Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. August 2006
 

6.7. Heilige vs. Unheilige Schrift
Herausgeber | Editor | Éditeur: Martin A. Hainz (Universität Wien)

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Das Nicht-Hermeneutische und der Fundamentalismus

Schnittflächen zwischen kulturellen und religiösen Valorisierungen des Alphabets

Luca Di Blasi (Köln, Siegen)
[BIO]

 

Lange Zeit konnte von Gebildeten und Intellektuellen eine die Sinndimension vernachlässigende Gebetspraxis als geisttötend, eine Verehrung materieller, heiliger Schriften als Fetischismus und eine strikte Buchstabengläubigkeit als äußerlich, geistlos, partikular abgewertet werden - zugunsten geistiger, inspirierter, lebendiger Interpretationen bzw. religionskritisch im Namen einer universellen Vernunft . Einer solchen Kritik und Abwertung sind auch noch heute orthodoxe, traditionalistische und fundamentalistische Formen der Religiosität ausgesetzt.

Dabei hat sich die Lage seit Hegels Tod grundlegend verändert, seit dem, was einmal die "Zerstörung der Vernunft" genannt wurde und was sich - medien- und kulturgeschichtlich betrachtet - in einen inneren Zusammenhang mit einer zunehmenden Relativierung des Alphabets als Leitmedium der Gutenberggalaxis durch den Aufstieg technischer Kommunikationsmedien stellen lässt. Mit diesem Aufstieg erlangte die Materialität der Kommunikation eine größere Sichtbarkeit und wurde zunehmend breitenwirksam kulturell valorisiert, zuerst in den klassischen Avantgarden und dann, stärker noch, in der Neoavantgarde, in der modernen Medientheorie, in poststrukturalistisch geprägten Arbeiten und schließlich in den heutigen Kulturwissenschaften.

Damit aber ist die klassische Abwertung eines nicht oder nicht vorrangig auf Interpretation ausgerichteten, religiösen Gebrauchs von Texten, wie er gerade in konservativen bis fundamentalistischen Kreisen verbreitet ist, nicht mehr ohne weiteres theoretisch gedeckt, im Gegenteil: Seit der Aufwertung der Materialität der Kommunikation sind neue Schnittflächen und Gemeinsamkeiten zwischen den scheinbar so streng geschiedenen Bereichen eines avancierten Medienverständnisses bzw. der Betonung des Nicht-Hermeneutischen und eines konservativ-religiösen Mediengebrauchs entstanden. Mit diesen Schnittflächen möchte ich mich im folgenden Aufsatz beschäftigen.

 

I.

Genau genommen beginnt die Bedrohung der Gutenberggalaxis in dem Moment, in dem mit dem weitgehenden Abschluss einer Alphabetisierung okzidentaler Gesellschaften und dem beginnenden Aufstieg nicht- und antihermeneutischer (Gegen-)Kulturen das "hermeneutische Feld" (Hans Ulrich Gumbrecht) seinen Zenit überschritten hat. Das geschah irgendwann im späten 18. oder beginnenden 19. Jahrhundert. Doch erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts erschien das Alphabet selbst, diese alte Kulturtechnik par excellence, in seiner Stellung angefochten: als es sein im Okzident bis dahin weitgehend intaktes Monopol auf die Speicherung gesprochener Sprache einbüßte.

Für die zukunftsweisenden Bereiche der Automatisation und der Fernkommunikation entstanden neue Speichermedien, die auf digitalen, zum Teil bereits binären Codes beruhten. Die Maschinenlesbarkeit ging hier mit einer radikalen Profanisierung und "Säkularisierung der Zeichen" (Sybille Krämer) einher, mit ihrer Operationalisierung, etwa als Steuerungstechnik für Webstühle, und mit ihrer ästhetischen Reduktion zu radikal abstrahierten Symbolen wie Strich, Punkt und Leerstelle (im Morsecode) oder Loch/Nicht-Loch in Lochstreifen und Lochkarten.

Ebenfalls noch ins 19. Jahrhundert fällt die Entwicklung der analogen Speichermedien Phonograph und Grammophon, mit denen erstmals ohne Umweg über die Schrift oder andere symbolische Zeichen gesprochene Sprache gespeichert werden konnte. Damit setzte sich auf dem Feld des Hörbaren ein Siegeszug analoger, indexikalischer Medien fort, deren Geschichte heute, seitdem die Bilder und Töne, die uns umgeben, zunehmend auf digitalen Codes basieren, also symbolisch im Sinne Peirce’ geworden sind, als Epoche rekonstruierbar geworden ist.

Mit diesen technischen Medien und ihrer Maschinenlesbarkeit ging eine Entanthropomorphisierung der Speichermedien einher, im Zuge derer sie ihre direkte Lesbarkeit für Menschen einbüßten. Damit rückte gleichzeitig die "Materialität der Kommunikation" in den Blick, ein Begriff, der für deutsche Kulturwissenschaftler noch in den späten 80er Jahren des 20. Jahrhunderts einen "wahrhaft futuristischen Klang" hatte(1), der aber im Grunde bereits hundert Jahre vorher anfing, theoretisch relevant zu werden und sich als Terminus schon bei Abraham A. Moles Ende der 50er Jahre findet. Bei ihm heißt es:

"Aber das Bewusstsein der Materialität der Information ist außerordentlich jung. Vor noch nicht sehr langer Zeit stand der ideelle Aspekt der zwischenmenschlichen Nachrichten so evident im Vordergrund, dass der materielle Aspekt im Schatten blieb. Die Ideen, die man ‘übermittelte’, ließen die Übermittlung selbst vergessen. (...) Während die Untersuchung der Materialität im Zeitalter des Erasmus einer geistigen Anstrengung bedurft hätte, die als Spitzfindigkeit hätte gelten können, setzt sie sich im Zeitalter der Zeitung, des Rundfunks, der Schallplatte und des Films pragmatisch durch".(2)

Diesen medientechnischen Hintergrund und seine Implikationen für das Verständnis der Schrift und ihrer Materialität müssen wir im Auge behalten, wenn wir verstehen wollen, warum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die phonetische Schrift im Allgemeinen, und ihre Materialität und sinnlichen Aspekte im Besonderen Gegenstand einer neuen Aufmerksamkeit wurden. Thesenartig formuliert:

  1. Mit dem Aufkommen neuer, technischer Medien im 19. Jahrhundert wurde erstmals die Bedeutung des Alphabets als Speichermedium der gesprochenen Sprache relativiert, und diese funktionale Abwertung ging mit einer gesteigerten Aufmerksamkeit, mit einem Gefühl der Bedrohung der Schrift(-kultur) und damit auch: einer kulturellen Aufwertung des Alphabets einher. Der moderne Fundamentalismus könnte bereits ein Ausdruck dieser Gefährdung und Aufwertung der phonetischen Schrift sein, insofern diese Gefährdung gerade das Leitmedium der monotheistischen "Schrift"-Religionen betrifft.

