Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Mai 2006
 

6.7. Heilige vs. Unheilige Schrift
Herausgeber | Editor | Éditeur: Martin A. Hainz (Universität Wien)

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"Trans-Skriptum" - oder: Einübung in die Projektionsfläche

Daniel Amin Zaman (Wien)

 

Das gleichnamige, vom Vortragenden gefertigte Kunstwerk - eine Handabschrift des Matthäusevangeliums mit Breitfeder auf ca. 300 Seiten nachträglich gewachstem Dünnpostpapier, 1998 - bildet den Ausgang einer Analyse dieser speziellen Erfassungsmethode sowie der gedanklich zugrundeliegenden Ausgangsbasis, Vorstellung und deren Konsequenzen.

"Trans-Skriptum" wird hier in einem transformatorischen Sinne verwendet und verstanden, ein "Hinüberschreiben" also, und als Weg vom zweckgebunden Aspekt von Schrift, von einem streng hermeneutischen "aliquid stat pro aliquo" im semiotischen Sinn, zur Schaffung einer autoreflexiven und also nicht-linearen, freigestellten und polyvalenten Projektionsfläche, auf der sich dasjenige "zeigen" kann, das sich "zeigt".

Die künstlerische Arbeit stellt also eine Annäherung und den Versuch, schreibend, durch die Schrift durchzudringen zu einem "Dahinter" oder besser: zu einem nicht- linearen "Implikat", sie versucht und untersucht die Möglichkeit der Erfassung resp. die Ermöglichung der Erfassung eines "Verborgen- Abwesenden".

Der Arbeit gleichsam vorangegangen war eine Reise nach Dublin bzw. der Besuch des berühmten Trinity-College, in dem das sog. "Book of Kells" zu bewundern ist. Dieses herausragende Beispiel an Buchmalerei, an Bibelabschrift wurde ab 791 mit dem Ziel geschaffen, sich über den finsteren Abgrund eines angesichts plündernder Horden von Ostgoten, Westgoten, Germanen etc. verdunkelten Europas wie ein Regenbogen zu spannen.

Was die besten dafür auf der Insel Iona versammelten Kalligraphen und Künstler Europas schufen, war freilich mehr als "nur" eine Abschrift zur Konservierung der biblischen Texte. Die atemberaubende künstlerische Gestaltung hat eine Projektions- und Transparenzfläche geschaffen, die diejenigen Sphären zugänglich werden und sich zeigen lässt, die nicht verschriftlicht werden können. Es wurden verschiedenste Aspekte - darunter natürlich auch ein Gottesaspekt wie ich es nennen will und später noch genauer ausführen werde - mobilisiert und aktualisiert, der nicht-sprachlich ist und sich also nur mit entsprechenden nicht-sprachlichen Mitteln fassen lässt. Dem "Book of Kells" kommt als "Relikt" Spur und Aura zu, um es mit den Worten Walter Benjamins auszudrücken. "Die Spur ist [demnach] Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ. Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft. In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser."(1) Und bei Adorno heißt es, die Aura sei dasjenige, "was an Kunstwerken deren bloßes Dasein transzendiert."(2)

Betrachten wir das "Book of Kells", ein vergleichbares Werk oder die vorliegende Arbeit als "Relikt", so sehen wir uns mit einem besonderen Phänomen, mit einem besonderen Zeichen konfrontiert, das freilich mehr umfaßt als die bloße Historie.

Das Relikt ist als ein "Übriggebliebenes" ein polyvalentes, integrales und integrierendes Zeichen, das als Zeuge alles, was zu seinem "So-Sein" beigetragen hat, alle inhaltlichen Aspekte ebenso wie den Akt der "Herstellung", seines Werdens, dessen Impetus, dessen Beweggrund, die Mühen etc. gesamtheitlich, gleichwertig und in besonderer Weise "gespeichert" hat, diese aktualisiert und darin als Anlaßobjekt zum Nachvollzug aller wirksamen Aspekte fungiert. Alle Aspekte, die das Relikt zu seiner speziellen Gestalt, seiner Präsenz und seiner Aussagen haben werden lassen, treten zwar für sich in den Hintergrund zugunsten des komplexen, integralen Ganzen, sind gleichzeitig jedoch allesamt aktualisiert und lesbar - also auch im übertragenen Sinne lesbar. Das Relikt steht als dieses Zeichen somit nicht für ein vermeintlich lineares Anderes, auch ist es nicht nur ein Kompositum vieler linarer Zusammenhänge, sondern eben ein komplexes Zeichen, das darin hauptsächlich sich selbst bezeichnet. Signifikant und Signifikat gehen eine eigentümliche Deckung ein.

