Nr. 16    Oktober 2014
TRANS: Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften

Der "Somali Ossman" und "Minn,
Sohn des Sultans von Marokko"

Ethnizität auf Postkarten und in Texten Else Lasker-Schülers

Monika Leipelt-Tsai (Taipeh) [BIO]
Email: leipelt@nccu.edu.tw

 

Postkarten wecken das Interesse und sprechen etwas Sinnliches an, das in der Korrespondenz der E-Mail wegfällt. Dies scheint insbesondere der Fall, wenn sie visuell als Bildpostkarten mit Kunst in Verbindung treten. Neben der Reproduktion von Kunstwerken auf Bildpostkarten als "Künstlerkarten"(1) werden Postkarten auch als eigenständiges Medium der Kunst genutzt. Als eine der Ersten in der Moderne lassen sich speziell bei Postkarten der deutsch-jüdischen Schriftstellerin Else Lasker-Schüler Korrespondenzen zwischen Gezeichnetem und Literarischem im Genre des Kleinen verfolgen, das mediale Gattungsgrenzen infrage stellt. Hier soll vor allem aber der Frage nach den Grenzen der Ethnizität verfolgt werden. Die problematische Zuordnung eines Anderen zu der konstruierten sozialen Strukturkategorie ‚Ethnizität' wird traditionell mit bildhaft sichtbaren, abgrenzenden Zeichen verbunden.(2) Demnach werden diese z.B. mit kulturell bestimmbar scheinenden Elementen wie Kleidung, Religion, Brauchtum und/oder mit der Hautfarbe, Haarfarbe und -struktur, oder Formen von Gesichtsteilen gelesen, und als Zeichen für die Zugehörigkeit zu einer Ethnie interpretiert. Mit der Konstellation von exemplarischen Postkarten, Zeichnungen und Texten Lasker-Schülers soll im Folgenden (z.B. mit Homi K. Bhabha)(3) der Frage nachgegangen werden, wie sich Zeichen von Ethnizität in der Kunst Lasker-Schülers lesen lassen. Dabei werden Lasker-Schülers neu wiederentdeckte Exponate aus der Ausstellung der Akademie der Künste "Arte Postale" vom 30.08.-08.12.2013 in Berlin bei der Betrachtung einbezogen, die mich hierzu nach Abschluss meines Forschungsprojekts erneut inspiriert haben.

 

Postkarten

Die Postkarte wurde 1865 von dem deutschen Generalpostmeister Heinrich von Stephan entwickelt,(4) und ab 1869 zuerst in Österreich-Ungarn als sogenannte "Correspondenzkarte" mit eingedrucktem Postwertzeichen eingeführt. 1872 wurde sie in "Postkarte" umbenannt, und drei Jahre später wurde sie als Weltpostkarte, d.h. "Carte postale", international zugelassen.(5) Um 1900, in der Zeit des sogenannten "Expressionismus", wurde das Genre Postkarte zum neuartigen Massenmedium.(6) Zuerst als reine Schriftkarte konzipiert, besaß die Postkarte eine Seite, die ganz weiß belassen als Textseite bestand.(7) Sie war auf der Anschriftenseite anfangs oft noch am unteren Rand mit einer Gebrauchsanweisung versehen. Unter der Bezeichnung "Deutsche Reichs-Post. Postkarte" stand der Text: "Auf die Vorderseite ist nur die Adresse zu schreiben."(8) Ab 1907 durfte auch auf der Anschriftenseite Text untergebracht werden, was durch den bis heute charakteristischen senkrechten Trennstrich gekennzeichnet wird (vgl. Diekmannshenke, 3).

Else Lasker-Schüler gehört zu den Künstlern, die das damals neue Genre Postkarte für ihre Kunst entdeckten. Zeittypisch für das Fin de Siècle waren literarische Kleinformen,(9) in deren Splitterform neben dem Ruf nach "Zeitersparnis" (ibid., S. 64) die Wandlung der Wahrnehmung und ein neues Lebensgefühl Widerhall fanden. Sie nutzte Formate des Kleinen nicht nur für ihre Texte,(10) sondern auch für ihre Zeichnungen. Was war die Postkarte für Lasker-Schüler? Dazu kann eine Äußerung in ihrem Essay "Handschrift" über eine Postkarte von einem Dichterfreund herangezogen werden, den sie schon aus ihrer Heimatstadt Wuppertal kannte. Sie schreibt 1910 in der Zeitschrift "Der Sturm":

"(...) hat schon einer der Leser einmal ein Lebenszeichen vom Dichter Peter Baum bekommen? Nämlich gerade bringt mir der Postbote so ein Sommerbildchen, Buchstaben: Mückenschwarm, der vergnügt in der Sonne tanzt. Seine Karte blendet." (KA 3.1, S. 160).

Die Postkarte wird bei Lasker-Schüler zum Zeichen, zu einem vergnüglichen "Lebenszeichen" eines Freundes. Beim Empfang dieses Zeichens klingt eine emotionale Wärme an, die metaphorisch verwandelt wird und Sonnenstrahlen evozieren lässt, durch deren Helle eine Blendung imaginiert wird. Das Wort "Sommerbildchen" deutet die Postkarte als ein Bild, das auf den Sommer verweist. Die Buchstaben von Baums Handschrift auf der Karte sind nicht allein lesbare Schriftzeichen. Die Metapher vom Mückenschwarm zeigt, dass die Buchstaben auf der Postkarte wie ein Bild als Zeichen auf verschiedenste Weise gelesen werden können. Dies verweist auf die grundsätzliche Problematik von Signifikant und Signifikat, d.h. von Zeichen und Bezeichnetem. Es bleibt stets ungewiss, wie das, was vom Absender versandt wird, vom Empfänger gelesen wird. Mitteilbarkeit wird nicht garantiert. In geschriebenen Texten wie auch in gezeichneten Texten bleibt das Zeichen eine rätselhafte Verknüpfung von Referenzspuren,(11) die sich mit der Aktivität des selektiven Verbindens von Verweisungszusammenhängen im Leseprozess als schwankend und unbeständig erweisen. Wenn Baums Buchstaben als vergnügte Mücken gelesen werden, wird die Differenz zwischen Schrift und Bild aufgelöst. Wenn die Schrift laut Lasker-Schüler "ein Bild für sich [ist] und (...) nichts mit dem Inhalt zu tun" (KA 3.1, S. 158f.) hat, dann gibt es auch keine feststehende Bedeutung in den Zeichnungen Lasker-Schülers. Wie bei jedem Text entspringt erst im Prozess der jeweiligen performativen Aktualisierung des Bildes ein Sinn.(12)