  2. Mit den technischen Medien verlagerte sich gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf die mediale Materialität. Das Charakteristikum nicht technischer Kommunikationsmedien ist, dass sie von Menschen, die ihre Codes erlernt haben, ohne Hilfsmittel les- und verstehbar sind und dass gerade dieses Verstehen, also die semantische oder die Sinndimension, ihre Sinnlichkeit und Materialität gleichsam verdeckt, invisibilisiert. Bei technischen (Speicher-)Medien spielt sich eben diese Materialität in den Vordergrund, weil wir sie ohne technische Hilfsmittel gar nicht lesen und verstehen können. Ihnen gegenüber können wir uns alle wie Analphabeten gegenüber dem Alphabet verhalten - es reicht, dass diese Medien nicht in Betrieb sind, um ihre materielle Seite offen zu legen. Dazu bedarf es auch keiner komplizierten Dekontextualisierungen oder Defunktionalisierungen. Diese Eigenart technischer Medien konnte nun auf die traditionellen Kommunikationsmedien rückübertragen werden, und die avantgardistischen Experimente mit der Schriftbildlichkeit und dem Klang der Sprache, die Anfang des 20. Jahrhunderts ansetzten, sind genau solche ersten Versuche gewesen.

  3. Zwischen beiden Aspekten, der Relativierung, Bedrohung und Aufwertung des Alphabets einerseits und der Neuentdeckung seiner Materialität andererseits, eröffnete sich ein breiter Raum für Überschneidungen und Interferenzen, um die es mir im weiteren vorrangig geht.

Wir haben uns mittlerweile daran gewöhnt, in avantgardistischen Experimenten die Antizipation medientheoretischer und neoavantgardistischer Aufwertungen materieller Medienträger durch Zertrümmerung der Sinnebene zu erkennen. Eine solche Deutung der Avantgarde war von Anbeginn an für das Selbstverständnis und gleichzeitig für die Selbstlegitimation der Medientheorie von großer Wichtigkeit - man denke nur an den Schlüsselsatz "the medium is the message", in dem die moderne Medientheorie und ihre Aufwertung materieller Medienträger auf einen Nenner gebracht wurden, und der bei Marshall McLuhan im Kontext des Kubismus fällt, den er (wie vorher schon Clement Greenberg) als Offenbarung der Wahrheit, in diesem Fall der Flächigkeit des Mediums Leinwand deutete. Aus einer medientheoretischen Perspektive erscheinen die Avantgardisten auch außerhalb der Malerei ständig auf der Suche nach der Wahrheit des materiellen Mediums und nach der Offenbarung der hinter dem Sinn verborgenen sinnlichen Dimensionen der Medialität zu sein.

Eine solche Deutung ist sicherlich nicht falsch, aber sie scheint die klassische Avantgarde doch zu verengen und, indem sie ihre Arbeiten auf eine bestimmte Absicht reduziert, zu profanisieren. Eine bewusst die Sinnlichkeit und Materialität der Signifikanten eröffnen wollende Sinnverweigerung, die uns - auch theoretisch reflektiert - erst seit den 50er und 60er Jahren, in der Medientheorie, der Neoavantgarde, dem Poststrukturalismus und den heutigen Kulturwissenschaften begegnet, kann nämlich das Changieren wichtiger Avantgardisten und ihrer Arbeiten zwischen Mystik und Sinnlosigkeit (Malewitschs "schwarzes Quadrat"), zwischen Avantgarde und Tradition (Hugo Ball, Julius Evola, Walter Benjamin), zwischen Sinnlichkeit und Geistigkeit (Wassily Kandinsky) nur ungenügend erfassen. Damit geraten aber auch Parallelen zwischen Avantgarde und religiösen Tendenzen leicht aus dem Blick.

Schon im Jahr 1887 hatte der Althistoriker Eduard Meyer beschrieben, wie die ägyptische Zauberliteratur, deren Antriebskraft die Suche nach den geheimnisvollen Namen des verborgenen Urgottes war, um das Ende der 19. Dynastie (um 1150 v. Chr.) zu einer wichtigen Entdeckung führte: dass nämlich die wirksamste Gestalt dieses Namens in absolut sinnlosen Zusammenstellungen von Buchstaben bestünde. Zum Zeitpunkt 1150 merkte der Philologe Franz Dornseiff etwas später an, dass dies die Zeit gewesen sein könnte, wo das Buchstabenalphabet aufkommt und diesen Gedanken überhaupt erst möglich machte.(3)

Damit war die religionsgeschichtliche Bedeutung einer bis heute unterschätzten Möglichkeit des Alphabets entdeckt und angesprochen, asemantische Lautfolgen zu bilden, etwas, wozu beispielsweise die Hieroglyphenschrift nicht in der Lage ist. Damit eröffnet das Alphabet der Schrift die Möglichkeit der bedeutsamen Bedeutungslosigkeit, eine Option, die für die Kultur im Allgemeinen und gerade für die religiöse Tradition von enormer Bedeutung war: im gnostischen "Abrakadabra" ebenso wie in der hermetischen Kryptik, der neuplatonischen Faszination für die unverständliche "mystische Göttersprache" ägyptischer Priester oder in den verschiedenen Formen der Glossolalie.

