Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Juni 2006
 

6.6. Das Jiddische als Kulturvermittlung
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Astrid Starck Adler (Basel)

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Schiller in der jiddischen Literatur

Peter Varga (Eötvös-Loránd-Universität, Budapest)
[BIO]

 

Das Schiller-Jubiläumsjahr gibt uns Anlass, über sein Verhältnis zum Judentum beziehungsweise über die jüdische, insbesondere die jiddische Rezeption von Schiller nachzudenken.

In seiner Kindheit und Jugend hatte Schiller vermutlich keine besondere Begegnungen mit dem Judentum, zumal er in einer pietistisch-protestantischen Familie aufwuchs, in der auf die Juden gerichtete religiöse Intoleranz und Fanatismus nicht üblich waren. Das Judentum bedeutete ihm daher eher einen Gegenstand vom historischen und philosophischen Interesse. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum die Forschung, entsprechend der spärlichen Quellenlage, dem Verhältnis Schillers zum Judentum keine besondere Aufmerksamkeit widmete. Die jüdisch-deutsche Literaturschreibung beschäftigte sich mit ihm gelegentlich, vor allem aus dem Grund, ihn vom möglichen Vorwurf des Antisemitismus freizuhalten. Mit diesem Vorhaben setzte sich Ludwig Geiger in einem Kapitel über Schiller in seinem Werk aus dem Jahr 1904 Die Deutsche Literatur und die Juden auseinander.(1) Zu diesem Thema sind noch der Aufsatz von Oskar Frankl Friedrich Schiller in seinen Beziehungen zu den Juden und zum Judentum, 1905, sowie eine Festrede gehalten von Franz Rudolf Bienenfeld ebenfalls aus Anlass eines Jubiläums: Die Religion der Religionslosen Juden, Vortrag gehalten in der Gesellschaft für Soziologie und Anthropologie der Juden in Wien am 10. November 1937, dem Geburtstag Friedrich Schillers.

In seinem Aufsatz über das Verhältnis von Goethe und Schiller zum Judentum (Siehe Anmerkung 1) macht Oellers darauf aufmerksam, dass es auf der anderen Seite interessanter wäre, dem Verhältnis der Juden zu Schiller gründlicher nachzugehen (als das Geiger getan hatte), denn "gerade Schiller waren ja die Juden (vor allem die Ostjuden), wenigstens im 19. Jahrhundert, in starkem Maße zugeneigt. Ein wichtiger Grund für die Hochschätzung wird in Schillers viele Unfreie mitreißendem Pathos liegen"(2) sowie in seiner Freiheitsidee, wie sie in den Räubern, in Don Karlos und in Wilhelm Tell dargestellt wird.

Seit Mendelssohn bedeutete die Aufklärung - die so genannte Haskala - für das osteuropäische Judentum vor allem die deutsche Aufklärung, die in ihrer jüdischen Form die Mendelssohnsche oder Berliner Aufklärung hieß, was besonders kennzeichnend für die starke Ausrichtung auf den deutschen Kulturraum war - im Gegensatz zu der stärkeren Orientierung anderer Nationen wie Ungarn, Polen u.a. nach französischen und englischen Vorbildern. Die enge Verknüpfung zwischen dem Begriff »Aufklärung« und der Verbundenheit mit der deutschen Kultur blieb auch in den späteren Phasen der jüdischen Aufklärung dominant und bestimmte damit auch die intensive Rezeption deutscher schöngeistiger Literatur.