 

"Prinz Jussuf mit seinem Somali Ossman"

In der neuen Ausstellung der Akademie der Künste "Arte Postale. Bilderbriefe. Künstlerpostkarten, Mail Art" vom 30. August - 8. Dezember 2013, die aus dem Fundus ihrer Archive zusammengestellt wurde, ließ sich in Berlin neben drei Bilderbriefen auch eine unbekannte Postkarte Lasker-Schülers aus dem Herbert-Ihering-Archiv wiederentdecken.(13) Sie ist im neuen Werkverzeichnis von Ricarda Dick nicht enthalten und wurde zuvor nicht in der Forschung erwähnt. Die neu entdeckte Postkarte wurde am 18.11.1924 in Charlottenburg abgestempelt und ist "An Herrn Dr. Ihering, Börsencourier, Berlin S.W., Beutinstr. 8", den Theaterkritiker des Berliner Börsen-Couriers adressiert. Das gleiche Datum ist handgeschrieben neben dem Vordruck "Absender" zu finden, und darunter in der gleichen schwarzen Tinte "Ich grüße Sie, Herr Doktor". Statt der Schrift, d.h. statt des erst seit 1907 erlaubten Texts auf der Anschriftenseite und damit an der Stelle des bürgerlichen Namens und einer Absenderadresse, findet sich ein Bild. Es sind zwei Porträts im Linksprofil als Absender gezeichnet. Links sieht man auf angedeuteten Schultern einen kraushaarigen, dunkelhäutigen Kopf mit hoher, großer Nase, schmalen dunklen Augen und großen, dunklen Ohrringen. An diese Darstellung angrenzend und in sie eingehend, sie dadurch begrenzend und zugleich erweiternd, ist rechts davon ein Kopf mit kleinerem Ohrgehänge, flacher Nase, schmalen helleren Augen und kurzem Haar gezeichnet. Dieser ist nicht durch dunkle Farbe markiert und erscheint daher von anderer Ethnie als der erste. Das Signum von Sichelmond und angedeutetem Stern auf der Wange deutet darauf, dass es sich bei letzterem um eine Darstellung von Lasker-Schülers berühmtester Selbstfiguration "Jussuf", dem sogenannten "Prinz von Theben", handelt.(14) Unter dieser Zeichnung stehen auf der Postkarte in Handschrift die Worte "Prinz Jussuf mit seinem Somali Ossman". Durch das Genitivpronomen "seinem" wird die Figur(15) des Ossman der Selbstfiguration "Jussuf" als eigen bzw. zugehörig zugeordnet. Dies lässt schließen, dass er hierarchisch untergeordnet ist und nicht selbstständig handeln kann. Der Name Osman (mit einem "s") ist türkisch-arabischer Herkunft und lässt sich historisch mit dem Gründer des Osmanischen Reiches verknüpfen. Das den Eigennamen "Ossman" hier bestimmende Wort "Somali" bezeichnet eine Ethnie am Horn von Afrika. Sie wurde insbesondere 1908 durch rassistische Präsentationen in "Völkerschauen" Hagenbecks(16) im wilhelminischen Deutschland bekannt. Somalier lebten traditionell nomadisch. Die Verknüpfung des Nomadischen durch den Begriff "Somali" erinnert so an das Wandern, welches zu Lasker-Schülers eigener Lebensweise gehörte. Sie lebte nicht nur teilweise ohne festen Wohnsitz als Stadtnomade in Berlin, sondern praktizierte das Umherwandern bereits früh mit ihrem Dichter-Mentor Peter Hille in der Lebensreformbewegung.(17) Zwischen der Bildunterschrift und der Adresse des Adressaten sind auf der Postkarte von 1924 die Worte "(Nähe Spittelmarkt)" eingeschoben, obwohl rechts unter der Adressatenadresse noch Platz ist. Sie sind so nicht nur durch Klammern als Einschub gekennzeichnet, sondern auch durch ihre Position zwischen Unterschrift und Adresse eingeklammert. Durch das Dazwischen des Einschubs wird eine Verortung erschwert. Befindet sich der Adressat in der Nähe des besagten Marktes? Oder sind Prinz Jussuf und der Somali Ossman dort zu finden und somit nicht in exotischer Ferne, sondern ganz nah in Berlin Mitte? Lasker-Schüler lässt durch die raffinierte Positionierung offen, worauf sich der Einschub bezieht.

Bereits im Werkverzeichnis von Ricarda Dick erscheint Lasker-Schülers Jussuf-Motiv mit dem Ossman-Motiv kombiniert als Buntstiftzeichnung auf der Rückseite eines Briefes mit unklarer Datierung (1916 bzw. 1922) an Johannes Matuschka, dem Lyriker und Privatgelehrten Johannes Graf Matuschka von Toppolczan. Es ist als "Jussuf und sein Neger Ossman"(18) betitelt. Die Kritische Ausgabe beschreibt diese Zeichnung als "zwei Köpfe im Profil (vorne Jussuf, dahinter Ossman; Jussuf mit flüchtig gezeichnetem linken Arm und Speer in der Hand), darüber Mondsichel" (KA 7, 542). Zu ergänzen ist, dass auch die Schultern zu sehen sind und jeweils eine waffentragende Hand. Ferner trägt darauf die Figur des dunkel markierten Ossman ebenfalls eine große Stangenwaffe, welche im Gegensatz zu Jussufs Speer aber sichelförmig ausläuft und somit in ihrer Form die Mondsichelform nachahmt. Sie ist traditionell ein muslimisches Symbol, das anfangs die Stadt Konstantinopel bezeichnet und vom Gründer des Osmanischen Reiches für seine Dynastie übernommen wurde, und lässt so eine osmanisch-türkische Ethnizität vermuten. Beide Figuren sind demnach zum Waffentragen berechtigt; die Figur des Afrikaners wird dabei durch Eigenname und Waffe stärker muslimisch konnotiert. Das Motiv des Jussuf ist mit einer besonders hohen Kopfbedeckung ausgestattet, welche durch die sichelförmige Zeichnung darauf eine Gemeinsamkeit zu Ossmans muslimischer Requisite herstellt und zudem einen hohen sozialen Stand assoziieren lässt. In dieser frühen Version wird das Motiv der beiden ethnisch verschieden(19) erscheinenden Krieger(20) durch Farbe und Waffen noch deutlicher differenziert als auf der Postkarte von 1924. Auffallend ist, dass hier anstatt der späteren, ethnisch genaueren Zuordnung "Somali" die Bezeichnung "Neger" verwandt wurde, welche vom lateinischen Adjektiv niger für "schwarz, dunkel"(21)abgeleitet ist. Dieses kann des Weiteren auch "unheilvoll" oder "boshaft, tückisch" bedeuten (ibid.). Lasker-Schüler setzt hier eine Bezeichnung für die Hautfarbe als normbildendes körperliches Merkmal ein, die heutzutage als problematisch angesehen werden muss, da sie auf koloniale, rassistisch begründete Herrschaftsverhältnisse verweist. Darauf hat schon Markus Hallensleben hingewiesen, wenn er "den damals in Deutschland sehr gebräuchlichen Terminus ‚Neger' "(22) als politisch unkorrekt einordnet. Einen Menschen auf seine Hautfarbe zu reduzieren und diesen auf eine (Nicht-)Farbe wie z.B. Schwarz oder Weiß festzuschreiben, kann als rassistisch bezeichnet werden. Doch auch bei Auswechslung dieses Terminus mit anderen Bezeichnungen entsteht immer wieder erneut eine Festschreibung, d.h. die ursprüngliche Gewalt der Sprache(23) bleibt ein grundsätzliches Problem. Inwieweit die ethnisch als afrikanisch markierte Figur bei Lasker-Schüler durch den Terminus degradiert wirkt, soll nun kurz in seinem zeitlichen Kontext betrachtet werden.