Eben ein solcher Umgang mit Buchstaben und der Schriftbildlichkeit begegnet uns in avantgardistischen Experimenten des russische Futurismus und seinen Gedichten "mit abgeschwächter Semantik" (Roman Jakobsen), in dadaistischen Lautgedichten, bei denen Laute und Worte durch Abschwächung oder Tilgung der Inhaltsseite in die Hörbarkeit gehoben werden, und im Lettrismus, wo etwas Vergleichbares in Bezug auf die Schriftbildlichkeit geschieht. Überdeutlich wird die Anknüpfung an eine signifikante Sinnlosigkeit, wie sie in der religiös-mystischen Tradition immer wieder auftaucht, bei Hugo Ball und seinen Buchstaben- und Lautgedichten, die er in kubistisch-priesterlicher Robe seiner Gemeinde vortrug.(4)

Daneben ist es auffallend, dass auch der (christliche) Fundamentalismus, obwohl der Sache nach älter, sich als Terminus in exakt der gleichen Zeit durchsetzt, in der auch die klassischen Avantgarden ihre große Zeit erlebten. In den Jahren 1910-15 erschien in den USA die zwölfbändige Schriftenreihe The Fundamentals. A Testimony to the Truth, der zum Namensgeber des Fundamentalismus wurde. Seine wesentlichen Merkmale sind Verbalinspiration (unmittelbare göttliche Herkunft der Bibel) und Literalismus (die Bibel ist in allen Einzelheiten genau zutreffend).

Es stellt sich die Frage, inwieweit wir es hier bereits mit Überschneidungen zwischen einer religiös inspirierten Heiligung und avantgardistischen Schriftexperimenten zu tun haben, griffiger formuliert: Was verbindet Lettrismus und Literalismus? Eine in unserem Zusammenhang interessante Deutung hat kürzlich Boris Groys vorgelegt, in dem er den konservativen russisch-orthodoxen Priester und Philosophen Pawel Florenski (1882-1937) explizit in die Nähe der Avantgarden rückte.(5)

Die Mehrheit der russischen Philosophen und Autoren, meint Groys, sei in der Zeit um 1900 bestrebt gewesen, den Geist des östlichen Christentums "aus seiner jahrtausendelangen Knechtschaft unter Buchstabe und Ritual zu befreien, um ihn in der menschlichen Geschichte wirken zu lassen". Dagegen habe Florenski darauf bestanden, "daß der Geist vom Buchstaben nicht zu trennen ist, daß es keinen verborgenen Inhalt gibt, der aus einer ‚alten Form’ befreit werden könnte, und daß das Ritual nicht etwas ‚ausdrückt’, das unter Umständen auch anders ausgedrückt werden könnte, sondern mit dem Sinn identisch ist." Damit habe Florenski aus einem Zeichenverständnis heraus argumentiert, das die äußerste künstlerische Avantgarde seiner Zeit charakterisierte. Das Zeichen sei für ihn in erster Linie materiell und autonom, Wort, Bild und Ritual seien materielle Dinge oder Prozesse, die ihre eigene Realität hätten und nicht auf den bloßen Ausdruck von etwas anderem - einem Geist, Inhalt, Sinn usw. reduziert werden dürften.

Hier gibt es offenbar Parallelen zu der avantgardistischen Aufwertung der Materialität und Autonomie der Zeichen. Der Unterschied aber ist nach Groys der, dass in den Avantgarden diese Aufwertung in der Regel mit der Forderung verbunden gewesen ist, Bilder und Worte von alten Inhalten zu befreien. Florenski habe hingegen die Tradition auch und gerade als materielles System der Sprache und nicht als ideelles System der Inhalte verteidigt, er habe für die Tradition mit avantgardistischen Argumenten gekämpft.

Im Grunde genommen stand Florenski somit zwischen den Extremen eines logozentrischen Idealismus und einer avantgardistischen Sinnskepsis. Das Gleiche gilt aber für jeden Fundamentalismus, dem es zwar um den (vermeintlich sicheren) Sinn geht, bei dem die Schrift aber aufgewertet erscheint und einer festen Burg gleicht, die diesen Sinn vor den zersetzenden Kräften der Welt schützen soll. Zwischen Fundamentalismus und Avantgarde wiederum, und damit der Avantgarde näher als Florenski, stand demgegenüber eine weitere Gestalt, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert seine höchste Wirksamkeit entfaltete: Charles Maurras (1862-1952), der Protagonist der "Action française" und ein Vorläufer des Faschismus.

Wie in der Avantgarde werden auch hier das Äußere, Äußerliche auf- und das Innere, Innerliche abgewertet. Wie im Fundamentalismus bekommt die äußere Struktur, (beim atheistischen Katholiken Maurras ist es aber weniger die Schrift als vielmehr die Institution der katholischen Kirche), den Charakter einer schützenden Burg oder Ummantelung. Seine Pointe aber, die ihn radikal von Florenski und einem religiösen Fundamentalismus unterscheidet und die ihn zugleich der Avantgarde annähert, besteht darin, dass hier nicht das ‚Innere’ vor einem ‚äußerlichen’, ‚zersetzenden’ Geist geschützt werden soll, sondern dass umgekehrt die äußere Welt vor einem alle Ordnung ‚zersetzenden’ Inneren geschützt werden muss: die Kirche gleicht einem gewaltigen Sarkophag um ein gefährlich strahlendes anarchisches Element mit einer sehr hohen Zerfallszeit namens Jesus.

 

II.

Mit dem Siegeszug neuer, elektronischer und dem Aufkommen digitaler Medien und Kulturtechniken in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts geriet das Leitmedium einer humanistischen oder sogar vermeintlich einer gesamten hochkulturellen Ära weiter unter Druck: Auf der einen Seite bedrohten audio-visuelle Massenmedien, besonders das Fernsehen, die Literalität in ihrer Breitenwirksamkeit. Auf der anderen Seite setzten nicht-phonetische "operative Schriften" (Sybille Krämer) und ihre gerätetechnischen Umsetzungen in Form von Computern ihren Siegeszug als Instrumente nicht nur der Natur-, sondern zunehmend auch anderer Wissenschaften fort und drängten dabei die Geisteswissenschaften und eine humanistische Schriftkultur in die Defensive. Ein wichtiger Ausdruck für die durch diese Medienumbrüche in die Sichtbarkeit gelangte Medialität war die Etablierung der Medientheorie in Toronto.

Mit diesem medial turn war eine Aufwertung der Bedeutung des Alphabets verbunden, die in einer Vielzahl von Publikationen zum Thema Schrift und Literalität in den 60er Jahren zum Ausdruck kam.(6) Wo sich mit dem Erfolg elektronischer Massenmedien und dem beginnenden Aufstieg intelligenzverstärkender Maschinen mehr als nur abzeichnete, dass die phonetische Schrift ihre Stellung als kulturelles Leitmedium nicht behalten würde, rückte sie verstärkt ins Bewusstsein von Geisteswissenschaftlern, die gleichsam überkompensatorisch, aber vielleicht auch vom melancholischen Glanz ihres möglichen baldigen Endes verführt, nun dazu neigten, ihre lange vernachlässigte Bedeutung zu übersteigern, was wiederum dazu führte, dass dem vermuteten Bedeutungsverlust der alphabetischen Schrift eine umso tiefer greifende kulturelle und religiöse Bedeutung zugesprochen werden konnte.

