Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Januar 2006
 

6.7. Heilige vs. Unheilige Schrift
Herausgeber | Editor | Éditeur: Martin A. Hainz (Universität Wien)

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Wahr und unwirklich

Doron Rabinovici (Wien, Österreich)
[BIO]

 

Ma nischtanah ha lailah haseh mi kol ha leiloth? Worin unterscheidet diese Nacht sich von all den anderen Nächten? Seit Jahrhunderten singen jüdische Kinder diese Frage zu Pessach, und der Vater erzählt - getreu der Haggadah, der überlieferten Geschichte - vom Auszug aus Ägypten, vom Weg durch die Wüste Sinai, als hätte er alles selbst erlebt. Auch der Künstler Arthur Szyk berichtete vom pyramidalen Leid der Juden, zeichnete es nach, zeichnete seine berühmte Haggadah und malte sich den Einzug ins Gelobte Land aus, als hätte er alles selbst erlebt, ja, als erlebte er immer noch den Exodus, als wären die Pharaonen wiedergekehrt. Schlimmer noch, in seinen Augen waren die ägyptischen Herrscher nur die Vorboten jener Herrenmenschen, von denen er sich ein Bild zu machen wußte. Arthur Szyk vollendete seine Haggadah 1939 in London, wo sie 1940 erschien. Sein Lodz, dort war Szyk 1894 geboren worden, hieß nun Litzmannstadt. Aus dem Stetl war ein Ghetto unter nazistischer Kontrolle geworden. Juden aus ganz Europa sollten hierher zwangsverschickt und zusammengepfercht, dann ermordet werden. Alle Juden, selbst die Kinder, die zu Pessach fragten, worin diese Nacht sich denn von all den anderen Nächten unterscheide, waren zu Freiwild geworden. Szyk hatte sein Werk in den frühen dreißiger Jahren begonnen, hatte es von Anfang an als Angriff gegen den Nazismus und als Plädoyer für den Zionismus entworfen. Wäre es nach ihm gegangen, so hätte er noch deutlicher die Parallelen zwischen Gegenwart und Vergangenheit hervor gestrichen, hätte die Ägypter mit Hakenkreuzen bestückt, doch in England wurde vor allzu klaren Stellungnahmen zurückgeschreckt. So verzichtete er auf das Nazisymbol, stattete aber den ägyptischen Aufseher, der einen jüdischen Sklaven schlägt, mit einer Armbinde aus, die nicht zufällig an die SA erinnert.

Die Haggadah von Arthur Szyk ist nur eine von vielen Kostbarkeiten, die in Heidelberg aufbewahrt werden. Sechsundzwanzig der wertvollsten Bände der Hochschule für jüdische Studien wurden in einem sogenannten Zimelienband zusammengefaßt. Vor uns liegt ein Katalog erlesener Stücke, die chronologisch geordnet sind, und wer ihn aufschlägt, findet die Pessachgeschichte des Arthur Szyk darin. Die Ausgabe, die in der Bibliothek liegt, ist 1960 veröffentlicht worden und damit ist sie das jüngste, das neueste Buch, das im Zimelienband angeführt ist. Aus dem Venedig des sechzehnten Jahrhunderts stammt das älteste Druckwerk. Es handelt sich um zwei Traktate eines Talmuds. Kaum war er veröffentlicht, ordnete Papst Julius III. die Vernichtung aller hebräischen Schriften an. Doch diese beiden Traktate überstanden das Autodafé im Jahr 1553 und ebenso die vielen Bücherverbrennungen der folgenden Jahrhunderte, ja selbst die Shoah.

Ma nischtanah ha lailah haseh mi kol ha leiloth. Worin unterscheidet diese Nacht sich von all den anderen Nächten? Zwischen dem Venezianischen Talmud und der Londoner Haggadah liegen mehr als vierhundert Jahre, doch in allen Zeiten feierten die Juden ihr Pessach und zu jeder Unzeit hieß es dann, der Jude backe sein ungesäuertes Brot, die Mazzoth mit dem Blut von Christenkindern, und zu Ostern, in den Tagen von Opferfest und Kreuzestod, entlud sich zumeist aller Haß, lasteten die Christen, die den Sohnestod als Sühnetat feierten, den Juden einen Ritualmord an, um sich auf die rassistischen Mordrituale einzustimmen. Das antisemitische Fest heißt Pogrom.

