Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. März 2006
 

6.1. Modalitäten von Kulturkontakt
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Gertrude Durusoy (Ege Universität, Izmir/Turkei)

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Erste Versuche von Jesuiten, das religiöse Brauchtum des tibetischen Lamaismus in Lhasa mit katholischen Riten in Einklang zu bringen

Gerhard F. Strasser (German & Comparative Literature, The Pennsylvania State University, University Park, PA 16802, U. S. A., und München)
[BIO]

 

I

Obwohl auch im 16. Jahrhundert China dank einiger einigen im ausgehenden Mittelalter durchgeführter durchgeführten Reisen keine völlige terra incognita war, bildeten die von Rom aus unternommenen Missionsreisen dieser Zeit ein außergewöhnliches Wagnis.(1) Matteo Ricci etwa (1552-1610), der erste Jesuit, der China 1578 auf dem Seeweg erreichte, war Zeuge von Angriffen diverser Kaperschiffe, die die portugiesische Karracke angriffen, auf der er gemäß einer päpstlichen Bulle aus dem Jahre 1494 gen Osten segeln musste. Es war Riccis erstaunlicher Erfolg am kaiserlichen Hof in Peking, wo er mit einer großen Zahl von chinesischen Beamten in verschiedenen Wissenszweigen wie Mathematik, Optik, Astronomie oder Kartographie in Kontakt kam, dass diese Mission in Peking gedieh. Trotz mehrerer Versuche konservativer chinesischer Beamter, die Christianisierung zu unterdrücken, konnten die Jesuiten um 1650 mehr Patres aus Rom erbitten, besonders Gelehrte und Künstler. Zu dieser Zeit jedoch wurden die Seewege im Südchinesischen Meer zunehmend durch Angriffe holländischer Kaperschiffe und ganzer Flotten chinesischer Piraten bedroht, was nicht nur die Schifffahrt unterbrach, sondern auch jegliche Korrespondenz äußerst unzuverlässig gestaltete. Da aber erstmals die neu bearbeiteten Karten von Zentralasien andeuteten, dass ein Landweg nach China viel kürzer - und möglicherweise sicherer - als der gewundene Seeweg sein könnte, fasste der General der Gesellschaft Jesu in Rom die Erkundung solch e einer Landroute ins Auge.

 

II

In diesem Umfeld traf in Rom eine Anfrage von zwei gut ausgebildeten österreichischen Mitgliedern des Ordens ein, die nach China entsandt werden wollten. Und so erreichte am 16. Februar 1656 die "Instructio pro P[atre] Bernardo Diest[e]l et P[atre] Ioanne Grueber, missis in Orientem" die beiden in ihrem Grazer Kloster.(2) Diese Anweisungen waren präzise und detailliert: Die Patres sollten in Isfahan Station machen, an der dortigen Jesuitenmission Persisch, Arabisch sowie eine tatarische Sprache studieren und Erkundungen über die verschiedenen Landwege nach China einholen. Die nördlichere Route (die alte Seidenstraße) wurde "als die für ihre Zwecke kürzeste und passendste empfohlen", wobei ihre Hauptaufgaben in der Öffnung eines Landweges, der Einrichtung schnellerer Postverbindungen und möglicher Missionsarbeit entlang der Reiseroute bestanden. Besonderes Augenmerk sollten sie auf die der Strecke zwischen Samarkand und Suzhou am Beginn der Großen Mauer richten. Von Suzhou, der ersten Stadt in China, schienen die verbleibenden 2500 Landmeilen nach Peking keine unüberwindlichen Schwierigkeiten zu bilden. Diestel, der auf einer früheren Missionsfahrt schon über Konstantinopel bis Isfahan gelangt war und Kleinasien durchquert hatte, wurde mit der Leitung des Unternehmens beauftragt.