Hallensleben konstatierte bei seinem Vergleich von Lasker-Schülers Titelbild zu "Mein Herz" von 1912 mit einer anderen zeitüblichen Darstellung auf Ludwig Kainers Titelblatt der Zeitschrift "Der Sturm" vom 01.04.1911, dass augenfällige Unterschiede bestehen. Lasker-Schülers Zeichnung versuche, Afrikanern Würde zu geben und zeige, dass darin der afrikanische, "aufrecht stehende Mann (...) seine dienende Haltung verloren" habe. Sie werden demnach bei Lasker-Schüler ebenfalls als Diener degradiert, doch sind sie "wenigstens innerhalb eines arabischen Herrschaftssystems und nicht als Sklaven der weißen Europäer" (ibid., S. 51) dargestellt. Blickt man auf diese zwei Titelbilder, so fällt auch ins Auge, dass die Position des stehenden Afrikaners auf dem Titelbild von "Mein Herz" die der daneben niedrig sitzenden Selbstfiguration Lasker-Schülers um ca. 1/3 überragt. Statt eines Tierfells zu nacktem Oberkörper wie beim Afrikaner Ludwig Kainers lässt auf Lasker-Schülers Titelbild die Bekleidung des Afrikaners durch den hellen, sehr langen Kaftan, welcher den ganzen Körper inklusive Hände und Füße verdeckt, keinen sexistischen Blick zu. Zudem wirkt er durch seine gerade, aufrechte Haltung neben den spielerischen Rundungen der Puffärmel und Pumphosen von Lasker-Schülers Selbstfiguration ihr zumindest gleichwertig, wenn nicht sogar erhöht. Eine solche aufragende und aufrechte Haltung lässt Aufrichtigkeit und Standhaftigkeit assoziieren. Auf Lasker-Schülers Titelbild erhält die Figur des Afrikaners so eine Position, die über eine zeitübliche Perspektive hinausgeht. Der gleiche Terminus ‚Neger' wurde im Übrigen 1913 auch von Karl Kraus verwendet, obwohl Kraus an gleicher Stelle den Primitivismus der Wiener Bevölkerung im Unterschied zur Kultur der Afrikaner betonte,(24) als diese durch sogenannte Völkerschauen miteinander in Kontakt kamen.

Wie wird die Beziehung der Selbstfiguration Jussuf zu Ossman in Lasker-Schülers Texten beschrieben? Für diese Frage erscheinen besonders die ab November 1912 verfassten Prosatexte aus "Briefe und Bilder" an Franz Marc interessant, da die Figur in der Schreibweise "Oßman" dort erscheint. In der letzten Folge der "Briefe an den blauen Reiter",(25) die erst im Februar/März 1917 als "XVI Der Malik (dem blauen Reiter Franz Marc)" in der Monatsschrift "Neue Jugend" veröffentlicht wurde, heißt es beispielsweise:

"Im Begriff die Stufen des Thrones herabzusteigen, stolperte der Malik und noch ehe Oßman, Sein Knecht, Ihm Hilfe leisten konnte, fing Ihn einer der fremden Ritter in seinen Armen auf (...)" (KA 3.1, S. 354).