Das musste nicht unbedingt auf ihre Verklärung hinauslaufen, sondern konnte umgekehrt auch eine Dämonisierung ihrer atomisierenden oder angeblich traumatisierenden Einschreibungen bedeuten, eine Perspektive, die besonders im Poststrukturalismus akzentuiert wurde, bei dessen Vertertern die Aufwertung der Signifikanten ebenso wie in der Toronto-Schule eine zentrale Rolle spielte. Friedrich Kittler und Horst Turk brachten ihre idiosynkratischen und im Grunde höchst unterschiedlichen Heroen sogar auf einen medienmaterialistischen Nenner, als sie schrieben, dass die "wissenschaftsgeschichtliche Archäologie von Michel Foucault, die strukturale Psychoanalyse von Jacques Lacan und die Grammatologie von Jacques Derrida" in dem Unternehmen konvergierten, "das Sprechen selber, diese Zufluchtsstätte des Bewusstseins und des Idealismus, in seiner Materialität zu bestimmen."(7)

Dabei bildet Lacans provokativ-prekäre Privilegierung der Signifikanten sicherlich einen entscheidenden Markstein. Seit den späten 60er Jahren kamen grammatologische Entlarvungsversuche einer angeblich phonozentrischen Tradition auf, und seit den 80er Jahren entsprangen, zunächst unter dem Label "Postmoderne", aus den Kombinationsmöglichkeiten zwischen tendenziell paranoidem Poststrukturalismus und tendenziell optimistischer Medientheorie eine Vielzahl von Variationen: gnostisch getönte Ausbruchversuche aus semantischen Gefängnissen via Lautgedichten bei Peter Sloterdijk(8), Oberflächenumwertungen bei Norbert Bolz und allgemein: ein Interesse für "Materialität der Kommunikation"(9) und für das Nichthermeneutische bei Friedrich Kittler, Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer, Sybille Krämer und anderen. Damit sind wir in etwa dort, wo große Teile der Kulturwissenschaft zumindest in Deutschland in den vergangenen zwei Jahrzehnten arbeiteten.

Natürlich gehorchte diese Aufwertung nicht zuletzt einem kulturökonomischen Zwang zur Umwertung des Abgewerteten und der Abwertung des zuvor Valorisierten (das Innerliche, das Bewusstsein, die Hermeneutik, der Idealismus etc.). Und dass hinter diesen Umwertungen materieller Träger unterschiedliche Motivationen und Inspirationen verborgen gewesen waren, wurde mit den Jahren immer deutlicher. Trotzdem lässt sich doch vielleicht so etwas wie ein generationsverbindender gemeinsamer Nenner angeben. Mit der Aufwertung der Medienträger war immer auch eine Aufwertung der Sinnlichkeit intendiert - und damit eine polemische oder zumindest kritische Anknüpfung an eine Tradition, die je nach Ehrgeiz und Hybris unterschiedlich großräumig interpretiert wurde: Hermeneutik, Idealismus, Christentum, abendländische Metaphysik, deren verbindendes Merkmal die Abwertung des Äußeren und Materiellen gewesen sein soll und als dessen Folge die Abwertung der Körperlichkeit, der Sexualität und nicht zuletzt der Frau.

Wenngleich viele dieser Ansätze einen mehr oder weniger dezidierten religionskritischen Unterton hatten, indem sie eine vermeintliche oder tatsächliche Körperfeindlichkeit der christlichen Tradition zu entlarven, zu dekonstruieren oder zumindest zu korrigieren hofften, so fällt heute, wo die Mythen der 68er an Glanz eingebüßt haben, vielleicht mehr noch auf, dass mit diesen Aufwertungen des Äußeren, der materiellen Träger etc. auch eine Aufwertung eben der Schrift und eine Abwertung des Geistes oder des Sinns verbunden war, die wir auch in konservativen religiösen Bewegungen beobachten können. Die Annäherung zwischen einer christlich-konservativen Skepsis eines René Girard gegenüber einer relativierenden Überbetonung der Interpretation Gianni Vattimos und der antihermeneutischen Positionierung Gumbrechts gegen denselben Vattimo ist unübersehbar.

Diese Parallelen lassen sich noch etwas genauer beschreiben: Anders als der klassischen Avantgarde, anders aber auch als der medienmaterialistischen Neoavantgarde ging es in den Kulturwissenschaften der vergangenen zwei Jahrzehnte gewöhnlich nicht um die Verweigerung von Sinn überhaupt, (das wäre ein zu offenkundig selbstwidersprüchliches Unternehmen gewesen), sondern um die Rettung der Sinnlichkeit, um die Ausbalancierung von Sinn- und Präsenzeffekten, etwa beim Medienanthropologen K. Ludwig Pfeiffer, der in seinen Medienanalysen, anknüpfend an Nietzsche, die Verbindung von sinnlicher Intensität (bei Nietzsche das Dionysische) und kühler Distanz (das Apollinische) betont, damit deren verbreitete Entgegensetzung unterläuft und Spielräume für interessante Neuinterpretationen etwa der Oper gewinnt.(10) Bei Hans Ulrich Gumbrecht wird die Aufrechterhaltung einer durchgehenden Spannung zwischen Sinn und Präsenz zum Angelpunkt einer Neuorientierung der Geisteswissenschaften: Wesentlich sei, dass der Sinn nicht die Präsenzeffekte zum Verschwinden bringe, und dass die physische Präsenz der Dinge (eines Texts, einer Stimme, einer Leinwand mit Farben, eines Mannschaftsspiels) nicht letzten Endes die Sinndimension unterdrücke. Dabei statte die Spannung oder Oszillation zwischen Präsenz- und Sinneffekten den Gegenstand des ästhetischen Erlebens mit einer Komponente provozierender Instabilität und Unruhe aus.(11)

Von einer provozierenden Instabilität und Unruhe kann im Fall einer fundamentalistischen Signifikantenheiligung offensichtlich keine Rede sein, im Gegenteil müsste von einer - heute vielleicht noch mehr provozierenden - Stabilität und Ruhe gesprochen werden. Dennoch ist unübersehbar, dass gerade konservative bis fundamentalistische religiöse Tendenzen in ihrem Schriftverständnis ebenso wie in ihrer besonderen Akzentuierung der liturgischen Praxis gerade den allergrößten Wert auf Verbindungen von Sinn- und Präsenzeffekten, von Logos und Medienträgern legen, was sich in den an Kombinationen von Sinn- und Präsenzeffekten reichen Liturgien (im orthodoxen Christentum ebenso wie gerade im konservativen Katholizismus) ebenso zeigt wie an der gleichzeitigen Verehrung des literalen Schriftsinns und der materiellen Medienträger, der Bibel im orthodoxen Judentum bzw. des Koran im fundamentalistischen Islam. Die besondere Betonung der Verbindung von Sinn- und Präsenzeffekten kann geradezu als ein Merkmal konservativer bis traditionalistischer religiöser Strömungen der Gegenwart bezeichnet werden.