Nach der Ankunft Gruebers und Diestels in Isfahan an Weihnachten 1656 zwangen Berichte von Unruhen in Zentralasien die beiden, ihre Suche nach einer nördlichen Landroute aufzugeben und den längst bekannten südlichen Karawanenweg nach Hormus einzuschlagen. Von dort segelten sie nach Surat nördlich von Bombay, wo sie nach zehnmonatigem, erzwungenem Aufenthalt endlich ein "neutrales" britisches Schiff nach Macau besteigen konnten. Während dieser Zwangspause lernten sie Chinesisch und trafen den Tiroler Jesuiten Martino Martini, der gerade den berühmten Novus Atlas Sinensis (den Neuen Chinesischen Atlas) veröffentlicht hatte und ihnen besonders wichtige Informationen über die für die Rückreise ins Auge gefasste Landroute geben konnte.(3) Ausgestattet mit neuen Instruktionen des Jesuitenprovinzials in Macau und versehen mit einem Brief des Jesuiten Adam Schall, der inzwischen Leiter des Astronomischen Amtes in Peking geworden war und Johannes Grueber zum kaiserlichen Beamten ernannte, erreichten die beiden schließlich am 2. August 1659 auf dem Landweg Peking. Kurz darauf versagte Bernhard Diestels Gesundheit; er starb ein Jahr später. Grueber jedoch begann seine Arbeit als Hofmathematiker und, was für seine Beobachtungen in Tibet von großer Bedeutung sein würde, als hervorragender Künstler.

 

III

Nach Diestels Tod nahm der belgische Jesuit Albert d’Orville, ebenfalls Mathematiker und ehemaliger Gefährte Martino Martinis, dessen Stelle ein. Mit einem kaiserlichen Schutzbrief versehen begannen die beiden zusammen mit einem chinesischen Diener, gemäß ihres ihrem Auftrag s die Suche nach einem Landweg nach Europa auf der Rückreise aufzunehmen. Am 13. April 1661 begannen sie ihre "Expedition", reisten über Xian zum westlichen Ende der Großen Mauer. Dort schlossen sie sich einer Karawane an und verließen am 13. Juli 1661 chinesisches Gebiet. Drei Monate dauerte es, ehe sie die Grenzen des Königreichs Lhasa oder Barontala erreichten. Im September überquerten sie schließlich die Tanggula-Berge in einer Höhe von fast 5200 Metern, und am 10. Oktober 1661, nach einem zweitägigen Abstieg, kamen die beiden Jesuiten in Lhasa an, der Residenzstadt des 5. Dalai Lama.

Dank der den Schutzbriefe n von Shunzhi, dem neuen Mandschu-Kaiser und Gründer der Qing-Dynastie, durften die Jesuiten einen Monat lang Leben und Gebräuche in der Hauptstadt beobachten. Grueber führte astronomische Messungen durch, skizzierte den Dalai Lama von einer öffentlichen Darstellung, da er ihn als Nicht-Buddhist nicht zu Augen bekommen konnte (Abb. 1)(4) und fertigte Zeichnungen des noch im Bau befindlichen Potala an (die mit anderen nach ihrer Rückkehr von ihrem deutschen Ordensbruder Athanasius Kircher veröffentlicht wurden und fast 200 Jahre lang die einzigen Abbildungen des Palastes des Dalai Lama blieben) (Abb. 2)(5) . Grueber war auch der erste, der die damalige tibetische Regierungsform mit dem Regenten, der die weltliche Obergewalt des über Tibet herrschenden Mongolenfürsten Gushri Khan ausübte, sowie dem Dalai Lama als religiösem Oberhaupt beschrieb.

Letztlich jedoch ließen seine diversen Beobachtungen, die - wie am Beispiel des Dalai Lama zu sehen war - nicht immer auf persönlichen Eindrücken beruhten, bei Grueber viele Fragen offen. Da man immer nach Spuren des legendären "Prester John" oder Priester Johannes suchte, des christlichen Königs von Äthiopien, der sich vor Jahrhunderten mit seinen Gläubigen in diese Bergwelt zurückgezogen haben sollte, stellte Grueber gerade hinsichtlich der religiösen Sitten und Gebräuche überraschend viele Parallelen zu den Zeremonien der katholischen Kirche fest, obwohl einiges daran ihm wiederum als Teufelswerk vorkam. Nach seiner Rückkehr beschrieb er die Übereinstimmungen in einem Brief an einen Mitbruder wie folgt:

