurde innerhalb von Jahrhunderten mehrmals aus verschiedenen Vorlagen und Sprachen u.a. auch ins Deutsche übersetzt. Die erste deutsche Version wurde im Mittelalter von Antonius von Pforr angefertigt, die letzte 1996 von Najmabadi. Mit Hilfe dieser Übertragungen wurde das Werk "von örtlichen Kulturen absorbiert und transformiert" (Wood 1986:14) und zwar was Handlung, Personen, Tiere, Pflanzen, aber vor allem auch die Religion anbelangt.

"Kalila und Dimna" wurde zur Zeit der Aufklärung, die als Höhepunkt der deutschen Fabeldichtung angesehen ist, als Vorlage verwendet. Dem Buch wurden Themen und Motive entliehen und je nach den Erfordernissen der Zeit mehr oder weniger neu bearbeitet und interpretiert.

 

Drei Fabeldichter aus den verschiedenen Phasen der Aufklärung (Gellert, Lessing, Pfeffel), ihre Ziele und ihre Beziehung zu "Kalila und Dimna"

Gellert

Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769) galt als bedeutendster Fabeldichter des 18. Jhs. vor Lessing und wird als der "volkstümlichste" unter den Fabeldichtern seiner Zeit bezeichnet und sogar der "deutsche La Fontaine" genannt. Seine Fabeln zeichnen sich durch einen "versöhnlichen Ton" aus und wollen "zur Zufriedenheit mit dem eigenen Stand, zur Anerkennung der politischen und sozialen Verhältnisse führen, mahnen aber auch deutlich gerade die Hochgestellten zur Achtung der Niederen". Gellert interessierte hauptsächlich ihre "Nutzanwendung", und er legte besonderen Wert auf die "breit ausformulierte Lehre" (Borries 1999:134).

Gellerts Fabeln drehen sich hauptsächlich um alltägliche Lebensprobleme: allgemeine menschliche, gesellschaftliche und familiäre Probleme und Verhaltensweisen sind die Themen. Behandelt werden grundlegende moralische Werte wie Genügsamkeit, Einfachheit, Ehrlichkeit. Die alltäglichen Lebensprobleme und deren Lösungen zeigt er, ohne "diktatorisch" und "fordernd" zu sein. Eher erteilt er Ratschläge. Goethe sagt mit Recht: "Gellerts Schriften waren so lange schon das Fundament der deutschen sittlichen Kultur" (zit. nach Stein 1889:20).

Gellert griff hauptsächlich auf französische Vorbilder zurück, vor allem La Fontaine und La Motte. Dass er neben europäischen Fabeldichtungen auch das orientalische Fabelwerk "Bidpai" kannte, bestätigt die Aussage von Köhler (1987:971), der behauptet, Gellert habe zu Recht die "Fabeln des Bidpai" und "Kalila und Dimna" für ein Werk gehalten und führe "unterschiedliche Fassungen auf verschiedene Übersetzungen zurück" und verweise auf die deutsche Übersetzung von Antonius von Pforr. Ausserdem besteht die Möglichkeit, dass Gellert, weil er La Fontaine als Vorbild hatte, wie viele andere Fabeldichter auch, durch ihn unter indirektem Einfluß dieser orientalischen Werke (je nach dem als "Pantschatantra", "Fabeln des Bidpai" oder "Kalila und Dimna" bekannt) gestanden hat.

Treue und Worthalten ist eines der Vergleichsthemen zwischen "Kalila und Dimna" und einer Fabel von Gellert "Der arme Schiffer", letztere verläuft folgendermassen:

Ein verschuldeter Schiffer kommt zu Philet, um sich von ihm Geld zu leihen, und als Pfand gibt er ihm sein Wort, in einem Jahr das Geld zurückzuzahlen, kehrt aber nicht rechtzeitig zurück und Philet beginnt zu zweifeln. Doch nach zwei Jahren kommt der Schiffer, um seine Schulden zu begleichen und möchte wegen der Verzögerung den doppelten Betrag zahlen. Philet aber ist so erfreut darüber, weil er sich nicht in ihm getäuscht und der Schiffer Treue und Rechtschaffenheit bewiesen hat, dass er ihm seine Schulden erlässt und ihm das Geld für seine Kinder schenkt.