Die Großschreibung der Pronomen, welche sich auf die Figuration Jussuf als Malik bzw. Kaiser beziehen, deutet in der Schrift dessen hohe soziale Stellung an. Ossman erscheint hier im Unterschied zur hohen Stellung der Selbstfiguration der Dichterin in der untergeordneten Position eines "Knecht(s)". Der Begriff "Knecht" konnotiert zunächst einen einfachen Arbeiter in der Landwirtschaft. In Verbindung mit einer ethnisch dunkelhäutig markierten Figur erinnert er aber auch an eine Variante der Figur des ‚Knecht Ruprechts', des Gehilfen des Heiligen Nikolaus in der Legende, welcher als dunkelhäutiger Begleiter des niederländisch-spanischen Sinterklaas als Mohren- bzw. Maurenfigur "Zwarte Piet"(26) (i.e. Schwarzer Peter) genannt wird. Ossman erscheint auf den ersten Blick wie dieser ehemals ‚höllische Geselle' zum Heiligen ebenso als Narrenfigur antithetisch zur Figuration des kaiserlichen Jussuf. Mit der Metonymie des Akteurs im Satz "Des Somalis spitzgeschliffene Zähne lachten." (KA 3.1, S. 357) wird ihm in expressionistischer Manier eine Angst einflößende Ausstrahlung zugesprochen, welche gleichzeitig im ambivalenten Lachen in der Schwebe gehalten wird. Seine soziale Stellung wird von der "vornehmen(n) Leibwache des Maliks" (ibid.) differenziert und ihm wird eine Schalkhaftigkeit zugesprochen ("schalkhaft", S. 357). Ossman ist jedoch trotz seiner Antithetik zum Kaiser als fremdländischer, exotisch Anderer viel mehr als nur ein Hofnarr. Er besitzt im Vergleich zur Figur des "Zwarte Piet" keine strafende Funktion, sondern unterhält eine intimere Verbindung zur Figuration des Jussuf. Ossman fungiert nicht nur als dessen Wache und hilft beim morgendlichen Schmuckanlegen des Kaisers. Ihm wird außerhalb des Palastes ein gewisses Maß an Freiheit zugebilligt, was beispielsweise in dem Auftrag, den abendländischen "Rittern Sehenswürdigkeiten der Stadt zu zeigen" (KA 3.1, S. 357), deutlich wird. Die persönlichere Beziehung der Figuration Jussuf auch zu Ossmans Familie zeigt sich, wenn "Ismael, der greise Oheim Oßmans mit dem kleine Mïr auf den Schultern" (KA 3.1, S. 357) bei der Stadtführung die Vorgeschichte der Stadt in der Sprache der Fremden erzählt. Im Rückbezug auf den vorherigen Teil "XV Der Malik" wird deutlich, dass dieser Onkel Ossmans hierbei "des Kaisers zwölfjährige(n) Bruder" (KA 3.1, S. 346) trägt, was eine quasi familiäre Beziehung zur Figuration des Jussuf herstellt, und damit indirekt auf die Dichterin verweist, da der mit "Mïr" oder Emir betitelte Junge namens Bulus Else Lasker-Schülers eigenen Sohn Paul figuriert.(27) Neben der allgemeinen Bevorzugung von Ossman als "Lieblingsneger" (KA 3.1, S. 357) kommt hinzu, dass dessen Onkel wegen seines hohen Alters Ehre erwiesen und dieser auf Wunsch Jussufs von allen "Sitti Ismaël" (ibid.) genannt wird. Mit diesem Ehrentitel, der auf Alter und Erfahrung gründet, wird eine soziale Aufwertung angezeigt. Diese nimmt in Verbindung mit der persönlichen Beziehung zum Kaiser und dessen jungem Bruder die Abwertung der rassistischen Reduzierung auf die Hautfarbe als "Neger" zwar nicht zurück, doch überschreibt sie zumindest eine Stellung als gewöhnlicher Knecht oder allein lächerliche Figur. Es wird dabei vielmehr eine hierarchische Beziehung zum bevorzugten Diener beschrieben, welche quasi familiäre Züge trägt.

Die Figur des Ossman erscheint bei Lasker-Schüler auch mit literarischem Text und Zeichnung zugleich verknüpft. In den Texten "Briefe und Bilder" findet sich dazu eine Illustration in Tinte vom Frühjahr 1914, die Ossman, mit dunkler Hautfarbe markiert, rechts hinter dem grübelnden Jussuf stehend darstellt. Die Köperhaltung des Ossman ist hier ebenfalls keine unterwürfige. Daneben steht rechts handschriftlich der Satz " ‚Ich warne dich Abigail Jussuf'; so sagt der Neger" (Dick, S. 34 und KA 3.1, S. 356) geschrieben. Der dazugehörige Abschnitt im Text lautet:

"Einmal begegnete Oßman dem Kaiser in der Nacht, als er im Begriff war ins Gebäude der fremden Krieger zu dringen. Er hatte Sich in diese neuen Menschen verliebt, und sein Vorhaben war, sie zu verführen in Theben zu bleiben. Ich warne dich Abigail Jussuf, so sagt der Neger!" (KA 3.1, 359).

Der Text beschreibt eine Unterbrechung der Handlung Jussufs durch das lakonische Eingreifen Ossmans, welcher hierbei dem Kaiser gleichrangig, wenn nicht sogar übergeordnet agiert. Die geplante ‚Verführung' zum Bleiben wird so verhindert. Ossman ist demnach erlaubt, seinen Kaiser vor taktischen bzw. emotionalen Fehltritten zu bewahren. Wenn die Figur des Afrikaners dazu solch eine gewagte Formulierung der indirekten Drohung verwenden darf, muss die Beziehung der beiden eine sehr persönliche sein, die über eine hierarchische, simple Herr-Knecht-Beziehung weit hinausgeht. Sie erscheint als beinahe unmögliche Beziehung, denn ein Kaiser wird sich nicht von einem Diener abhalten lassen, nächtliche Verführungsversuche zu starten. Die Zeit der Nacht lässt an die Kategorie des Unbewussten denken und erscheint hier bereits als ein Hinweis, dass es mit dieser Beziehung etwas Besonderes auf sich hat. Die Rollen von Jussuf und Ossman sind zwar in eine(n) Mächtige(n) und einen Untergebenen geteilt, die Ethnie Ossmans als sogenannter "Neger" erfordert jedoch nicht einzig eine Rolle des Spaßmachers des Königs wie bei der Figur "Zwarte Piet". Das Verhältnis der beiden erscheint trotz der diskriminierenden Bezeichnung außerordentlich intim und über eine Freundschaft hinausgehend. Es wird deutlich, dass in diesen literarischen Briefen die beiden Afrikaner Lasker-Schülers zu in die Handlung eingreifenden Figuren aufgewertet werden. Die Afrikaner können mit einer Denkfigur Homi K. Bhabhas gelesen werden, der kulturellen Strategie der "Mimikry", (28) welche im Bedürfnis nach einer Stasis der Identität und einer Veränderung zugleich "einen ironischen Kompromiß" repräsentiert. Demnach wird den in der Kultur verorteten, traditionellen Mustern gefolgt, diese aber niemals ganz erfüllt und damit die Fiktion der Einheit von Ethnizität zum Vorschein gebracht. Ossman schützt die Selbstfiguration nicht nur vor anderen, er schützt sie vor allem vor sich selbst. Seine Funktion als geliebter Beschützer – und dies entspricht dem Titelbild von "Mein Herz" (s.o.) – überragt jegliche Beziehung eines einfachen, untergeordneten Knechts und unterläuft in Lasker-Schülers Strategie der Mimikry die kolonialen Hierarchien. Lasker-Schülers Zeichnung und Text arbeiten mit Exotismus, einem fremden Element, das die Sinnstrukturen unterläuft.