Ich sage nur so viel: Dort [im Königreich von Barontala] eifert der Teufel so sehr der
Katholischen Kirche nach, dass die Menschen die Römische Kirche so stark in allen
grundlegenden Angelegenheiten nachahmen, obwohl kein Europäer oder Christ je dort
gewesen war:
Sie feiern die Heilige Messe mit Brot und Wein.
Sie spenden die letzte Ölung.
Sie segnen Ehen.
Sie beten für die Kranken.
Sie veranstalten Prozessionen.
Sie verehren Reliquien.
Sie haben Mönchs- und Nonnenklöster.
Sie singen im Chor gemäß der den Gebräuche n unserer Gläubigen.
Sie fasten mehrere Male im Jahr.
Sie wählen Bischöfe.
Sie zeigen große Opferbereitschaft und sind sehr diszipliniert.
Sie senden barfüßige Missionare in größter Armut durch die Tatarische Wüste bis nach
China.(6)

So überraschend diese angeblichen Ähnlichkeiten auch klingen mögen, so waren viele den Jesuitenoberen in Rom 1625 schon von Antonio de Andrade berichtet worden, ein Jahr nach der Errichtung der ersten Missionsstation auf tibetischem Boden in Tsaparang am südwestlichen Rande des Landes. Auf diesem Posten, den die Jesuiten etwas mehr als ein Jahrzehnt unterhielten, hatten sie weidlich Gelegenheit, mit buddhistischen Lamas in Kontakt zu kommen.(7) Und fast 100 Jahre später wurden die Beobachtungen Andrades und Gruebers von dem lange Jahre in Tibet weilenden Jesuiten Ippolito Desideri sowie den ersten Missionaren bestätigt, die sich permanent in Lhasa niederließen, nämlich von Mitgliedern des Kapuzinerordens, dem die Christianisierung Tibets 1704 aufgetragen worden war. Sie errichteten zwischen 1708 und 1711 in Lhasa eine erste Missionsstation und kehrten besser ausgerüstet 1716 zurück, um die Mission mit Unterbrechungen fast drei Jahrzehnte zu betreiben.

 

IV

Wenn wir nun die Modalitäten untersuchen, mit denen diese Kulturkontakte aus der Warte erkundungsfreudiger - aber auch überzeugt katholischer - Europäer vonstatten gingen, so ist es bedeutend, dass diese Missionare willentlich Vergleiche mit Sitten und Gebräuchen der großen Religionen anderer Kontinente zogen. Sie hofften, eine "Akkomodation" zwischen ihrer und der fremden Welt zu erreichen - wie es die Jesuiten letztlich in China anstrebten, bis der Vatikan ihre Interpretation auf Drängen der orthodoxen Dominikaner 1715 verbot und damit die Missionstätigkeit in diesem Land nach einem kaiserlichen Edikt ein paar Jahre später ein jähes Ende fand.(8) Fanden sie jedoch die fremde Welt bestenfalls faszinierend ähnlich, aber nicht auf der angeblich so integren Ebene ihres eigenen Erfahrungsbereichs, so lehnten sie sie letztlich ab bzw. erachteten sie höchstens als "missionierungswürdig".

Auch in Tibet gerieten Grueber und d’Orville in diesen Zwiespalt, als sie sich mit solch oberflächlichen - obgleich sicher überraschenden - Ähnlichkeiten auseinanderzusetzen hatten. Es gab Versuche, den tibetischen Lamaismus zutiefst vom Frühchristentum beeinflusst zu deuten, wie wir sehen werden, aber Pater Grueber kam zu seinen eigenen Schlussfolgerungen, nachdem er von einigen der anderen Gebräuche gehört hatte, die sich um den Dalai Lama rankten: Trotz vieler äußerlicher Parallelen ("Sie küssen seine [des Dalai Lamas] Füße in unglaublicher Ehrfurcht, als ob er der Papst wäre", stellte Grueber in seinem Bericht an Kircher fest, als er nach Rom zurückgekehrt war), war er entsetzt über Manifestationen von "Teufelsverehrung", wie er es letztlich bezeichnete:

Der Große Lama ist so geehrt und allgemein geachtet, dass jeder, der sich (durch reiche
Gaben oder Bestechung der Lamas) etwas Kot oder Urin des Großen Lama verschaffen
kann, diesen in einem Amulett um den Hals trägt und sich deshalb sehr glücklich schätzt.
Schändlich in der Tat: Sie mischen diesen Urin und Kot sogar in ihre Speisen und
glauben, so gegen alle Arten von Krankheiten gefeit zu sein.(9)

Obwohl dies wie Zweckpropaganda klingen mag, wenn es von einem Jesuiten kommt, scheint es, dass Gruebers Informationen über einen selbst nach westlichen Gegebenheiten des 17. Jahrhunderts äußerst fragwürdigen Brauch in der Tat auf Nachrichten beruhten, die nur aus den innersten Kreisen des Hofes des Dalai Lama stammen konnten und im Übrigen noch um 1900 von einem japanischen Buddhistenmönch bestätigt wurden.(10) Der Jesuitenpater spekulierte auch über den Ursprung einiger dieser religiösen Sitten. In Kirchers Bericht - möglicherweise von dessen eigenen Ansichten gefärbt - werden sie auf den legendären Priester Johannes zurückgeführt, der auch in Tibet regiert haben könnte. Der französische Reiseschriftsteller Melchisedec[h] Thevenot wiederum vermutete nach einem Interview Gruebers bei dessen Rückkehr, dass "nestorianische Missionare" für diesen christlichen Anstrich verantwortlich sein dürften.(11) Hundert Jahre später endlich beschlossen die Kapuziner, dass diese Ähnlichkeiten nicht direkt Satanswerk wären, sondern durch den Einfluss des angeblichen Erzketzers Mani aus dem dritten Jahrhundert entstanden seien, des Gründers des Manichäismus, den sie irrtümlich mit Buddha identifizierten und als Vater des Lamaismus betrachteten.(12) In Gruebers Bericht zeigt sich Satan jedoch unzweideutig in einem Brauch, den der Jesuit mit Abscheu wiedergibt: Die Einwohner der "Königreiche von Tanguth und Barantola," so schreibt er in Kirchers Version,

wählen einen robusten und starken Jungen und ermächtigen ihn, an gewissen Tagen des
Jahres jedweden zu töten, dem er begegnet, ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht. Er
tötet sie mit den ihm zur Verfügung gestellten Waffen. Die Menschen sind törichter
Weise davon überzeugt, dass die auf solche Weise getöteten Menschen ewige Ehren und
Seligkeit erlangen, als ob sie dem abscheulichen Gott Menipe gewidmet seien, den sie
verehren. [...] In ihrer Sprache nennen sie ihn Buth, das heißt Vollstrecker (oder
Scharfrichter).(13)

Trotz einer Illustration dieses Phut mit seinem mörderischen Schwert sowie Pfeil und Bogen und Siegesfähnchen, und trotz der Zusicherung, dass die "Patres ihn genau so gezeichnet hätten, wie sie ihn während ihres Aufenthalts gesehen hätten", ist dies eines der wenigen Details in Gruebers Bericht, die sich nicht aus anderen Quellen bestätigen lassen. Dass diese Art von willkürlicher Tötung in einer friedliebenden Religion wie dem Lamaismus kaum verankert sein kann, liegt auf der Hand. Immerhin bedeutet das Wort "phut" in der Tat so etwas wie "aussondern, ausstoßen",(14) und es wäre denkbar, dass Grueber eine Zeremonie gesehen hatte, die einer von Andrade in Südwesttibet beobachteten ähnelte und in Tibet sicherlich noch Reste des vorbuddhistischen Bon-pa-Kults tradiert hätte.(15)

 

V.