Die Haggadah von Szyk erschien, ehe die Vernichtung einsetzte. Bevor noch der Massenmord beschlossen war, vollzog sich die Diskriminierung, die im Nachhinein als Bestandteil jenes Prozesses erkannt werden kann, der im Krematorium endete. Für einen Juden wie Arthur Szyk war noch nicht klar, was jenseits der Vorstellung lag und heute mit Auschwitz verortet wird. Aber er wußte: Alle Hoffnungen auf Gleichberechtigung und auf ein menschenwürdiges Leben waren erstickt. Erkennbar war ein Zivilisationsbruch, wenn auch noch nicht in jener Totalität, in der er sich wenige Jahre später auftat, doch offenbar war, daß diese Nacht sich von all den anderen Nächten unterschied.

In der Pesachhaggadah muß der Vater die Frage: "Ma nishtana ha laila hase mi kol ha leiloth" beantworten und dabei auf seine Söhne, so steht es geschrieben, ungleich eingehen. Die Erzählung unterscheidet zwischen dem Weisen (Chacham), dem Schlechten (Raschah), dem Naiven (Tam) und einem Sohn, der noch nicht einmal Fragen stellen kann. (Sche ejno jodea lischol). In der Überlieferung wird nicht genauer beschrieben, wer das weise, wer das einfältige, wer das schweigsam verstockte und wer das verstockt böse Kind ist. Im Text ist nicht ausgeführt, wie der dumme Bub oder wie der schlechte zu identifizieren ist. Arthur Szyk machte die Charaktere jedoch erkennbar. Der Kluge ist bei ihm ein gelehriger, durchgeistigter Jeschiwe-Bocher, der die Schriften kennt, der Naive ist hingegen ein plumper Feistling in traditioneller Tracht und Gebetsschal, derjenige der keine Fragen stellen kann ist ein einfacher Proletarier ohne Kippa, der Böse aber ist der Prototyp des Assimilanten im schlechtesten Sinne des Wortes. Er trägt hohe Lederstiefel mit Sporen, Reithosen, raucht eine Zigarre. Er steht da wie ein eitler Geck, der nichts mehr mit dem Judentum zu tun hat und nichts mehr damit zu tun haben will.

Wenn es nach den Illustrationen von Szyk geht, ähnle ich wohl kaum dem weisen und nicht einmal dem naiven Sohn. Ich komme den schlimmeren Varianten näher. Ich bin Jude, aber das macht mich noch lange nicht zum Experten für jüdische Theologie, und selbst wenn ich wie mein rumänischer Großvater, der zum Leidwesen seiner Familie sich lieber um himmlische Verhältnisse kümmerte als um die irdische Existenz seiner Kinder, wenn ich ein volksfrommer Chassid wie er, den ich nie kennengelernt habe, geworden wäre, könnte ich hier dennoch nicht als Fachmann auftreten. Ein wissenschaftlicher Zugang, ein kritisches Textstudium waren meinem Vorfahren, diesem Ostjuden aus Moldawien, der die alten Schriften ohne Unterlaß durchgearbeitet haben mag, vollkommen fremd.

Obgleich ich kein Fachmann für jüdische Studien bin und nicht dem guten Vorbild von Arthur Szyk entspreche, glaube ich nicht, daß ich weniger jüdisch bin als ein Chassid. Ist es denn nur Kult, Folklore und Lehre, was das Jüdische ausmacht? An der Existenz des jüdischen Gottes läßt sich gewiß zweifeln, nicht aber, dies kann ich bezeugen, an jener einer jüdischen Mamme. Ich weiß, wovon ich spreche. Es gibt eine jüdische Familienstruktur, einen jüdischen Humor, jüdische Lebenstraditionen und jüdische Existenzbedingungen jenseits der Religion, und mit Ben Gurion kann ich sagen, daß der Gott an den ich nicht glaube, ein jüdischer ist.

Der Begriff Assimilation wird nicht selten falsch verwendet, als könne das assimilierte Judentum von einem vermeintlich "ursprünglichen" jenseits aller interkulturellen Einflüsse, jenseits jeglicher Assimilation klar getrennt werden. Selbst viele Mitglieder der streng orthodoxen Agudass Isroel waren im Wien des frühen zwanzigsten Jahrhunderts westlich bürgerlich gekleidet gewesen, sahen dem bösen Sohn in Szyks Darstellung ähnlich, was ihrer jüdischen Gesetzestreue keineswegs widersprach. Zugleich gab es damals ebenso atheistische, marxistische Juden, wie etwa den österreichischen Arbeiterführer Otto Bauer, die Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde blieben.