Diese polyvalente Gesamtheit, dieses Integral entzieht sich freilich monovalenten und linearen Deutungs- und Auslegungsversuchen, was nahe legt, dass andere, adäquate Erfassungsmethoden gefunden werden müssen, will ich einem solchen komplexen-integralen Zeichen gerecht werden. Ebenso nahe liegt, dass diese Erfassungsmethoden keine linearen, sondern vielmehr zyklisch oder gar autoreflexiv werden sein müssen.

Letzteres bedingt schon die angesprochene Gleichwertigkeit, mit der die Aspekte erscheinen, heißt Linearität doch auch hierarchische Anordnung und Bewertung, was im Zuge dessen Zurücksetzen, oft gar Negation vermeintlich untergeordneter Aspekte bedeutet. Minimalisierung von Phänomenen zugunsten einer fassbareren Linearität - eine herkömmlich wissenschaftliche Praxis - heißt dann wiederum die Verkennung des gesamten Phänomens oder eben die unberechtigte, reduktionistische Annahme, das selbe Phänomen wäre schlicht und einfach ein Kompositum und das Gesamte eben doch nicht mehr als die Summe seiner Einzelteile.

Die anfangs grob beschriebene Arbeit versucht einen entsprechenden methodischen Weg der Erfassung zu gehen. Die Entsprechung liegt im autoreflexiven Akt des Schreibens mit dem Ziel der Ermöglichung und Schaffung einer Projektionsfläche, auf der sich dasjenige, diejenigen Aspekte zeigen, die sich - nach Wittgenstein - zeigen und nicht anders zugänglich sind.

Dieses "Zeigen" impliziert eine eigentümliche (Selbst-)Aktivität, ohne die die entsprechenden Inhalte nicht zu fassen sind. Der Akt des Schreibens wird dem gegenüber zu einem gerichteten aber quasi ziel-losen Akt im Bezug auf ein vordefinierten Ergebnis. Ziel ist die Ermöglichung dessen, was die Schrift als Implikat enthält, selbst aber nicht mittels der Schrift auszudrücken ist. Ziel ist die Durchdringung des mitteilenden, an die sinnliche Erscheinung der Schrift gebundenen Aspekts, ist die Projektionsmöglichkeit der nicht-linearen Implikate mittels einer nicht-linearen Methode. Das Schreiben ist mehr ein "Beschwörungsakt", eine Bewegung einer sich nach Innen verjüngenden Spiralbewegung,, bis sie an einem bestimmten Punkt in eine Kreisbewegung einschwenkt. Diese Kreislinie beschriebe dann auch die Grenze zwischen dem "Sagbaren" und " Nicht- Sagbaren". Über alles jenseits dessen, darüber muss man schweigen.

Denn gerade im Bezug auf die heilige Schrift - oder besser - auf das "Heilige" der sog. heiligen Schrift, schien es merkwürdig anzunehmen, gerade dieses wäre beschreibbar, als wäre das Göttliche schriftlich fassbar; und Gott eine linear definierbare Instanz, etwas Absolutes, das mit relativen Mitteln zu umfassen wäre. Eine solche Sicht erschiene mir für sich wieder als eine Banalisierung und Minimalisierung.

Ich möchte nun die bereits erwähnte theoretische Basis und Ansicht nun etwas genauer beleuchten und dabei speziell auf die Frage des Gottesaspekts, der im Relikthaften ebenso aktualisiert ist, näher eingehen. Denn auch die Bibel stellt für mich in der bereits definierten Form ein Relikt-Zeichen dar.

Die theoretische, auch meiner Arbeit zugrunde liegenden Überlegung und Vorstellung lehnt sich maßgeblich an das System der "Substantia" im Sinne Spinozas an, dem ich jedoch zusätzlich die korrelierende und ergänzende, für das Verständnis des Bisherigen maßgebliche Unterscheidung eines transzendenten (absoluten) und eines offenbaren (manifesten) Aspekt Gottes zur Seite gestellt ist.