Ein ähnliches Thema gibt es in "Kalila und Dimna" (1996:75):

Ein Kaufmann vertraut 100 Man (Gewichtseinheit) Eisen einem Freund an, aber dieser verkauft das ihm anvertraute Gut und gibt den Erlös aus; schliesslich behauptet er auch noch, eine Maus habe das Eisen aufgefressen. Der Kaufmann ist gezwungen, dem Treuhänder eine Lehre zu erteilen, er nimmt dessen Kind mit und behauptet später einen Falken beobachtet zu haben, der das Kind verschleppt habe, mit der Begründung: "In einem Land, wo eine Maus 100 Man Eisen auffressen kann, gelingt es einem Falken allemal ein Kind wegzuschleppen". Der Treuhänder versteht die Lehre und verspricht das Eisen zu ersetzen, wenn er nur sein Kind wiederbekommt.

 

Lessing

Was die gesellschaftskritische Funktion von Lessings Fabeln anbelangt, äußert Bauer (1973: 47), dass sie "sozial, politisch und ökonomisch einen Protest" ausdrücken. Lessing beabsichtigt Kritik am tyrannischen System, weniger an einzelnen Auswirkungen, aber auch nicht als parteilich gebundenen Protest. Er ist gegen das Ständedenken und die unvernünftige Herrschaft, aber auch gegen die evtl. Zusammenarbeit der unterdrückten Bevölkerung mit den Oberen; er klagt gegen die "Verkehrung der Rationalität" für ein durch Eigeninteressen bestimmtes Nützlichkeitsdenken.

Ein großer Unterschied zwischen der Einstellung von Lessing zu der seines Vorgängers Gellert neben den Differenzen, die die "äussere Form und Sprache" der Fabel betreffen, ist, dass Lessing nicht nur einfach belehren, sondern den Leser zur Erkenntnis bringen möchte und zwar nicht nur für "einmalige Situationen", sondern zur Erkenntnis "allgemeiner Voraussetzungen menschlichen Daseins aus einem exemplarisch gesetzten einzelnen Fall", wie es Eichner (1974: 333) darstellt. Lessing möchte, dass die Leser zur Erkenntnis gelangen und zum selbständigen kritischen Denken erzogen werden.

Thematisch ähnliche Fabeln bei "Kalila und Dimna" und Lessing finden wir z.B. zu dem Thema: Bleibe besser wer du bist. In "Kalila und Dimna" heißt die Fabel: "Der Rabe, der den stolzen Gang des Rebhuhns erlernen wollte" (Kalila und Dimna 1996:290):

"Es wird überliefert, daß einst ein Rabe ein Rebhuhn daherschreiten sah. Sein federleichter Gang gefiel dem Raben so sehr, daß er sich wünschte, sich genauso geschmeidig bewegen zu können wie das Rebhuhn. Die edlen Dinge springen einem eben ins Auge und freilich will man sie sich dann auch aneignen.

Wie das Auge begierig auf das Schöne, folgt er ihm-
Wie auch die Nase immer nur das lieblichste Parfüm
Sucht.

Kurz und gut, er wollte diesen Gang erlernen. Eine Zeitlang versuchte er es und stapfte hinter dem Rebhuhn her. Aber es mißlang ihm - ja, er vergaß darüber sogar seine eigene Gangart und war zuletzt nicht einmal mehr imstande, so zu gehen wie zuvor".

Bei Lessing finden sich verschiedene Fabeln, die vom Inhalt her dieser Fabel entsprechen: "Die Gans" (Lessing 1759: 18), "Die Pfauen und die Krähe" (ebd. 30) und "Der Rabe" (ebd. 46).