Entstammt nicht die Orthodoxie selbst einer Assimilation und unterliegt einer ständigen Wandlung, die, wie die Geschichte der rabbinischen Schulen lehrt, keineswegs abgeschlossen ist? Ist der Kaftan der Chassiden, der nicht von Abraham oder Moses herrührt, sondern von der Tracht polnischer Adeliger, nicht ein Symbol der Assimilation?

Darüber, was jüdische Kultur ist, läßt sich lange streiten. Den alten Talmud aus dem sechzehnten Jahrhundert, der hier in Heidelberg aufbewahrt ist, ließ der Christ Marco Antonio Giustiniani drucken. Ist deswegen das Venezianische Buch keine jüdische Schrift mehr? Im Zimelienband ist auch die erste vollständige deutschsprachige Ausgabe der Mischna angeführt, die 1763 erschien. Der Ansbacher Stadtkaplan Johann Jacob Rabe übersetzte die Schrift nicht bloß, er verfaßte ein Vorwort, in dem er den Irrglauben wiederholte, das fortwährende Leid der Juden sei eine Strafe für seine Ablehnung des Gottessohnes. Ist solch eine Mischna etwa nicht mehr jüdisch, weil sie von einem christlichen Geistlichen übersetzt worden ist? Kann die eine Kultur von der anderen scharf getrennt werden, als könnte ein Buch nicht mehreren zugleich zugehören? Im Ausschlußverfahren? Sind etwa die Hebräischen Melodien von Heinrich Heine nicht auch jüdische Artikulation, bloß weil sie auf Deutsch verfaßt sind?

Kennen Sie den, wie in der Sozialwissenschaft gesagt wird, Pizza-Effekt? Am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hatten arme sizilianische Einwanderer in New York nichts anderes zu essen als altes, trockenes Brot, das sie mit Tomatensauce bestrichen. Mit ihrem gesellschaftlichen Aufstieg veränderte sich der Imbiß, kneteten sie den Teig, um ihn mit Käse, Fleisch, Schinken und Gemüse zu belegen und frisch zu backen. Auf Urlaub in Italien servierten sie ihren Verwandten die neue Köstlichkeit und den Geschmack ihres Erfolgs. So entstand nicht, wie es die Legende uns immer weismachen wollte, in Neapel, sondern in Amerika jenes Gericht, das dann als echte italienische Nationalspeise zu Weltruhm gelangte.

Ist nicht das Judentum ein einziger Pizza-Effekt? Nicht nur ist das Judentum wie die Pizza erst nach dem Exodus entstanden und bloß in der Diaspora zu dem geworden, was es ist. Die eine einzig wahre Pizza gibt es ebenso wenig wie das einzig wahre Judentum. Sie wird da mit Käse serviert und dort mit Schinken, bei den einen mit Paprika und bei den anderen mit Mais, manche schwören auf Tomaten, einige auf Zwiebeln, und wer je Italiener streiten hörte, ob, was mit einer Ananas daherkommt, noch eine echt italienische Pizza genannt werden kann, erinnert sich an manche Debatte zwischen Orthodoxen, Reformern und Konservativen. Doch wie vertraut klingt erst die entscheidende Frage: Worin unterscheidet sich diese Pizza von all den anderen Pizzas?

Schmeckt zudem nicht jede Zutat anders, je nachdem, in welchem Land und in welcher Saison sie auf den Tisch kommt? Ebenso scheint ein und dasselbe jüdische Gebot in verschiedenen Epochen und auf unterschiedlichen Kontinenten an neuen Charakter zu gewinnen. Was einst jüdische Aufklärung war, wirkt nun zuweilen abgestanden und sogar wie eine Abkehr von der Moderne.

Erst das babylonische Exil und die römische Vertreibung bewirkten den Verlust der priesterlichen Macht und die rabbinische Revolution, ohne die es keine jüdische Orthodoxie gäbe. Bekannt ist die Geschichte von Rabbi Jochanaan ben Sakkai, der sich in einem Sarg aus dem belagerten Jerusalem schmuggeln ließ, ehe es fiel. Er ließ den in Flammen stehenden Tempel hinter sich, um ein Lehrhaus in Javne zu gründen. Erst nach der Zerstörung des Jerusalemer Heiligtums, außerhalb des Landes wurden die Opferrituale überwunden, entstand ein neues Judentum. Die Andacht konnte nicht mehr an sakrale Stätten haften bleiben und das Denken orientierte sich an Studium und Erinnerung. Die Schrift sollte zur Heimat werden. Das Primat der Räumlichkeit wurde durch jenes der Zeit ersetzt. Das klerikale Prinzip von jenem der Gelehrsamkeit abgelöst. Der Tempel von der Schule.