 

III.

Vor dem Hintergrund der medientechnischen Umbrüche und der Institutionalisierung der modernen Medientheorie verwundert es nicht, dass in den vergangenen Jahrzehnten auch die Bedeutung der Schrift für die Religionsgeschichte neu entdeckt und beleuchtet wurde. Ebenso wie das Aufkommen neuer elektronischer und digitaler Medien als Umbruch, wenn nicht gar als Zäsur begriffen wurde, deutete man nun rückwirkend auch die Einführung des Alphabets als religionsgeschichtlich relevante Zäsur.(12) Die Bindung monotheistischer Religionen an das Alphabet und das Medium Buch, die in Ausdrücken wie ‚Heilige Schrift’ oder ‚Schrift’- und ‚Buch’-Religionen deutlich zum Ausdruck kommt, wurde nun als eine wichtige Ursache für den Erfolg der monotheistischen Religionen interpretiert.

Die zeitliche Nähe zwischen der Datierung Moses’ und der Einführung des ersten unvollständigen Alphabets hat zu vergleichbaren Gedanken wie jenen Eric Havelocks(13) geführt, die sich an der zeitlichen Nähe zwischen der Entwicklung des griechischen, also vollständigen Alphabets und dem Aufschwung der griechischen Kultur und Philosophie entzündeten und die sicherlich die Aufwertung und vielleicht Überschätzung der Bedeutung der phonetischen Schrift für die Kulturentwicklung befördert haben.

Mit dem Zusammenhang von Schriftentwicklung und Religion hat sich in den vergangenen Jahren Jan Assmann beschäftigt, der als Ägyptologe und medientheoretisch ausgewiesener Kulturwissenschaftler für die Bedeutung der Schrift in doppelter Weise sensibilisiert ist. Obwohl hier bei näherem Zusehen fast alles unsicher ist, sogar die Historizität von Moses selbst, ist die Aussicht auf ein grandioses Panorama zu verlockend, um nicht einen großen Zusammenhang zu konstruieren zwischen Einführung des Alphabets und dem Alten Testament mit den Schrifttafeln als ihrem Kernelement. Den Ereignissen am Berg Sinai erwächst der Charakter einer veritablem Menschheitsurszene: Die heiligen Schrifttafeln trennen kosmotheistisch-tanzfreudige und weltbejahende "primäre" von transzendenzausgerichteten, schriftheiligenden monotheistischen "sekundären"(14) Religionen, sie stehen für eine irreversible und mehr oder weniger traumatisch verlaufende Alphabetisierung der Menschheit, wodurch diese gleichsam aus einem unbeschwerteren Vorschulalter entrissen wurde.

Das, wohlgemerkt, schreibt Jan Assmann so nicht; es ist eher so etwas wie ein imaginäres Tableau, das übrig bleibt, nachdem seine komplexen und ziselierten Einschränkungen und Absicherungen in den Köpfen seiner Leser wieder zerfallen sind. In seinen Büchern "Moses der Ägypter" (1998) und "Die Mosaische Unterscheidung" (2003) hat Assmann virtuos demonstriert, wie man aufregende Zusammenhänge von Alphabetisierung und Religionsgeschichte, von Echnaton und Moses suggerieren kann, ohne der Naivität geziehen werden zu können - indem nämlich das Ganze in die Ebene einer "Gedächtnisgeschichte" gerückt und damit von positivistischen Ansprüchen entlastet wird. Immerhin steht der Zusammenhang von der Einführung des Monotheismus und der Schrift für Assmann außer Frage.

"Diese Wende hat aber nicht zuletzt auch einen medientechnischen Aspekt, als Wende von der Kult- zur Buchreligion, die ohne die Erfindung der Schrift und ihre konsequente Nutzung zur Kodifizierung von offenbarten Wahrheiten nicht möglich gewesen wäre. Alle monotheistischen Religionen, auch der Buddhismus, ruhen auf einem Kanon heiliger Schriften auf." (15)

Ein in unserem Zusammenhang besonders wichtiger Aspekt ist die monotheistische Heiligung des Gottesnamen. In den nicht- und vormonotheistischen Religionen habe demnach das Prinzip der Übersetzbarkeit vorgeherrscht. Namen seien Schall und Rauch gewesen, bloß untergeordnete Signifikanten für das eigentlich wichtige, die geistige Bedeutung.(16) Erst die "Mosaische Unterscheidung" habe diese Übersetzbarkeit blockiert. Andere Formen der Verehrung eines Höchsten Wesens wurden damit nicht als wahrheitsäquivalent anerkannt. Für die Juden ließ sich Jahwe nicht mit ‚Assur’, ‚Amun’ oder Zeus übersetzen.

"Bei Juden und Christen (...) spielt der Name Gottes, auch wenn er unaussprechlich oder geradezu als verborgen gilt, eine fundamentale Rolle, die über Tod und Leben entscheiden kann. Qiddusch ha-Schem, ‚den Namen heiligen’, ist im Judentum die Formel für den Märtyrertod, und die Christen beten ‚Dein Name werde geheiligt’; beide meinen mit dieser Formel das unbedingte Bekenntnis zu diesem und keinem anderen Gott."(17)

Eben das hätten die ‚Heiden’ nie verstanden. Auf der Grundlage der Jahrtausende alten Praxis der Götterübersetzung hatte sich längst die Überzeugung herausgebildet, dass alle Götternamen im Grunde denselben Gott bezeichnen.(18)

Die Heiligung der Namen hat offensichtlich Parallelen zu der monotheistischen Heiligung der Schrift, handelt es sich doch in beiden Fällen um eine Aufwertung der Bedeutung von Signifikanten. Mit dem Gottesnamen werden gerade materielle Signifikanten und nicht universelle Signifikate betont. Das mag an eine neoavantgardistische und medientheoretische Aufwertung der Materialität der Kommunikation erinnern - doch bei genauerem Hinsehen werden die Unterschiede schnell deutlich.