Autobiographien ostjüdischer Intellektueller aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts berichten darüber, was für ein lebenswichtiges Erlebnis für sie die Begegnung mit den deutschen Klassikern, so z.B. Lessing, Schiller, Goethe, Heine u.s.w. bedeutete. Nahum Goldman schreibt:

Als das europäische Judentum im 19. Jahrhundert aus der Enge des Ghettos und der absoluten Isolation, lebend am Rande der Weltgeschichte und nicht in ihrem Zentrum, heraustrat und der Prozeß der Emanzipation und Gleichberechtigung begann, war Europa nicht nur für die deutschen Juden seit Moses Mendelssohn, sondern für Millionen osteuropäischer Juden gleichbedeutend mit deutscher Kultur. Europäische Kultur bedeutete für die Ostjuden vor allem Lessing und Schiller, Kant und Hegel, Goethe und Heine - weder Racine noch Moliére, weder Shakespeare noch Milton, weder Pascal noch Locke.(3)

Für viele war diese Begegnung zuerst einmal ein heimliches Ereignis in der Dunkelheit der Nacht, aber zugleich in der Dunkelheit der erstarrten und überlieferten rabbinischen Konventionen und Dogmen. Das war kein Einzelschicksal: Hunderte und Tausende einstige Talmudschüler und Jeschivabocherim wählten diesen Weg im Versteck der Dunkelheit, um nachher als ein anderer Mensch wieder ans Tageslicht zu treten. Von Karl Emil Franzos verzeichnet Carl Steiner in seiner Monographie: »In spite of the heavy demands that schooling and tutoring made on him, he found the time and energy to read extensively, mostly at night. Among his favorite authors were Goethe, [Schiller,] Heine, and Victor Hugo, but he also read popular magazins such as Die Gartenlaube and Westermanns Monatshefte.«(4) Vielleicht lieferte ihm gerade dieses eigene Erlebnis die Idee zur späteren Figur des wissensdurstigen jüdischen Jünglings in seiner Erzählung Schiller in Barnow, in dem ein zerfetztes Exemplar von Schillers Gedichten von einem katholischen Mönch, einem ruthenischen Schulmeister und einem Jeschivabocher gemeinsam gelesen wird: ein utopistisches Bild harmonischen Zusammenlebens, das Franzos vielleicht in Ansätzen erlebt hatte, in der Wirklichkeit jedoch selten vorkam. Genauso wurden die Gipfelleistungen eines Goethe, Schiller, Lessing und auch Heine samt ihren utopistisch-idealistischen Vorstellungen von Humanität als geltende Norm für die Menschheit mit den realen Sachverhalten von Preußen und Österreich vermischt und sogar identifiziert, erst recht bei denjenigen, die Deutschland nur durch die Optik der großen Klassiker gesehen hatten.(5)

Schiller war für viele Ghettojuden derjenige deutsche Dichter, mit dessen Humanitätsforderungen, Freiheitspathos und Zukunftsvisionen sich viele identifizieren konnten.(6) Er wurde daher ziemlich bald nicht nur zum Dichter einer anspruchsvollen, aufgeklärten, intellektuellen jüdischen Schicht, sondern auch zum Idol der wissensdurstigen jüdischen Jugend, die einen Ausweg aus der Enge des Ghettos suchte. Die Gleichsetzung der deutschen Kultur mit Goethe und Schiller hatte also nichts Gemeinsames mit dem neudeutsch-preußischen, eng-nationalistischen Ideal der Jahre nach 1871, das Deutschtum dieser Vorbilder bedeutete für die Ostjuden das Weltbürgerlich-Europäische.(7)

Die enge Verbindung mit der deutschen Kultur und Literatur, das Ausgerichtetsein auf deutsche Dichter als Maßstab europäischer Kultur hatte aber auch sprachliche Komponenten. Während sich die deutsche Sprache als Umgangssprache unter den deutschen Juden bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter anderem infolge der Aufklärungs- und Übersetzungstätigkeit von Moses Mendelssohn durchgesetzt hatte, blieb in Osteuropa weitgehend das »gemeine« Jiddisch die von 90 % der jüdischen Bevölkerung gesprochene Umgangs- und Literatursprache. Dieser gegensätzliche Trend führte dazu, dass die jiddische Literatursprache erst am Ende des Jahrhunderts, also ein halbes Jahrhundert nach dem Aussterben des Westjiddischen, durch die großen klassischen Vertreter der jiddischen Literatur eine Renaissance erlebte, und erst in den ersten Jahren unseres Jahrhunderts in der Czernowitzer Konferenz (1908) ihre völlige Legitimation als Kultur- und Literatursprache erhielt. Die Neubelebung des Jiddischen bedeutete jedoch nicht die völlige Abwendung vom Deutschen, im Gegenteil: Durch die Ähnlichkeit und Verwandtschaft der zwei Sprachen war das Deutsche die erste Fremdsprache der Ostjuden, die aber nicht das Fremde, sondern sehr bald das kulturell Vertraute und Ersehnte bedeuten sollte. In seinen Erinnerungen beschreibt der Ostjude Mark Lidzbarski diesen Prozess und das Verhältnis zum Deutschen, wobei auch er auf die unterschiedliche Rezeptionsweise von Schiller und Goethe hinweist, mit folgenden Worten:

Viele verstiegen sich in ihrer Gottlosigkeit sogar dahin, gojische Sprachen zu treiben. Von den europäischen Kultursprachen lernten sie mit Hilfe des Jiddischen am leichtesten das Deutsche, und für viele war das Deutsche die Pforte zur außertalmudischen Welt. Sie fingen gewöhnlich mit der Lektüre von Schiller an, dessen Balladen einen besonderen Reiz auf sie ausübten. Doch gingen einige weiter. Ein Junge erzählte mir einmal, daß er einen Freigeist ein Buch eines deutschen Dichters namens Goethe habe lesen sehen; es war, als ob der Kopf ihm flammte. Ich vermute, daß es Faust war.(8)

Ein anderer - ebenfalls indirekter Beweis für die Rezeption Schillers in einer jiddischsprachigen Umgebung bietet der autobiographische Bericht von Adolf Ágai, der sich in einem öffentlichen Vortrag der Literaturgesellschaft der Israelitischen Ungarn (Izraelita Magyarok Irodalmi Társasága, IMIT) rührend an seine Eltern und Vorfahren erinnert(9). Sein Vater, der 1807 im galizischen Wischnitze geboren wurde, sprach bis zu seinem 14. Lebensjahr ausschließlich Jiddisch. Mit vierzehn lernte er erst richtig Deutsch lesen und schreiben. Ergreifend schildert Ágai eine Episode aus dem Tagebuch des Vaters, in dem er als 12-jähriger die ersten Schritte in der deutschen Sprache macht und in einem Versteck Schillers Glocke buchstabiert:

Buchstabiert das bedeutet, daß er seinen brennenden Durst nur tropfenweise stillen konnte. Quid hoc ad tantam sitim?(10) Die Wirkung, die das Gedicht bei dem zwölfjährigen Kind auslöste, ist unbeschreibbar. Als rauschende Stimme der Glocke einer großen, erlösenden Feier weckt ihn das Gedicht aus einer dunklen Traumwelt. Sein Geist geht in Flammen auf, seine Gedanken werden von einem feurigen Nebel überwältigt, sein Herz wird vom Kampf der gegensätzlichen Gefühle zerrissen, seine Augen werden von einer unbekannten, geheimnisvollen und wunderbaren Welt geblendet. Er drückt das Büchlein ans Herz, rennt hinunter zum Bach, wirft sich in seinem traurig-glücklichen Gemütszustand ins Gras und bricht in Tränen aus. Das ist auch eine Lösung.(11)

Die intensive, wenn auch aus der zeitlichen Distanz ironische Schilderung des väterlichen Lernprozesses, ist eine ausdrucksvolle Darstellung jener Hoffnungs- und Ausweglosigkeit, die den Vater Rosenzweig, wie auch unzählige andere junge jüdische Intellektuelle zum einzig möglichen Ausweg, zum Verlassen des physischen und geistigen Ghettos veranlassten. Wie begeistert übrigens das Schillersche Gedicht Die Glocke in jüdischen Kreisen gelesen wurde, beweist auch die Erwähnung einer jiddischen Parodie unter dem Titel dus lid fim kigeli vom bekannten Maramarosszigeter marshalik (Witzemacher) Herman (Hers Leb) Gottlieb (1844-1931).(12)