Wie Spinoza es definiert hat, ist unter der Substanz dasjenige zu verstehen, "was in sich ist und aus sich begriffen wird; das heißt das, dessen Begriff nicht des Begriffes eines anderen Dinges bedarf, um daraus gebildet werden zu müssen. - Per substantiam intelligo id, quod in se est, et per se concipitur: hoc est id, cuius conceptus non indiget conceptu alterius rei, a quo formari debeat."(3) Das heißt, dass es nur eine einzige solche Substanz geben kann. Denn: "Würden wir mehrere, voneinander unterschiedene Substanzen annehmen, müßten wir auch etwas zugrundelegen, das all diesen Substanzen gemeinsam wäre. Gäbe es dieses Gemeinsame nicht, ließen sich die Substanzen voneinander nicht unterscheiden. Wollte man nun jede dieser Substanzen definieren und bestimmen, so könnte dies notwendigerweise nur so erfolgen, dass man ihre jeweiligen Unterschiedenheit von den übrigen Substanzen, damit aber auch ihre Besonderheit innerhalb dessen, was allen gemeinsam ist, namhaft machte. Das bedeutet aber, dass man keine Substanz mehr aus sich heraus begreifen könnte, sondern nur im Bezug zu den übrigen Substanzen ((also relativ)). So folgt: Ist Substanz ein aus sich heraus zu begreifenden Seiendes, dann kann es nur eine Substanz geben."(4)

Diese Substanz ist unendlich und der Definition folgend, absolut.

Die Substanz stellt somit den transzendenten, verborgenen Gottesaspekt dar. Sie ist aus sich und in sich, sie hat keine Ursache, ist sich "causa sui" - nicht zu verwechseln damit, sie würde sich selbst "erschaffen" - sie IST im strengsten Sinn überhaupt, aus sich und ist darin auch noch nicht "Gott" zu nennen. Denn "Gott", als Bezeichnung, als Begriff, ist schon Offenbarung und gehört demnach freilich in den zweiten, den offenbaren Aspekt. Wo immer von "Gott" gesprochen wird, ist der offenbare Gottesaspekt gemeint.

Im "Tao-te ching - Der Weg und seine Kraft", der Hauptschrift des Taoismus bezieht sich Lao-Tse auf dieselbe Doppelheit. Den Namen des "Grundes alles Seins" kennt er nicht, aber er kann von diesem Tao - quasi ebenso eine "Stellvertreterbezeichnung" dieses Namenlosen - sagen, dass es einmal verborgen, geheimnisvoll und daher unaussprechlich sei, dann aber auch sich erweisend und offenbar, daher aussprechlich und nennbar, weil es sich selbst aussprechend - also aktiv ist, sich zeigt; in dieser Beziehung entspricht es dem "logos"

Die Substanz ist in sich und aus sich, hat als Substanz keinen Anfang und kein Ende, ist also ewig, un- bedingt, absolut und nicht relativ; sie bedarf - wie in der Definition genannt - keines anderen, um daraus gebildet zu werden. Die Substanz ist im Verborgenen, bleibt auch verborgen und ist unaussprechlich.

Offenbarung hingegen ist abhängig und freiwillig; und zwar in beide Richtungen.

Es ist "Gott", der sich selbst benennt und benannt werden kann, also der offenbare Aspekt, der sich mitteilt. Anders als so könnten wir nichts darüber wissen, und worüber uns die Offenbarung Auskunft gibt, ist nun nicht die Offenlegung des Substantiellen, sondern die des offenbaren Aspekts per se.

Das Unbenennbare spricht sich selbst aus, wird Gedanke, wird Wort und offenbart sich in diesem Wort, durch dieses Wort, schöpft und erschafft mit Wort (Gott sprach: "Es werde Licht" etc.)

"Gott" - be-dingt sich quasi in seiner Offenbarung. Er bringt sich in dialogische Abhängigkeit zu seiner Schöpfung, er verläßt gleichsam seine Absolutheit, er setzt sich selber relativ, um sich in seiner Schöpfung und eben dieser relativen Schöpfung mitzuteilen, er begibt sich auf Augenhöhe mit seiner Schöpfung, was er in seiner Menschwerdung und Versöhnung in und durch Jesus Christus krönt.

"Gott" ist ob dieses freiwilligen Akts der Offenbarung in seinem "Gott-Sein" freilich nicht von seiner Schöpfung abhängig. Wie sollte er, ist es doch seine Schöpfung und er das schlechthin Vorgeordnete. Er hat geschaffen und er war schon und ist nicht erst mit seiner Schöpfung geworden.