Ich muß zugeben, daß ich nicht weiß, wodurch sich die Heiligkeit einer Schrift erklärt und worin sich die heilige von der unheiligen unterscheidet, zumal, wie aus meinem Pizzabeispiel zu ersehen war, ich der Meinung bin, daß jede heilige Schrift zu Beginn eine unheilige, eine häretische gewesen sein muß. Gleichzeitig ist nicht zu leugnen, daß im Judentum eine Schrift existiert, die herausragt, die nicht mit den anderen Schriften verglichen werden kann. Anders als im Christentum, das von Beginn an eine Umschreibung und Fortschreibung zu sein vorgibt, geht das Judentum mit der Torah anders um. Die Torah ist eine Quelle, deren Autorenschaft über weite Strecken nicht geklärt scheint. Ihr Ursprung liegt jenseits einer historischen Periode. Aus ihr spricht nicht ein Evangelist, dessen Vita datierbar ist. Die Torah hingegen wurde Moses übermittelt und an ihr darf kein Buchstabe verändert werden. Dieser buchstabengetreue Glaube ließ das Judentum zum Volk des Buches werden, doch vielleicht geschah das zu Unrecht, denn wie Dan Diner in seinem Buch "Versiegelte Zeit" darlegt, ist es vielmehr der Islam, der als Religion des Buches bezeichnet werden sollte. Während das Judentum nämlich neben der heiligen Schrift auch die Werke ihrer Auslegung und der offenen Auseinandersetzung kennt, hat, so Dan Diner, die Konzentration auf den Koran im Islam zu einer Feindseligkeit gegen den Buchdruck geführt. Das schriftliche Hocharabisch blieb in den letzten Jahrhunderten eine sakrale Sprache. Dan Diner erklärt auf diese Weise, und zwar ohne in einen Kulturalismus abzusinken, wie etwa Christian Ortner, der ihn in Österreich aus dem Zusammenhang zitierte, Dan Diner jedenfalls erklärt, wie sich die Aufspaltung der arabischen Sprache in eine sakral schriftliche und eine profan mündliche hemmend in Hinblick auf Modernisierung und Industrialisierung auswirkte. Sie versiegelte die Zeit. Der eherne Text versteinerte das Denken. Diner differenziert hierbei zwischen den verschiedenen muslimischen Gesellschaften und Staaten. In der säkularen Türkei, im islamistischen Iran oder im multikulturellen Indonesien, so verschieden diese Nationen sind, wird überall nicht arabisch gesprochen. Die Verhältnisse in Saudiarabien, in Dubai, Marokko oder Ägypten müssen ebenfalls unterschieden werden. Aber in arabischen Staaten gilt, daß Hocharabisch nicht verändert und angepaßt werden kann, denn das wäre eine Ketzerei gegen Gott und ein Verrat an der arabischen Nation. In den einzelnen regionalen Mundarten und nationalen Dialekten werden alltägliche, politische, aktuelle Fragen artikuliert, aber nie festgeschrieben. Die einzelnen Regiolekte sind nicht schriftwürdig. Sie bleiben nicht in Erinnerung. Sie sind unheilig.

Dieses Beispiel beweist, daß die Heiligkeit einer Schrift den Respekt vor allem Schreiben zerstören kann, aber umgekehrt wissen wir, daß die Mißachtung der Schrift zum Verrecken aller Sprache führt. Erst die Verehrung der Schrift als Medium unserer Wahrheit läßt uns fragen, worin sich diese Nacht von anderen unterscheide und ermöglicht eine Sicht, die selbst in der Nacht nicht alle Katzen grau werden läßt, ja, in der sich eine Nacht klarer von anderen unterscheiden läßt, und eben dadurch bietet sie Perspektiven für kommende Tage.

© Doron Rabinovici (Wien, Österreich)


6.7. Heilige vs. Unheilige Schrift

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Doron Rabinovici (Wien, Österreich): Wahr und unwirklich. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/06_7/rabinovici16.htm

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