Neben solchen Berichten über religiöse und politische Angelegenheiten lieferte Grueber wertvolle Informationen über die verschiedensten Sitten und Gebräuche, die natürlich durch die Augen eines europäischen Christen des 17. Jahrhunderts betrachtet wurden. Kein Brauch war so abstoßend wie die Art, in der die Bewohner von "Necbal" oder Nepal mit ihren sterbenden Familienangehörigen umgingen, wie die Jesuiten angeblich erfuhren, als sie aus Lhasa abreisten und ihren Weg über die Berge des Himalaya in das benachbarte Königreich fortsetzten. Diese Sitte erschien ihnen wiederum barbarisch:

Wenn Kranke dem Tode nahe sind und keine Hoffnung mehr für sie besteht, werden sie
aus dem Haus hinausgeworfen auf ein mit Leichen übersätes Feld. Dort sterben sie, den
Unbilden der Natur ausgesetzt, ohne jegliche Trauerbekundungen oder religiöse
Zeremonien. Nach ihrem Tode werden sie den Vögeln des Himmels, Wölfen, Hunden
und anderen Tieren zum Fraß überlassen. Sie [die Nepalesen] sind überzeugt davon, dass
es ein einmalig glorreiches Totengedächtnis ist, wenn sie im Magen lebender Tiere ihre
letzte Ruhestätte finden.(16)

Es dürfte außer Zweifel sein, dass Pater Grueber und seine Begleiter die noch heute in Tibet mancherorts praktizierten "Himmelsbestattungen" gesehen hatten, bei denen die Toten nicht der Erde zur letzten Ruhe übergeben, sondern in der Hoffnung auf Reinkarnation unter freiem Himmel an einer geheiligten Stelle auf einer Bergkuppe von eigenen Spezialisten zerstückelt und in der Tat den Tieren überlassen werden.(17) Ansonsten fanden die Jesuiten in Nepal "nichts, was zum Lebensunterhalt fehlt mit Ausnahme des Glaubens an Christus, denn alle sind in Dunkelheit gehüllt" - dessen König sich jedoch den Patres gegenüber äußerst gnädig zeigte.

Als die beiden Missionare schließlich Nepal verlassen hatten und im indischen Agra ankamen, wo d’Orville innerhalb weniger Tage in der dortigen Missionsstation vor Erschöpfung starb, hatte Grueber schon 4000 Meilen zurückgelegt. Nach einem knappen Jahr in Agra unternahm dieser den letzten Teil seiner Reise in Begleitung eines dritten Paters, des Rektors der dortigen Jesuitenniederlassung, Heinrich Roth, dem wir im Übrigen dank der Veröffentlichung durch Kircher erste eingehendere Kenntnisse des Sanskrit verdanken. Die beiden schlugen den Landweg nach Delhi und Lahore ein; von dort kehrten sie per Schiff nach Hormus zurück, schlossen sich einer Karawane nach Smyrna an und fuhren auf dem Seeweg nach Messina und Rom. Gruebers epische, acht Jahre dauernde Reise erbrachte wertvolles kulturelles und ethnologisches Material, und seine genauen geographischen Messungen ergänzten die immer besser werdenden Karten von Zentralasien. Er hatte erstmals den Beweis erbracht, dass eine Landverbindung zwischen Indien und China in der Tat machbar war.

 

VI

Im Hinblick auf die immer stärker anwachsende Zahl von "exotischen" Reiseschilderungen in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts nun ist es äußerst erstaunlich, dass Grueber nach seiner kurzen Rückkehr nach Rom sein faszinierendes Tagebuch und seine Zeichnungen nicht veröffentlichen konnte.(18) Zunächst war er in der Tat vom Jesuitengeneral nach nur drei Monaten erneut auf eine Erkundungsreise des Landwegs nach China über die Seidenstraße losgeschickt worden, wurde jedoch in Konstantinopel - wohl auf Betreiben des portugiesischen Königs, der um sein Seefahrtmonopol besorgt war - zurückbeordert. Und vielleicht um ihn völlig zu isolieren, musste er die ihm verbleibenden zehn Lebensjahre - während derer er sich zunächst noch über die "aufwändige und unaufhörliche Arbeit unter den Soldaten" beklagte - als Truppenseelsorger in Transsylvanien und Siebenbürgen an der Türkenfront verbringen. So weit heute bekannt ist, wurde er von seinen Vorgesetzten in Rom nie um einen zweiten, eingehenderen Bericht seiner achtjährigen Reise gebeten.