Das betrifft zum einen den Begriff der Heiligung: Der Gottesname wird zwar geheiligt - aber er darf aufgrund dieser seiner Heiligkeit gar nicht ausgesprochen werden und ist im Judentum mit dem Martyrium verknüpft. Das zeigt, dass der Begriff der Heiligkeit gerade in seinen Ursprüngen ein abgründiger Begriff ist, den man nicht schlichtweg mit einer Aufwertung gleichstellen kann. Vor allem aber geht es hier durchaus nicht um eine schlichte Aufwertung der Sinnlichkeit der Signifikanten, um eine Aufwertung des Materiellen und Körperlichen der Zeichen. Das Entscheidende der monotheistischen Heiligung der Namen ist nach Assmann vielmehr das, was er blockierte Übersetzbarkeit nennt und aus der ein Potential des Widerstands oder, wie es Assmann formuliert, der Selbstausgrenzung gegenüber umarmenden Einverleibungsversuchen erwächst. Die Blockierung der Übersetzbarkeit korrespondierte mit der Verweigerung eines scheinbar fairen Angebots gegenseitiger Anerkennung: Dein Gott ist mein Gott. Damit wurde das Judentum besonders in der römisch beherrschten hellenistischen Kultur zum Sand im Getriebe.

Solche medientheoretischen Freilegungen der Bedeutung des Alphabets und der Signifikanten für die Schriftreligionen haben ihrerseits religionsrelevante Implikationen. Einerseits konnte die Abhängigkeit der Schriftreligionen von der phonetischen Schrift in einer Zeit, die von der Relativierung der Bedeutung der phonetischen Schrift geprägt ist, als eine Schwächung begriffen werden; andererseits öffnete sie den Blick für die subversiven Potentiale der Schriftreligiosität im Zeitalter der Globalisierung.

Was den ersten Punkt angeht, so musste der explizite Medienbezug der Schrift- und Buchreligionen plötzlich als ihre ungeschützte Flanke erscheinen. Es stellte sich, mit anderen Worten, die Frage, inwieweit die so genannten Schrift- oder Buchreligionen mit ihrer verräterischen Heiligung der Schrift nicht gleichsam eine Abhängigkeit von einer Kulturtechnik eingeräumt haben, die nun, wo das Zeitalter der phonetischen Schrift seinen Höhepunkt offensichtlich überschritten hat, gegen sie verwendet werden kann. Vor allen für religiös musikalische Ohren musste diese Frage eine Herausforderung darstellen,

Prekär erscheint die Lage dort, wo die Heiligung der Schriften besonders ausgeprägt ist: Im Judentum und im Islam. Es wäre untersuchenswert, inwieweit der islamische Fundamentalismus auch eine solche medien-technische Grundlage haben könnte, inwieweit sich das, was seit einigen Jahrzehnten als Ende der Gutenberggalaxis westliche Geisteswissenschaftler beunruhigt, sich auch in Verunsicherungen ausdrückt, die die Grundlage für eine neue fundamentalistische Buchreligiosität gebildet haben könnte. Im Fall des Judentums ist die Sache klarer. Es fällt auf, dass die zwei vielleicht erfolgreichsten Schriften über die Schrift der vergangenen Jahrzehnte von zwei jüdischstämmigen Denkern stammen, von Jacques Derrida und von Vilém Flusser, und dass beide ein, wie mir scheint, charakteristisches Schwanken zeigen zwischen Übersteigerung der Bedeutung der phonetischen Schrift und einer zwischen Apokalyptik und Utopie pendelnden Antizipation des Endes ihrer Herrschaft.

Die religiöse Dimension des Alphabets und seiner Gefährdung drückt sich bei Flusser auf unterschiedliche Weisen aus. So ergänzt er in guter gnostischer Tradition die unzähligen Genesisdeutungen um eine medientheoretische Variante. Sie wird bei ihm zu einer Parabel für die Entwicklung der Schrift. Damit beginnt das Geschichtsbewusstsein nicht nur mit der Schrift, diese selbst erzählt verklausuliert eben diesen Sachverhalt.

"Es läßt sich (...) darin der Ursprung des Schreibens erkennen. Der mesopotamische Lehm, von dem der Mythos erzählt, wird darin zu einem Ziegel geformt, der göttliche keilförmige Stilus gräbt in ihn, und so ist die erste Inschrift (der Mensch) geschaffen worden." (19)

Diese Einschreibung (in impliziter Anlehnung an den nachrichtentechnischen Informationsbegriff Shannons) beschreibt Flusser als eine antientropische informative Maßnahme gegen eine scheinbar naturgesetzliche Tendenz zur Entropie: Information sei das Spiegelbild zu ‚Entropie’, die Umkehrung der Tendenz aller Objekte, in immer wahrscheinlichere Situationen und schließlich in eine formlose, höchstwahrscheinliche Situation zu verfallen.(20) Damit aber ist er nur noch einen Schritt von den technoutopistischen und transhumanistischen "Extropianern" entfernt, bei denen ein antientropisches Engagement namensgebend wurde. Gleichzeitig unterscheidet er sich von ihnen durch einen unterschwellig immer vernehmbaren apokalyptischen Begleitton.

Dass wir (noch) ein lineares Geschichtsbewusstsein haben, ist nach Flussers riskanter These Folge der Linearität der Schrift.(21) Die Geschichte der Geschichte nähert sich aber mit dem Bedeutungsverlust der phonetischen Schrift ihrem Ende, und mit ihr die Geschichte der Heiligen Schrift. Die Zukunft gehört technischen Medien, dies ist der Inhalt von Flussers Schrift über die Schrift, sein post scriptum. Und es ist jedenfalls nicht zu übersehen, dass wir uns hier, bei aller Unterschiedlichkeit der Bildung, des Temperaments, der existentiellen Grundsituation, auf grammatologischen Boden bewegen, denn auch Derrida übersteigert die Bedeutung der phonetischen Schrift, auch er sieht gleichwohl ihr Ende und damit das Ende von Geisteswissenschaft und Metaphysik angebrochen, wodurch eine Grammatologie, eine Wissenschaft von der Schrift, einen prekären Status bekommen muss. Sie verdankt sich dem erkennbar gewordenen Ende der Schriftkultur und ist doch nur innerhalb ihrer vollziehbar.(22)

Bei Flusser wie bei Derrida hat die Gefährdung des Alphabets einen religiösen Beiklang. Doch es gibt einen relevanten Unterschied zwischen beiden Denkern, und er führt direkt zum zweiten angesprochen Aspekt, jenem der Schrift als subversiver Macht. Denn wie das Judentum und besonders der Islam von den Erschütterungen der Gutenberggalaxis offenbar stärker betroffen sind als das Christentum, so ist auch diese Dimension hier wichtiger und virulenter.