 

Die Vignette

Stellten sich Jussuf und Ossman auch in der Berliner Ausstellung auf der wieder entdeckten Postkarte von 1924 noch durch ihre Markierung hell versus dunkel und die zwei Namen als eine Zweiheit dar, so werden sie daneben in der Auslage auf einem der wieder entdeckten Bilderbriefe Lasker-Schülers an Heinrich Mann vom 12.2.1931 zu einer Vignette.(29) Sie scheinen so beim ersten Blick eine einzige Figur darzustellen. Die Vignette besteht aus einem ineinander verschlungenen Doppelporträt, d.h. zwei Köpfen im linksseitigen Profil in Tinte, und ist mit schnellem Strich gezeichnet. Sie lässt keinen Farbgegensatz hell/dunkel der zwei Köpfe mehr erkennen. Die Schulterpartie ist weggefallen. Doch die Andeutung der Differenz von Ohrgehänge, verschiedener Nasenhöhe und Lippengröße der beiden Köpfe sowie der kennzeichnende Sichelmond auf der Wange des rechten Kopfes verdeutlichen, dass hier das Motiv der Postkarte von 1924 auf neue Weise wiederkehrt. Der Brief von 1931 ist nicht mit "Prinz Jussuf mit seinem Somali Ossman" gezeichnet, sondern trägt als Unterschrift allein den ersten Namen "Prinz Jussuf", ergänzt durch den berühmten, vermeintlich adligen Beinamen "von Theben". Der Wegfall der dunklen Farbmarkierung und die Reduktion des doppelten Namens zu nur einem gehen kongruent damit, dass die beiden ethnisch verschiedenen Köpfe in der Vignette nun ambiguos zu einer Singularität gebunden sind. Stellt dies eine Variante der zwei Seiten der Künstlerin Lasker-Schüler dar? In der Konstellation mit der Postkarte von 1924 an Herbert Ihering fällt die Verdoppelung des Buchstabens "s" in den beiden Namen "Ossman" und "Jussuf" ins Auge. Lasker-Schüler ist auch dafür bekannt, dass sie mit Spiegelungen spielt.(30) Die teilweise bildliche Spiegelung, die sich im Schriftbild der Namenssilben "Jus-" und "-suf" zeigt, gibt nun Raum und weist mit dem gemeinsamen Doppel-S auf eine andere Seite des Jussuf. Diese zeigt sich im Doppel-S der Vorsilbe "Oss-" als eine Abspaltung, die in dieser Version die Markierung des Osmanischen und Nordafrikanischen stärker betont und so die Andersheit noch eindringlicher werden lässt. Sie erweist sich nun in ihrer Hybridität als das Andere des (bereits in der Figuration eines thebanischen Prinzen vermeintlich ägyptischer Ethnie verfremdeten) Eigenen der deutsch-jüdischen Dichterin.

Die Figur des Ossman zeigt nicht allein in einer nordafrikanisch erscheinenden Hierarchie einen Diener, welcher der Dichterin Lasker-Schüler in ihrer Selbstfiguration des dichtender "Prinz" die gebührende Hochachtung und Ehre erweist. Ossman zeigt auch eine intime persönliche Verbindung zur Selbstfiguration Jussuf. Er wird durch seine fremde Andersheit in einer Zwischenstellung verortet, die ihn zugleich mit der Kaiserfiguration verbindet, denn Narr und Kaiser stehen beide außerhalb der Gesellschaft. Sie können mit Giorgio Agambens Figur des "homo sacer"(31) gelesen werden, einer Figur des archaischen römischen Rechts, in der das Leben einzig in der Form ihrer Ausschließung in die soziale Ordnung eingeschlossen wird. Der Kaiser (bzw. König) ist demnach "sacer" und damit erhaben und verflucht, verehrungswürdig und schreckenerregend zugleich. Er steht als ursprüngliche Ausnahme (vgl. Agamben, S. 95) in einem Grenzbereich jenseits des Opferbaren und jenseits des menschlichen Rechts. Auch die Figur des Narren und Spaßmachers steht außerhalb des Gesetzes, was ihr ermöglicht, zu spotten und Dinge zu tun, die anderen verwehrt sind. Der Narr als Vogelfreier und der Kaiser als souveräne Ausnahme erhalten so beide einen sozialen Ausnahmestatus, der sie vereint. Die in der Postkarte von 1924 in der Absetzung von Hell zu Dunkel noch stark betonte Differenz von Ossman und Jussuf-Figuration wird in der Vignette des Briefes von 1931 aufgelöst. Damit wird die exotisierte Figuration Ossman zur anderen Seite des Jussuf, geht in diese Figuration ein und ikonisiert die Dichterin als doppelt. Diese Verschlingung der ethnisch unterschiedlichen Motive eröffnet so die Frage nach der Ethnizität bei Lasker-Schüler.

In der Wiederholung des rätselhaften Doppelprofils an der Grenze zur Schrift deutet sich an, dass sich in der Vignette Lasker-Schülers durch den Verlust der dunklen Markierung eine rätselhafte Singularität aus verschiedenen Ethnien entsteht. Anhand der zwei neuen, miteinander konstellierten Exponate der Berliner Ausstellung wurde besonders deutlich, dass diese Kombination von Afrikaner und Selbstfiguration chronologisch gelesen werden kann und schließlich auflösend in eins verschlungen scheint. Die afrikanische Figur spiegelt keine Authentizität einer feststehenden Ethnie vor, sondern erhält in einer Travestie der Lasker-Schüler'schen Selbstfiguration Anteil an letzterer. Mit dem Rückzug in das Komödienhafte der Narrenfigur geht eine Subversion der Subjekteinheit einher. In der Travestie des Narren wird die narzisstische Verletzung, als Künstlerin, Jüdin und ethnisch Andere außerhalb der bürgerlichen wilhelminischen Gesellschaft zu stehen, spielerisch tröstend ins Komische verzerrt. Die Vignette eröffnet bezüglich der Ethnie ein paradoxes Verhältnis von Nicht-Hierarchie und zeigt den Weg zu einer zeitweisen Vermittlung der Ich-Spaltung auf, welche jeder Identität innewohnt. Es liest sich so ein Verweis darauf, dass es sich bei der Vignette um eine Frühform von "Ichundich" als Zeichnung handelt, ein bekanntes Motiv der Ichspaltung bei Lasker-Schüler, das in der Forschung als ihr "Beitrag zur modernen Erzähltechnik"(32) bezeichnet wird.