"Die Gans" war stolz auf ihre schönen weissen Federn und glaubte eher ein Schwan zu sein. Daher versuchte sie dessen Bewegungen nachzuahmen, aber vergebens. Letzten Endes machte sie sich lächerlich, ohne ein Schwan zu werden.

In "Die Pfauen und die Krähe" schmückte sich eine stolze Krähe mit Pfauenfedern und mischte sich unter die Pfauen. Sie wurde aber erkannt, und die Pfauen fielen über sie her, um ihr die falschen Federn auszureißen, und rissen ihr sogar die eigenen fort.

In der Fabel "Der Rabe" hatte ein Rabe beobachtet, daß der Adler dreißig Tage lang über seinen Eiern brütete und danach starke stattliche Junge ausschlüpften. Deshalb machte er es dem Adler nach, aber "noch hat er nichts als elende Raben ausgebrütet".

 

Pfeffel

Gottlieb Konrad Pfeffel (1736-1809) galt als der "radikalste politische Fabeldichter" (Borries 1999: 137). Anstösse zur Fabeldichtung erhielt er durch Gellert, dem er als seinem Lehrer huldigte, aber auch vom französischen Klassizismus war er beeindruckt. Pfeffels Fabeln werden als "gereimte gesellschaftskritische Stücke, in denen der vom Geist der französischen Revolution erfasste Pädagoge und Poet die Übelstände der ständischen Ordnung und der Herrschaftsform hart geißelt" bezeichnet (Doderer 1970:305). Pfeffel hat einen großen Teil seiner Stoffe und Motive der französischen Fabelliteratur entnommen. Nach seiner eigenen Aussage geht er auf den Franzosen Jean Pierre de Florian (1755-1794) zurück, der seine Stoffe u.a. auch dem "Bidpai" entnahm. Aber auch La Fontaine hat er Stoffe und Motive entliehen. Poll (1888: 32ff) führt "Bidpai", aber auch Saadis "Rosengarten" als Quelle zu Pfeffels Fabeln an.

Pfeffel konzentrierte sich nicht mehr auf allgemeine Schwächen der Menschen, sondern es war seit jeher sein Lieblingsthema "gegen den Unterdrückungsgeist der Grossen und die Sklaverei der Kleinen anzukämpfen" (Minor o.J.:53). Die Fabel übte Kritik an den Herrschern, indem gesellschaftliche Missstände wie materielle Not, Abhängigkeit der Landesbevölkerung vom Gutsherrn u.a. verdeutlicht wurden.

Zwischen dem Stil von Gellert und Pfeffel sieht man einen großen Unterschied, vielleicht eine Art Steigerung der Ausdrucksweise und Lehre. Gellert kritisiert die Missstände seiner Zeit auf sanfte Art und indirekt. Bei Pfeffel geschieht dies mit "mehr Schärfe, aber immer mit Witz und auf amüsante Weise" (Lauterwasser (1986: 42). Demnach kann Pfeffel beim Aufdecken "versteckter Handlungsmotive" wie Leidenschaft, Neid, Dummheit, Vorurteil, Gedankenlosigkeit oder Intoleranz auch "bitter und sarkastisch" werden (ebd.), besonders dann, wenn "Gewalt unter dem Deckmantel frommen Eifers und eines gesetzlichen Scheins sich verbirgt", wird sein Ton scharf. Und gelegentlich kommt es bei ihm vor, dass er "die Brutalität der Macht" direkt ausspricht (ebd.).

Im Gegensatz zu Gellert, der "Frauenzimmer", den "niedrigen Mann" und "einfache Handwerker" belehren möchte, richtet Pfeffel oftmals seine Lehre an den "gebildeten Mann". Er möchte dadurch weiter erziehen und "in höhere, feinere Wahrheiten einführen" und "in das politische Gebiet hinaus" (Stein 1889: 31). Pfeffel hatte nach Dithmars Angabe (1997: 229) einen "revolutionären Ton". Er klagt den "Missbrauch der Macht" und "die doppelte Moral" scharf an.