Der Unterschied zwischen Derrida und Flusser wird nicht zuletzt in den diametral entgegen gesetzten Biographien erkennbar: Flusser wurde gewaltsam einer alteuropäisch-geborgenen Prager Lebenssituation entrissen. Derrida stammte aus Algerien und kannte den Blick auf den Westen als einer imperialen Kolonialmacht, die zu dir kommt. Daraus erwuchsen höchst unterschiedliche Perspektiven auf die alphabetische Schrift, die für Flusser so etwas wie eine Ersatz-Heimat wurde, die er umso mehr liebte, als er sie zum Bedeutungsschwund verurteilt sah, während Derridas Blick auf die phonetische Schrift komplexer ausfiel, weil er in ihr zugleich das Instrument einer Kolonialisierung der Welt erblickte, so dass sein grammatologisches Projekt von der Dynamik lebte, die aus der Spannung zwischen der Furcht vor einem Triumph des Alphabets (als Chiffre für den Westen) und seinem Verständnis für die Widerstandspotentiale, die in einer anderen Schrift, im Zeitalter einer allgemeinen Alphabetisierung und Latinisierung, einer "Mundialatinisierung" liegen.(23)

Hier aber, in dem Widerstand gegen einen als ambivalent und problematisch betrachteten Universalismus, näherte sich eine postmoderne Aufwertung der Schrift - nicht dem angeblich "phonozentrischen" Alphabet allerdings - nicht nur der jüdischen Heiligung der Namen als Widerstand gegen einen römischen Imperialismus, sondern zugleich einem islamisch-fundamentalistischen Widerstand gegen eine westliche Globalisierung an. Nirgends, so scheint es, kamen sich eine fundamentalistische Schriftheiligung und eine postmoderne Aufwertung der Signifikanten so nahe wie hier.

 

Post post Scriptum

Transzendentalpragmatisch betrachtet sind Verabschiedungen des Alphabets immer prekär, wenn sie - und nur solche Verabschiedungen sind innerhalb des westlichen Wissenschaftssytems relevant - selbst schriftlich, genauer, alphabetisch daherkommen. Nimmt man sie beim Wort, sind alle bisherigen Totsagungen falsch gewesen, da auch nach ihnen nicht aufgehört wurde, sich des Alphabets zu bedienen, und auch wenn die Rede vom Ende metaphorisch gemeint ist und das Ende der Relevanz des Alphabets in einer modernen, von anderen Medien und Kulturtechniken beherrschten Zeit gemeint ist, tragen solche Verabschiedungen den Keim performativer Selbstwidersprüchlichkeit in sich, wenn sie sich selbst ernst nehmen. Sie desavouieren nämlich von vornherein die eigene Relevanz und es stellt sich die Frage, warum sich der Autor überhaupt noch in einem überlebten Medium äußert und seinen Lesern wertvolle Zeit raubt. Außerdem erhebt sich, wie auch bei anderen Verabschiedungen, der Verdacht, hier sei die Relevanz dessen, was verabschiedet wird, zunächst übersteigert und überschätzt worden, und die Rede von dem Verlust der Relevanz sei nur der Effekt dieser Überschätzung.

Interessanter Weise verstärkte sich die Vorstellung von einem Ende der Schrift und der Gutenberggalaxis(24) und damit, zumindest indirekt, auch die Ängste vor dem Ende der Schriftreligiosität, explizit ausgerechnet mit der Diffusion des Computers, also mit der allmählichen Überwindung analoger indexikalischer Medien. Gerade diese technischen Medien des 19. Jahrhunderts aber, Photographie, Grammophon, Phonograph, Kinematographie waren es, die zwar die Schrift im Namen führten, sie aber gerade nicht mehr benötigten. Mit dem rasanten Bedeutungsanstieg des Computers seit den 80er Jahren hingegen bahnte sich gerade die Rückkehr der Schrift an, und zwar sowohl in Form operativer Schriften (Programme) als auch in Form der erneuten Verbreitung phonetischer Schriftlichkeit auf der Grundlage neuer digitaler Medien und Techniken wie Internet, E-Mail, SMS, Blogs etc. Die Kombination aus Rechtschreibprogrammen, Bedienerfreundlichkeit und einer weniger autoritären Schreibkultur im Internet taten ihr übriges, um selbst jene zum Schreiben zu animieren, für die der Eintritt unter die Schreibenden in vorkybernetischen Zeiten eine schwer zu überwindende Schwelle bedeutet hatte und führte somit zu einer neuen und vielleicht nie da gewesenen Verbreitung der alphabetischen Kultur. In Anknüpfung an Walter Ongs Formel von einer "sekundären Oralität" als eine durch elektronische Massenmedien ermöglichten neuen Oralität, die auf der Grundlage einer allgemein vollzogenen Alphabetisierung ruht, spricht man seit kurzem von einer "sekundären Literalität" (Klaus Bartels), einer neuen Literarität auf der Grundlage digitaler Medien.

Bedroht erscheint also nicht das Buch, noch weniger das Alphabet und erst recht nicht die Schrift als solche, sondern höchstens die "Tote-Wald-Welt" (Schockwellenreiter) der regelmäßigen Printerzeugnisse auf Papier - und bedenkt man die irrsinnige Verschwendung von Rohstoffen, die für die Produktion kurzlebiger Zeitungen in Kauf genommen wird, wird diese Bedrohung außerhalb von Verlagen und Print-Redaktionen mehr Aufatmen als Ängste auslösen.