Der ethnisch Andere wird zum Rahmen für das bereits als Andere(r) figurierte Selbst der Dichterin und verwickelt dabei die deutsch-jüdische mit der "egyptischen" und somalischen Ethnie. Als ursächlichen Hintergrund dieser ‚Spielvariante' kann eine mögliche Häufung und daraus resultierende Abnutzung der bereits sehr bekannten Jussuf-Figuration gedacht werden.(33) In der partiellen Spiegelung des Anderen wird ein Gegenstück zu ihr erzeugt, um einen weiteren anderen Teil des Selbst präsentieren zu können. Zusammengekoppelt ergeben ‚egyptischer' Kaiser und Afrikaner ein doppelt reflektiertes Bild des Subjekts, das sich damit seiner Machtpotenz versichert. In der Travestie der Selbstverformung stellt Lasker-Schüler ferner den Anspruch an sich selbst dar, sich immer wieder neu zu erfinden.

 

Haut. Farben. Buchstaben

Wie bei der Figur des Ossman aufgezeigt wurde, scheint eine Beschreibung des fremd erscheinenden Äußeren von Anderen ohne Verwendung von Farbadjektiven schwierig zu bewerkstelligen, wenn eine visuelle Wahrnehmung dominiert. Diese Problematik der Festschreibung wird andernorts im literarisch-künstlerischen Spiel von Lasker-Schüler durch eine neue Metaphorik gelöst, wenn bezüglich der Hautfarbe mit poetisch verfremdenden Adjektiven wie ‚bunt' (vgl. "Wenn mein Herz gesund wär", KA 3.1, 267) oder, wie im Folgenden, ‚golden' gearbeitet wird. In der Zeitschrift "Der Sturm" erschien in der Septemberausgabe 1911 der allererste literarische Brief aus den "Briefe[n] nach Norwegen". Darin wird von Lasker-Schüler scheinbar eine ihrer Liebesgeschichten erzählt:

"Am Abend erzählte ich ihm [Peter Baum] erst meine neue Liebesgeschichte. (...) Vorgestern war ich mit Gertrude Barrison in den Lunapark gegangen, leise in die egyptische Ausstellung, als ob wir so etwas süsses vorausahneten. (...) bei den Bauchtänzerinnen ereignete sich eines der Wunder meines arabischen Buches; ich tanzte mit M i n n, dem Sohn des Sultans von Marokko. Wir tanzten, tanzten wie zwei Tanzschlangen (...) Und Gertrude tanzte auch, aber wie eine Muse, nicht muselhaft, wie wir, sie tanzte mit graziösen, schalkhaften Armen die Craquette, ihre Finger wehten wie Fransen. Aber Minn und ich verirrten uns nach Tanger, stiessen kriegerische Schreie aus, bis mich sein Mund küsste (...). Seitdem liebe ich alle Menschen, die eine Nuance seiner Hautfarbe an sich tragen, an sein Goldbrokat erinnern. Ich liebe den Slawen, weil er ähnliche braune Haare hat, wie Minn; ich liebe den Bischof, weil der Blutstein in seiner Krawatte von der Röte des Farbstoffs ist, mit der sich mein königlicher Muselmann die Nägel färbt." (KA 3.1, S. 179)

Was hat es mit dieser angeblichen Liebesgeschichte auf sich? Das erzählende Ich geht laut Text angeblich in Begleitung einer Freundin namens Gertrude Barrison aus. Lasker-Schüler figuriert darin namentlich eine damals durch Auftritte in Berlin bekannte dänische Tänzerin, mit der sie selbst zusammenarbeitete,(34) und welche eigentlich Gertrude Bareysen hieß. (35) Ziel beider ist der Lunapark, der zeitweise Europas größter Vergnügungspark war. Er befand sich von 1909 bis 1933 am Halensee in der Nähe Berlins, nämlich genau in der Berliner Gegend, in der Lasker-Schüler im Jahr nach der Trennung von Georg Levin in einem möblierten Zimmer wohnte.(36) Der Lunapark bot neben verschiedenen Rummelattraktionen und einer Reitbahn auch abwechselnde Ausstellungen an. Darunter waren so genannte ‚Völkerschauen', in denen Menschen aus fremden Kulturen in vermeintlich naturgetreuer Kulisse zur Schau gestellt wurden. Dieses Inszenesetzen kann mit einer Theater- oder Varietéaufführung verglichen werden. Sylke Kirschnik betont in einem Vergleich mit Peter Altenbergs Skizzenbuch "Ashantee", dass Lasker-Schülers poetische Sprache den Inszenierungscharakter der ethnografischen Schaustellungen besonders hervorhebt. Demnach fiktionalisiert Lasker-Schüler "nicht einfach die ‚realen' Darsteller einer Schaustellung" (Kirschnik, S. 193), sondern Lasker-Schüler demonstriere "den ‚fiktionalen' Status der ‚realen' Schaustellung" (ibid.) durch ihr Zitatverfahren. Dem kann noch angefügt werden, was zusätzlich das Besondere bei Lasker-Schüler ausmacht, nämlich eine höchst komplizierte Vielschichtigkeit der verschiedenen Ebenen von Fiktion und eine spielerische Dissemination der Semantik. Dazu soll das Augenmerk auf den Tanz gerichtet werden.

Gertrude Barrisons bekannte Tänze mit ihren Schwestern zeigten keine futuristische Beherrschung des Körpers wie in der "Girlkultur" der damaligen Revuen, sondern ein ästhetisches Konzept von Kindlichkeit, verknüpft mit erotisch-naiver Mädchenhaftigkeit.(37) In Lasker-Schülers Text wird Gertrude Barrison nicht allein als Tanzende figuriert, diese ist vielmehr bereits eine fiktive Version der ‚realen' Gertrude, welche tatsächlich existiert hat und einen Künstlernamen verwendete. Dabei wird ihr Tanz beschrieben als "wie eine Muse" (ibid.), was andeutet, dass sie als Tänzerin in ihrer Kunst inspirierend für einen Dichter sein könnte. Der Tanz des erzählenden Ich mit seinem Partner wird mit "Tanzschlangen" (ibid.) verglichen und evoziert damit Assoziationen an Schlangentänzerinnen, welche eine lebende Schlange um den Hals tragend tanzen. Statt einer Schlangentänzerin wird der Tanz metonymisch verfremdet auf die Schlangen verschoben, was die Außergewöhnlichkeit des Tanzes kennzeichnet. Der Tanzpartner der Ich-Erzählerin wird als "Minn, (...) Sohn des Sultans von Marokko" figuriert. Der Herrscher des nordafrikanischen Landes Marokko trug vor 1957 den Titel "Sultan". Ähnlich der bekannten Selbstfiguration "Prinz von Theben", die aber nicht genannt wird, verspricht der Titel des Sohnes eines Sultans hier ebenfalls die Möglichkeit einer zukünftigen Macht durch Thronfolge. Der Namenstitel verweist indirekt bereits auf eine erste Gemeinsamkeit der beiden Tanzpartner.