Angesichts dieses für die Jesuiten atypischen "debriefing" - um einen modernen terminus technicus zu benutzen - und der Tatsache, dass ein solch wertvoller Reisender wie Grueber in das Gebiet der Türkenkriege beordert wurde, mag die Frage erlaubt sein, warum nach 1664 nicht nur jegliche Folgeaktionen auf Gruebers achtjährige Reise durch den Jesuitengeneral unterbunden und dieser Missionar gleichzeitig für den Rest seiner Tage praktisch aus dem Gesichtskreis eventuell interessierter Personen beordert wurde. Da man Grueber von seiner "arbeitsintensiven" Seelsorgertätigkeit nicht befreite, verhinderte man defacto seine weiteren Publikationsbemühungen. Bei der Kaltstellung Gruebers mag mitspielen, dass in seinem von Kircher veröffentlichten kurzen Bericht das Gespenst der Akkomodation düster aufsteigt, bei der im Ritenstreit 1645 von Papst Innozenz X. eine erste Entscheidung gegen die Jesuiten schon gefällt worden war . - war War es im "größeren Interesse" der katholischen Kirche, die angeblichen Ähnlichkeiten zwischen tibetischem Lamaismus und Katholizismus nicht weiter herauszustreichen? Es gab katholische Missionare, die sich dafür einsetzten, dass diese Parallelen stillschweigend übergangen werden sollten, zumindest teilweise auch, um protestantischer Kritik an den ihnen suspekten katholischen Riten nicht weiteren Vorschub zu leisten. Aus der Sicht der römischen Kurie waren Kontakte mit fernöstlichen Religionen und Kulturkreisen anscheinend nur dann von Interesse, wenn dadurch die eindeutige Priorität und Überlegenheit der katholischen Kirche gewahrt war, was im Falle Tibets offenbar nach Gruebers Berichten nicht völlig behauptet werden konnte. Und letztlich mag mitspielen, dass die Jesuiten zu dieser Zeit an einer Missionierung Tibets sowieso kein starkes Interesse mehr hatten, da ihnen die Christianisierung Chinas vordringlich erschien.

© Gerhard F. Strasser (German & Comparative Literature, The Pennsylvania State University, University Park, PA 16802, U. S. A., und München)


ANMERKUNGEN

(1) Dieser Artikel verwendet zum Teil Material aus meiner umfassenderen Publikation: "Tibet im 17. Jahrhundert. Johannes Grueber, S. J., seine Reisebeschreibungen und die Frage ihrer Veröffentlichung. " In: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur 24 (1995), 375-400.

(2) Zum Folgenden s. Johannes Grueber: Als Kundschafter des Papstes nach China (1656-1664): Die erste Durchquerung Tibets. Hrsg. von Franz Baumann. Darmstadt 1985, S. 29-32.

(3) Ibid., S. 56-60.

(4) Sämtliche Abbildungen beruhen auf Skizzen, die Grueber nach seiner Rückkehr in Rom seinem Ordensbruder Athanasius Kircher übergab. Dieser veröffentlichte sie in einem kurzen Reisebericht Gruebers in: China Monumentis, quà Sacris, quà Profanis [...] illustrata. Amsterdam 1667. Abb. 1 auf S. 73. Die Abbildungen sind auch zugänglich in einem fotomechanischen Nachdruck, hrsg. von Anton F. W. Sommer: Athanasius Kircher, S. J.: China illustrata. Editiones Neolatinae Tom. 95. Wien 2004; Abb. 1 auf S. 73, sowie in einer englischen Übersetzung von Charles D. Van Tuyl: Athanasius Kircher, S. J.: China illustrata. Muskogee, Oklahoma 1987. Dort Abb. 1 auf S. 66.