Pfeffels Fabeln haben eine religiöse und politische Aufklärungsfunktion. Er benutzte sie als "Kampfmittel" (Dithmar 1997:100) bei Konflikten und gesellschaftlichen Problemen seiner Zeit. Vor allem nahm er sich Beispiele aus dem Leben von Bauern, denn unter dem Thema des Gegensatzes von "Palast und Hütte" verdeutlichte er den Kontrast zwischen dem "unverderbten Leben des Landmannes, seiner ehrlichen Art des Broterwerbs, seiner Rechtschaffenheit, seinem Fleiss und seiner Naivität" und dem "lasterhaften und übersättigten Treiben am Hofe" (Emmerich 1957: 7).

Eine Fabel aus "Kalila und Dimna", die zum Vergleich herangezogen wird, ist "Der Reiher, der einem Krebs an den Kragen wollte und dabei sein Leben verlor"(Kalila und Dimna 1996:32). Das Gegenstück aus Pfeffels Fabelsammlung heißt "Der Reiger, der Krebs und die Fische" (Pfeffel 1987:340).

In den genannten Fabeln handelt es sich um einen Reiher, der mit einer List und dem Vorwand, die Fische vor den Fischern retten zu wollen, diese fortträgt und verzehrt. Ein Krebs nimmt am Ende Rache und rettet den Übriggebliebenen das Leben.

Inhaltlich sind die Fabeln fast identisch, es gibt nur geringe Unterschiede, zu Anfang und am Schluß. Bei Pfeffel teilt der Reiher den Fischen die bevorstehende Gefahr mit. In "Kalila und Dimna" erzählt der Reiher seine angeblichen Bedenken dem Krebs, der wiederum berichtet den Fischen davon. Pfeffels Krebs schließt mit einer Moral: "Seht, Brüder! Es ist allemal ein mißlich Ding, sich Fremden zu vertrauen". Bei "Kalila und Dimna" heißt es: "Wer schlau ist, geht gegen den Feind so vor, dass dabei nicht das eigene Leben gefährdet wird".

Große Übereinstimmung weisen ebenfalls die Fabeln a) "Der Hase, der durch seine List den Löwen tötete" aus "Kalila und Dimna" und b) "Der Fuchs, und der Loewe" von Pfeffel auf. In ihnen wird gezeigt, dass auch der Schwächere gegen den Stärkeren angehen kann. Es geht um den Hasen bzw. den Fuchs, die jeder durch ihre List einen Löwen töten. Der Löwe glaubt in dem Spiegelbild im Brunnen a) seine Beute zu sehen, denn er sieht neben seinem Bild auch das des Hasen, den er hoch hält, b) glaubt er in seinem Spiegelbild den untreuen Neffen zu erkennen. In der einen wie in der anderen Fabel und stürzt er sich auf das Spiegelbild bzw. in den Brunnen und kommt ums Leben.

Ein anderer Vergleich ist der Missbrauch von Stärke und Macht.

In "Kalila und Dimna" ist es die Geschichte des frommen Mannes, dem sein Schaf abhanden kommt ("Kalila und Dimna" 1996:166) und bei Pfeffel "Die Bonzen" (Pfeffel 1987:51).

Das Thema zu beiden Texten ist gleich: Betrüger versuchen, jemanden um sein Eigentum zu bringen.

Bei "Kalila und Dimna" schaffen es die Diebe durch List, dem Mann das Schaf zu entwenden. Seine Einfältigkeit und Leichtgläubigkeit werden dem Besitzer zum Verhängnis.