Schon in einer frühen literarischen Miniatur Lasker-Schülers tanzte eine Figuration namens "Minn" mit der Protagonistin "Tino" im sechsten Kapitel des Bandes "Die Nächte Tino von Bagdads" von 1907, auf welche sie nun mit dem Stichwort "arabische(s) Buch" verweist. Kirschnik schließt deshalb auf einen "explizit imaginären Status" (S. 191) der beiden Tanzenden, da die Figurationen ebenso fiktiv sind wie das erzählende Ich. Lasker-Schülers Fiktion enthält zugleich auch Spuren, die auf das verweisen, was sie im Nebentitel von "Mein Herz" das "wirkliche Leben" nennt. So haben die beiden Tanzpartner noch andere Gemeinsamkeiten. Sie tanzen auf ganz andere Weise als die Figuration der Tänzerin Gertrude, nämlich "muselhaft, wie wir". Der Neologismus "muselhaft" ist nicht allein als orientalisiertes Adjektiv im Sinne von ‚wie muslimisch' zu verstehen. Es wird deutlich, dass beide von der Muse geküsste Künstler sind, die dadurch nicht allein zu "Muselleuten", sondern verdeckt auch zu Musen-Leuten werden. In der spielerischen Metonymie von "l" zu "n" unterscheidet sich ihr Tanz signifikant von der als potenzielle Muse bezeichneten Tänzerin. Somit sind die beiden keine Musen, und ihre Kunst ist eine andere. Beide Tanzpartner sind imaginäre, doch hinzu kommt auch, dass das erzählende Ich zugleich in den Anspielungen zurück auf die ‚reale' Schriftstellerin Lasker-Schüler verweist, ebenso wie die Figuration Minn auf einen ‚realen' Schriftsteller verweist. Dies deutet darauf, dass ihr Textgewebe höchst kompliziert gewebt ist. Diese Anspielungen Lasker-Schülers erscheinen vielleicht kontingent, sind es aber nicht. Im Tanz, und damit in der Kunst, wird der Unterschied zu der professionellen Tänzerin als Muse deutlich. Ihr Tanz ist laut Lasker-Schüler eine "Craquette", die etwas Schalkhaftes hat. Das französische Verb "craqueter" bedeutet "klappern",(38) und demnach müsste die Craquette – wenn es sie geben würde – auf einen lockeren Tanz verweisen, bei dem er oder sie klappert, d.h. also "il/elle craquette". Es kann als Hinweis auf den Lärm der Tänzerin gelesen werden kann, der im Unterschied zu (dem Tanz und damit der Kunst) der Dichterin lauter erscheint. Mit der Übertragung "je craquette" als ‚ich klappere' kann zudem auf sie selbst gedeutet sein. Denn Klappern gehört zum Handwerk, und nach dieser Redensart macht Lasker-Schüler zu Vermarktungszwecken ihrer Kunst sehr deutlich auf sich aufmerksam.(39) Zugleich ist in dem Wort "craquette" auch das französische Wort "craque" enthalten, das mit "Lüge" übersetzt werden kann (vgl. ibid.), was ein indirekter Hinweis darauf ist, dass hier von Lasker-Schüler ein kleines Lügenmärchen aufgetischt wird.

Während des Tanzens geschieht das Folgende: "Minn und ich verirrten uns nach Tanger, stiessen kriegerische Schreie aus" (ibid.). Die Stadt Tanger liegt an der nordafrikanischen Küste genau gegenüber der Südspitze von Spanien. Sie ist seit jeher ein Magnet für Schriftsteller und Aussteiger und wurde schon 1905 durch die erste internationale Marokkokrise bekannt, als Kaiser Wilhelm II anlässlich seines dortigen Besuchs eine fortwährende Unabhängigkeit Marokkos ankündigte. Da sich die beiden Tanzenden jedoch im Berliner Lunapark befinden sollen, können sie sich unmöglich nach Nordafrika verirrt haben. Der Stadtname erscheint aber auch im lateinischen Verb "tangere", was "berühren" bedeutet. Es ist insbesondere durch die berühmte Wendung "noli me tangere" ("Berühre mich nicht!"), dem Ausspruch Jesu nach der Auferstehung aus dem Johannesevangelium, allgemein bekannt. Auch in Berührungen kann man sich verlieren oder verirren. Das reflexive Verb "sich verirren" deutet weniger auf eine einseitige Verführung(40) als auf einen gemeinsames Verlassen des Weges. In welchem Modus verlassen die Tanzpartner den Weg? Das kriegerische Schreien ist ein Lautäußern, das in Verbindung mit dem Tanzen auf ein Entäußern und eine Ekstase verweist. Der folgende Wortlaut heißt nicht "bis er mich küsste", sondern er lautet genau "bis mich sein Mund küsste". Mit der Hervorhebung des Mundes kann auch das Buchstabenspiel fortgetrieben werden. Der Mund wird nicht nur zum Schreien genutzt, sondern man spricht damit auch Liebesworte, "etwas süsses" (ibid.). Das Süße, das zu Beginn der Geschichte angekündigt wurde, sind nicht allein Küsse, sondern auch Dichterworte, die einen poetischen Dialog entfalten. In Konstellation mit dem Tanzen kann das Schreien auf die Ekstase des Schreibprozesses und der Verdichtung gelesen werden. Das dichterische Kriegführen und Tanzen mit "Minn" erweist sich als eine Figur des Schreibens, der ein Buchstabe entfallen ist, i.e. in der Wiederholung des "Schrei-(b)-ens".