(5) Kircher: China illustrata, S. 74, Textverweis S. 72; Sommer: China illustrata, S. 74, Textverweis S. 72; Van Tuyl: China illustrata, S. 67, Textverweis S. 65-66.

(6) Entnommen einem Brief an Pater Johannes Gamans, S. J., den Grueber aus Rom nach Aschaffenburg sandte; meine Übersetzung (in Anlehnung an: Grueber: Als Kundschafter des Papstes, S. 158-160).

(7) Zum Schicksal dieser Mission s. Edward Maclagan: The Great Mogul. London 1932, S. 342-355, sowie John MacGregor: Tibet: A Chronicle of Exploration. New York, Washington 1970, S. 33-47. Dazu auch Charles Allen: A Mountain in Tibet: The Search for Mount Kailas and the Sources of the Great Rivers in India. London 1982, S. 36-40.

(8) Einen recht objektiven und nützlichen Überblick über diese Frage gibt Sven Hedin: Transhimalaja: Entdeckungen und Abenteuer in Tibet. 3 Bde. Leipzig 1909-1912. Bd. III (1912), Kap. 26, "Lamaismus und Katholizismus " , S. 283-302. Eine viel frühere und unmittelbarere Abwägung dieser Ähnlichkeiten findet sich bei Philippe Avril, S. J.: Voyage en divers Etats d’Europe et d’Asie, entrepris pour découvrir un nouveau chemin à la Chine. Paris 1692, jetzt zugänglich in: Le Voyage en Asie centrale et au Tibet: Anthologie des voyageurs occidentaux du Moyen Age à la première moitié du XXe siècle. Hrsg. von Michel Jan. Paris 1992, S. 138-149, vor allem S. 144-149, "Christianisme et Lamaïsme Tibétain".

(9) Kircher: China illustrata, S. 73-74; Sommer: China illustrata, S. 73-74; Van Tuyl: China illustrata, S. 67-68. Meine Übersetzung.

(10) Cornelius Wessels: Early Jesuit Travellers in Central Asia1603-1721. Den Haag 1924, S. 191-193, insbesondere Anm. 6.

(11) Melchisedec[h] Thevenot: Relations de divers Voyages Curieux. 2 Bde. Paris 1666-1672; 2. Aufl. Paris 1696. Die "Voyage à la Chine des Pp. I. Grveber et d’Orville" findet sich in Bd. II, Teil IV (erstmals 1672 veröffentlicht), gesondert paginiert auf S. 1-23, hier S. 19.

(12) S. Hedin: Transhimalaya, Bd. III, S. 289; dort weiterführende Literatur.

(13) Kircher: China illustrata, S. 70-71; Sommer: China illustrata, S. 70-71; Van Tuyl: China illustrata, S. 64. Meine Übersetzung.

(14) Ich danke Professor Ma Jiu von der Academy of Social Sciences in Lhasa für diesen Hinweis.

(15) Dies ist auch die einzige Erklärung, die Geshe Sopa finden konnte, ein in buddhistischer und lamaistischer Religionsphilosophie bewanderter Mönch der tibetischen Exilkolonie an der University of Wisconsin in Madison, dem ich für seine Hilfe bei der Klärung dieser Frage danken möchte.

(16) Kircher: China illustrata, S. 75-76; Sommer: China illustrata, S. 75-76; Van Tuyl, China illustrata, S. 68-69. Meine Übersetzung.

(17) Zu den Bestattungsformen in Tibet s. Guiseppa Gucci: Tibet: Land of Snows. Übers. aus dem Italienischen von J. E. Stapleton Driver. New York 1967, S. 170.

(18) Zum Folgenden s. Strasser: "Tibet im 17. Jahrhundert", S. 395-400.


6.1. Modalitäten von Kulturkontakt

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


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For quotation purposes:
Gertrude Durusoy (Ege Universität, Izmir/Turkei): Das Verwachsensein mehrerer Kulturen in einem Menschen - das Werk Francesco Micielis. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/06_1/strasser16.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 24.4.2006     INST