Soviel zur Entwarnung. Allerdings war es gerade der Computer als neues, universales Arbeitsgerät von Geistes- und Naturwissenschaftlern, der ein vertieftes hermeneutisches, geisteswissenschaftliches Interesse für die Gründe und Abgründe syntaktischer Maschinen und operativer Schriften in Gang brachte, und damit auch jene Ängste in Gang setzte, von denen Abgesänge an das Gutenbergzeitalter lebten. Mit dem Computer als Universalmedium und Universalgerät geriet die Abgrenzung von Geistes- und Natur- bzw. Ingenieurswissenschaften unter beständigen Druck.

Die Tatsache, dass Geistes- und Naturwissenschaftler zum ersten Mal seit dreihundert Jahren "am selben Equipment arbeiten"(25), kann schwerlich folgenlos bleiben. Wer auf einem Rechner schreibt, kann sich nicht dauerhaft der Realität des Rechnens, der Macht der Algorithmen, der Einsicht in die Unanschaulichkeit des Symbolischen entziehen. Ebenso wenig, wie er sich mittlerweile den symbolisch gewordenen Bildern und Tönen entziehen kann, die ein Fenster oder einen Mausklick entfernt jederzeit hinter oder neben der Schriftebene abrufbar sind. Oder den Informationsmassen des Internet, vor denen uns unsere Textebene schützt, die aber jederzeit präzise und blitzschnell abrufbar sind.

Alles das berührt unseren unmittelbaren Umgang mit Schrift - und muss damit auch Rückwirkungen auf unser Verständnis von Texten und Büchern haben. Schwer denkbar, dass die Verschiebungen, die sich hier, am Leitmedium monotheistischer Schrift- und Buchreligionen vollziehen, keinen Einfluss auf unsere Wahrnehmung heiliger Schriften haben, unabhängig davon, ob man sie nun aufgrund medientechnisch bedingter Umwälzungen für verabschiedet oder - womöglich basierend auf diesem gleichen Eindruck - für wichtiger denn je hält. Dies gilt es im Auge zu behalten, wenn man sich nach - im gewissen Sinne vorschnellen - Verabschiedungen der Gutenberggalaxis jetzt nicht zu vorschnellen Entwarnungen und Entdramatisierungen hinreißen lassen möchte. Die kulturellen und religiösen Folgen des Aufstiegs neuer technischer Medien und Kulturtechniken werden uns noch lange begleiten.(26)

© Luca Di Blasi (Köln, Siegen)


ANMERKUNGEN

(1) Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004, S. 22.

(2) Abraham A. Moles, Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung, Köln, 1971 (1958), S. 254f.

(3) Franz Dornseiff, Das Alphabet in Mystik und Magie, Leipzig, Berlin 1925, S. 53.

(4) Zu den unterschiedlichen Formen avantgardistischer Schriftaufwertung siehe auch Richard Grasshoff, Der Befreite Buchstabe. Über Lettrismus, FU Berlin, digitale Dissertation, in: http://www.diss.fu-berlin.de/2001/9/ (Stand: 8.12.05).

(5) Vgl. Boris Groys, "Zwischen Byzanz und Futurismus", in:www.kontextverlag.de/florenskij.groys.html (Stand: 9.12.05).

(6) Marshall McLuhan, The Gutenberg Galaxy Toronto 1962; Jack Goody und Ian Watt, The Consequences of Literacy Cambridge 1963; Eric Havelock, Preface to Plato, Harvard 1963; Walter J. Ong, The Presence of the World, New Haven 1967; Jacques Derrida, De la grammatologie Paris 1967, L’écriture et la différance, Paris 1967.

(7) Friedrich Kittler, Horst Turk (Hg.), Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik, Frankfurt a. M. 1977, S. 7.

(8) Peter Sloterdijk, Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2001.

(9) So auch der Titel des berühmten Sammelbandes von K. Ludwig Pfeiffer und Hans Ulrich Gumbrecht.

(10) Vgl. K. Ludwig Pfeiffer, Das Mediale und das Imaginäre, Frankfurt a. M. 1999.

(11) Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik, S. 128.

(12) Vgl. z. B. Vilém Flusser, Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?, Göttingen 1989; Friedrich Kittler, "Die heilige Schrift", in: Dietmar Kamper, Christop Wulf (Hgg.), Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, Frankfurt a. M. 1987, S. 154-162; Jan Assmann, "Text und Ritus. Die Bedeutung der Medien für die Religionsgeschichte", in: Horst Wenzel et al. (Hgg.), Audiovisualität vor und nach Gutenberg. Zur Kulturgeschichte der medialen Umbrüche, Wien 2001, S. 97-106 ; Luca Di Blasi, "Mystik, Schrift, Gewalt", in: Klaus Vondung, K. Ludwig Pfeiffer (Hgg.), Jenseits der entzauberten Welt. Naturwissenschaft und Mystik in der Moderne, München 2006, S. 35-56.

(13) Vgl. Eric Havelock, Preface to Plato, Harvard 1963.

(14) Die Unterscheidung primäre/sekundäre Religionen stammt vom Religionswissenschaftler Theo Sundermeier.

(15) Jan Assmann, Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München, Wien 2003, S. 12.

(16) Ebd., S. 32.

(17) Ebd., S. 34.

(18) Ebd., S. 33.

(19) Ebd., S. 14.

(20) Ebd., S. 15.

(21) Vilém Flusser, Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?, Göttingen 1989, S. 11f. Bei Flusser liegt offensichtlich eine Überschätzung der Linearität der phonetischen Schrift vor. Die Ägypter etwa verfügten sehr wohl über ein geschichtliches Bewusstsein, obwohl ihre Hieroglyphen nicht strikt linear geordnet sind.

(22) Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt a. M. 1974 (1967).

(23) Jacques Derrida, "Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der ‚Religion’ an den Grenzen der bloßen Vernunft", in: Jacques Derrida, Gianni Vattimo (Hgg.): Die Religion, Frankfurt a. M. 2001, S. 9-106.

(24) Vgl. Norbert Bolz, Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München 1993.

(25) Friedrich Kittler, "Universitäten im Informationszeitalter", in: Gianni Vattimo (Hg.), Medien-Welten-Wirklichkeiten, München (Fink) 1998, S. 139-145.

(26) Zu religiös-mystischen Implikationen der Computertechnik vgl. Luca Di Blasi (Hg.), Cybermystik, München 2006 (im Erscheinen).


6.7. Heilige vs. Unheilige Schrift

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For quotation purposes:
Luca Di Blasi (Köln, Siegen): Das Nicht-Hermeneutische und der Fundamentalismus. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/06_7/diblasi16.htm

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