Meister Eckhart sagt in diesem Zusammenhang: "Die Vernünftigkeit will nicht Gott, als er Gott ist. Warum? Da hat er Namen; und wären tausende Götter, sie bricht immer mehr durch, sie will ihn da, da er nicht Namen hat."(5)

In jedem Fall und per definitionem - wonach die Substanz dasjenige ist, das keines Anderen bedarf, um daraus gebildet zu werden - wäre es grundlegend falsch, den offenbaren Aspekt seinerseits in Relation zur Substanz zu setzen, denn schließlich reden wir nicht von zwei Göttern, sondern von einem.

Denn auch wenn wir zwei Aspekte unterscheiden, ist es ein einziger Gott.

Diese letzte Feststellung der Einheit ist insofern von höchster Bedeutung, als sie nun einsichtig macht, dass demnach in jeglicher Offenbarung - wie auch immer sie gestaltet ist - und eben auch in der Schrift ein Anteil der Substanz zwingend als Implikat enthalten ist. Dieses substanzielle Implikat ist, wie ich ausgeführt habe, nicht- linear, nicht relativ.

Doch wie kann ich dieses Implikats nun habhaft werden? Wie kann ich die Methode adäquat machen, anpassen?

Zwei Tatsachen sind - mich wiederholend - logisch gegeben: Eine lineare Methode ist hierfür nicht zweckmäßig, weil diese wiederum zweck-mäßig wäre und keine Entsprechung gegenüber dem Nicht-linearen aufweist. Und zweitens: Offenbarung läßt sich nicht von uns machen oder herbeiführen. Sie ist stets vorgeordnet, sie muss sich zeigen und zeigt sich - in ihrer eigentümlichen Aktivität - sie verlagert das Gewicht der Aktivität von uns als Suchende weg zu uns als Erfahrende, zu einem "Sich-finden-lassen". Die reflexiven Formulierungen von sich zeigen, sich finden lassen, sich offenbaren etc. gibt diesbezüglich schon maßgeblich Auskunft.

Was jedoch in unseren Möglichkeiten ist, ist ein "Sichtbar-werden-Lassen", ein Ermöglichen, die Schaffung einer - wie schon im Titel erwähnte - Projektionsfläche.

Ein solches Vorgehen bedingt eine vermeintlich paradoxe Haltung, ist ein entsprechendes Agieren im selben Maße auch ein Re-agieren, wo das Ziel eine Ziellosigkeit und die Aktivität einen Zustand der Passivität beschreibt. Ich könnte auch sagen, wo eine Linearität sich verliert und von einer Autoreflexivität abgelöst wird. In diesem Sinn ist auch die Formulierung "Einübung" zu rezipieren.

In diesem Verständnis und diesem Bemühen ist auch meine hier vorliegende, Arbeit anzusiedeln. Der Versuch mittels des Schreibens, des nicht gerichteten, autoreflexiven Schreibens durch den streng zweck- und mitteilungsgebundenen Aspekt und durch die Abstraktion jedes Zeichens auf das, was es versucht abzubilden, durchzudringen. Das Schreiben und dessen normalerweise erstrangiger Zweck zweckzuentfremden und die Methode zugunsten dieses substantiellen Implikats anzupassen.

Das Schreiben wird zum Vehikel, zur Methode der Ermöglichung aller dieser Aspekte, die sind, sich jedoch nicht sprachlich formulieren lassen.

Das Relikt, das Kunstwerk zeugt von dieser Suche, dem gezielten Versuch, Schrift aufgrund ihres Ungenügens nicht-linearer, substantieller Inhalte gegenüber zu durchdringen.

© Daniel Amin Zaman (Wien)


ANMERKUNGEN

(1) Walter Benjamin, Passagenwerk: Der Flaneur, Signatur M 16a4; zitiert nach: Allegorien kultureller Erfahrung, Ausgewählte Schriften, Leipzig 1984, S.88

(2) Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M 1973, S.460

(3) B.Spinoza, Ethica, dt. K.Blumenstock, in: Opera- Werke, 2Bde., Darmstadt 1980, Bd.2

(4) Heinrich Schmidinger, Metaphysik, Stuttgart 2000, S.182

(5) Meister Eckharts mystische Schriften, übertragen von Gustav Landauer, Berlin 1903, S.16


6.7. Heilige vs. Unheilige Schrift

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For quotation purposes:
Daniel Amin Zaman (Wien): "Trans-Skriptum" - oder: Einübung in die Projektionsfläche. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/06_7/zaman16.htm

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