Die verhältnismäßig geringe Sprachbarriere beziehungsweise das Bemühen um das Erlernen der deutschen Sprache konnten unter Umständen auch die Ursachen dafür gewesen sein, dass die ersten jiddischen Übersetzungen von Schillers - ähnlich wie auch Goethes - Werken ziemlich spät, erst Anfang des 20. Jahrhunderts in der jiddischen Literatur erschienen, was einer der Gründe dafür sein kann, warum sich die deutsche Literaturwissenschaft für dieses Terrain der Schiller-Rezeption nur mäßig interessierte. Wenn man den Bibliothekskatalog des Jiddischen Wissenschaftlichen Instituts (YIVO) in New York und der Medem-Bibliodthek in Paris zu Hilfe zieht, lässt sich ein wenn auch nicht vollständiges, jedoch repräsentatives Bild über die jiddischen Schiller-Übersetzungen erstellen:

Aus der Reihe von "shriftn fun fridrikh shiler" ist eine weitere Übersetzung bekannt, die ebenfalls im Vilner Verlag von Kletzkin veröffentlichte Übersetzung "di farshverung fun fiesko in genue", in Heilperins Übertragung. Das mir bekannte Exemplar wurde in der Bibliothek der "American Joint Distribution Committee" und später im "Kulturamt baim jidiszn Komitet in Wetzlar" aufbewahrt.

Die Aufgabe eines weiteren Forschungsvorhabens wäre die Erforschung von Schillers Wirkung auf die jiddische Literatur mit Hilfe der Intertextualität und anderer moderner Forschungsmethoden.

© Peter Varga (Eötvös-Loránd-Universität, Budapest)


ANMERKUNGEN

(1) Vgl. Norbert Oellers: Goethe und Schiller in ihrem Verhältnis zum Judentum. In: Hans Otto Horch u. a. (Hg.): Conditio Judaica, Tübingen 1988, S. 108-130, hier S. 110f

(2) Oellers, S. 110.

(3) Hier zit. n. Maria Klanska: Aus dem Schtetl in die Welt, Wien/Köln/Weimar 1994, S. 417.

(4) Carl Steiner: Karl Emil Franzos, New York 1990, S. 17.: »Unbeachtet die schweren Lasten, die vom Lernen und Studieren ihm auferlegt wurden, fand er die Zeit und Energie ungeheuer viel zu lesen, meistens in der Nacht. Unter seinen Lieblingsautoren befand sich Goethe, Heine und Victor Hugo, las aber auch die populären Zeitschriften wie Die Gartenlaube und Westermanns Monatshefte

(5) Vgl. Klanska: Aus dem Schtetl ..., S. 189.

(6) Vgl. Barner: Von Rahel Varnhagen ..., S. 26.

(7) Vgl. Ernst Joseph Görlich in der Einleitung zu Karl Emil Franzos’ Halb-Asien, (Graz/Wien 1958, S. 6-7.), zit. n. C. Steiner: Karl Emil Franzos, S. 81.

(8) Mark Lidzbarski: Jugenderinnerungen, zit. n. Klanska: Aus dem Schtetl ..., S. 197

(9) Adolf Ágai: Régi naplók. Az én szüleim. In: Evkönyv. (Hrsg.v. der Izr.Magyar Irodalmi Társulat, József Bánóczi) Budapest, 1990. S.22-43.)

(10) "Was nützt das für einen solchen großen Durst?" (Vgl.: Margolits Ede: Florilegium proverbiorum universae latinitatis. Budapest 1895. S.476.) Mit ér ez ilyen nagy szomjúságra?

(11) Adolf Ágai: Régi naplók: S.34 .

(12) Moshe Carmilly-Weinberger: A zsidóság története Erdélyben (1623-1944). Budapest, 1995. S. 230.


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Peter Varga (Eötvös-Loránd-Universität, Budapest): Schiller in der jiddischen Literatur. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/06_6/varga16.htm

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