In Pfeffels Fabel handelt es sich nicht um Diebe im eigentlichen Sinne, sondern um zwei buddhistische Mönche, die den Diebstahl begehen, die ihr Aussehen und ihre Mönchsbekleidung als Tarnung benutzen, um eine ehrbare alte Frau zu täuschen. Es handelt sich nicht mehr nur um List, sondern dazu um Missbrauch der Stellung. Die Mönche rühren bewusst mit ihren Worten an ein heikles Thema, indem sie an ihre Gefühle und ihren Glauben appellieren. Sie weisen auf die Vorstellung der im buddhistischen Glauben existierenden "Seelenwanderung" und "Wiedergeburt" hin, indem sie betrügerisch behaupten, den Geist ihrer Väter in dem Entenpaar wiedergefunden zu haben. Sie jammern und klagen so lange und appellieren an das Gewissen der armen Frau, von der sie wissen, dass sie für ihr Seelenheil alles tun würde, bis sie unter Stöhnen die Enten, "die Väter ihren Söhnen" reicht. Die Mönche aber tragen die Tiere heim und "fressen sie zum Abendschmaus". Durch den Missbrauch ihres Mönchsgewandes, mit Lüge und Niederträchtigkeit erreichen sie ihr Ziel.

In der Version von "Kalila und Dimna" gibt der Mann sein Schaf wegen seiner Einfalt, Leichtgläubigkeit und Schwäche aus der Hand. Betrug und Diebstahl werden durch die Fabel gemahnt und angeklagt. Die Diebe sind primitive Leute. Es liegt ein verhältnismässig einfacher Tatbestand vor. Die Bonzen bei Pfeffel besitzen für die alte Frau religiöse Autorität. Sie wird mit Gründen ihres Glaubens betrogen und ausgenutzt. Hier beginnt die Sache komplizierter zu werden. -Dazu ist festzustellen, dass zu allen Zeiten, wo Gefühle und Religion im Spiele waren (und sind), Menschen sich besonders empfindlich und beeinflussbar zeigten (und zeigen) und entsprechend reagierten (oder reagieren), und auch die Fabeldichter wussten sich das zu Nutze zu machen. - Pfeffel bediente sich des Wissens um diese Empfindlichkeit und stellte mit dessen Hilfe seine Kritik an Missständen und Machtmissbrauch in der Gesellschaft dar.

Nochmals ist festzustellen, beide Fabeln sind von Thema, Inhalt und Lehre her sehr ähnlich, sie unterscheiden sich im Grad des Betruges; ein Diebstahl einfacher Leute - ein Betrug und Diebstahl im geistlichen Gewand.

 

Schluss

Wir haben gesehen, wie sich bei einem Werk wie "Kalila und Dimna" Einflüsse und Wechselwirkungen im "Literaturraum" aufzeigen lassen; sicherlich kann das auch mit anderen Werken geschehen.

Wichtig ist, dass man sich die räumlichen, zeitlichen, geschichtlichen, kulturellen und sozialen Differenzen des Fremden bewusst macht, es achten lernt und neben dem Eigenen gelten lässt. Um zu einem internationalen Einvernehmen zu gelangen, reicht es nicht, nur irgendwelche Differenzen zu tolerieren und sie anzuerkennen. Es ist wichtig, dass man sich mit dem Unbekannten, dem Neuen und Unterschiedlichen auseinandersetzt, das Bedeutende, Gute und Nützliche hervorholt und mit dessen Hilfe seine eigene Kultur bereichert und andererseits von seiner Seite aus einiges weiter vermittelt. Die Literatur könnte demnach als "Werkzeug", als "Hilfsmittel" bezeichnet werden, um Kulturkontakte herzustellen und das "Fremde" und das "Eigene" einander näher zu bringen. So auch das orientalische Fabelwerk "Kalila und Dimna", das trotz Veränderungen in europäischen Fassungen seit Jahrhunderten als Vermittler orientalischer Kultur dient.

© Faranak Haschemi (Allameh Tabatabai Universität, Teheran/Iran)


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6.1. Modalitäten von Kulturkontakt

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Faranak Haschemi Allameh (Tabatabai Universität, Teheran/Iran): Die Auswirkung des "Kalila und Dimna" auf die Fabeldichtung der deutschen Aufklärung. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/06_1/haschemi16.htm

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