Auf die Hautfarbe des ethnisch anders scheinenden Tanzpartners wird mit der Bezeichnung des kostbaren, teuren Stoffes "Goldbrokat" verwiesen. Das Material des Brokats lässt den Schimmer goldbrauner Haut assoziieren und streicht durch "die Preziosen-Metaphorik" (Kirschnick, S. 192) die Konstruiertheit der Ethnizität des Gegenüber heraus. Auch wenn bei Lasker-Schüler z.B. im "Peter Hille-Buch" der Name einer Figuration "Goldwarth" (KA 3.1, 58) für zweiten Ehemann auf dessen blonden Haare anspielt, referiert das "Gold-" weniger auf eine Hautfarbe als vor allem auf einen hohen Wert, der dem von Gold gleicht. So schrieb sie in einem Brief an Franz Marc, "Mit bunt Volk muß man gold und lila sein, nicht schwarz, weiß, ziegelrot, das sind zu harte Farben."(41) Im Unterschied zu den Farben der deutschen kaiserlichen Flagge, die den patriarchalischen Lebensstil der Gesellschaft in der konstitutionellen Monarchie mit ihrer herrschenden Autoritätsgläubigkeit repräsentieren, soll ihr Leservolk mit wertvoller Dichtung als Gold und verspielten Versen als Veilchenblau implizit angesprochen werden. Es ist in Lasker-Schülers künstlerischer Farbpalette eine des Öfteren verwendete rhetorische Auszeichnung.(42) Metonymisch werden dann bezüglich Minns körperlichen Merkmalen zu bekannten Lasker-Schüler'schen Figurationen Ähnlichkeitsbeziehungen(43) hergestellt, welche die Leser so schwindelig machen wie der zuvor angeführte Tanz. Damit wird der fiktionale Charakter dieser vermeintlichen Ethnizität unterstrichen, der im Montageverfahren aus Zitaten aufgebaut wurde, wie schon in der Forschung analysiert wurde.(44) Wenn der "königliche Muselmann" sich "die Nägel färbt", widerspricht dies aufgrund dieser unpassenden Handlung mit Sicherheit dem Bild eines gläubigen Muslims. Eine feste Ethnizität der Figuration "Minn" als Marokkaner wird so stark unterminiert. Mit den Fingern der Hand führt man den Schreibstift, und die werden dabei manchmal von Tinte gefärbt. Das Nägelfärben(45) gehört wie das Tätowieren als Körperzeichnung zu Lasker-Schülers Bild eines von Schrift gezeichneten Körpers.(46) In der Folge wird der Name dieses figurierten Tanzpartners verdeckt genannt, wenn ein Buchstabe "n" im Sprachspiel fallen gelassen wird:

" (...) Minn und ich treffen uns bei den Zulus, die leben schwarz und wild am Kehrricht der egyptischen Ausstellung wo kein Weisser hinkommt. (...) Er ist der Jüngste, den der Händler nach Europa brachte, er ist der ben ben ben ben, ben des jugendlichsten Vaters im egyptischen Lunagarten. Er ist kein Sklave, Minn ist ein Königssohn, Minn ist ein Krieger, Minn ist mein biblischer Spielgefährte. Er trägt ein hochmütiges Atlaskleid und er träumt nur von mir, weil er mich geküsst hat. Kurtchen, Freund Herwarths, wärst Du doch hier, kein Mensch will mit mir nach Egypten gehen, gestern war eine Hochzeit dort angezeigt an allen Litfasssäulen. Sollt er sich verheiratet haben!" (KA 3.1, S. 180)

Die Figuration des Tanzpartners Minn, dessen Namensendung aus einem doppelten "n" besteht, wird nun als "der ben ben ben ben" bezeichnet. Dies entspricht nicht nur der arabischen Bezeichnung für "Sohn", wie sie aus den Karl May-Romanen bekannt ist, sondern spielt in diesem so offensichtlich verdeckten Hinweis in der Wiederholung auch auf den Namen "Benn" an. Benn war viel jünger als Lasker-Schüler und wird hier als "der Jüngste" verdeutlichend gekennzeichnet. Der Text erweist sich in der karikierenden Wirkung als Parodie der Beziehung Lasker-Schülers(47) zu dem Dichter Gottfried Benn. Das fetischistische Verlangen nach rassistischen Stereotypen scheint auf den ersten Blick aber auch bei Lasker-Schüler durch den Einsatz von "afrikanischen Statisten" (Hallensleben, S. 51) befriedigt zu werden. Die ethnische Zuschreibung der Stammeszugehörigkeit bei den Zulus, einer südafrikanischen Volksgruppe der Bantus, erscheint als Reproduktion des kolonial-westlichen Blicks auf Afrikaner als exotische Objekte. Doch liest sich hier in Differenz zu den literarischen Briefen Lasker-Schülers kein karnevalistischer (s.o.), sondern im Adjektiv "wild" ein heroisierender Ton. Eine Sehnsucht nach Freiheit verknüpft mit Rousseau'scher Naturverbundenheit und einer vermeintlichen Zeitlosigkeit klingt an, wenn diese Menschen scheinbar "wild" und naturhaft leben. Es lässt sich hier eine Parallele ziehen zu der Gruppe ihrer Freunde, die Lasker-Schüler mit dem gleichen Adjektiv als "Wilde Juden" benennt, i.e. die heldenhaften Freunde aus der Bibelzeit, die im Roman "Der Malik" figuriert werden.(48) Es liest sich daher kein einfaches koloniales Verfahren, denn die Wildheit ist aus dieser romantisierenden Sicht der Verfremdung nicht als negativ gekennzeichnet. Das Fremde der vorgeblich "wilden" (ibid.) wird vielmehr zum Eigenen der Freunde (an)verwandelt. Diese ethnisch als "schwarz" gekennzeichneten Afrikaner halten sich ferner dort auf, wo auch das erzählende Ich sich trifft, wenn der Treffpunkt der beiden Dichter sich als "Kehrricht der egyptischen Ausstellung" (ibid.) erweist. Ergänzend zur gemeinsamen Kunst (des Tanzens und Dichtens) wird so die Gemeinsamkeit der beiden Dichter Benn und Lasker-Schüler im Text durch diese Positionierung herausgestellt. "Kehricht" ist ein heute veraltetes Wort, das den Hausmüll bezeichnet. Der Ort der Dichtung erscheint so ironisch als Müllplatz. Wenn auch keine direkte Begegnung mit den Zulus erfolgt, so wird doch ein gemeinsamer Ort der Zuflucht in der Ortlosigkeit des Kehrichts beschrieben. Dieser Ort wird befindet sich dort, "wo kein Weisser hinkommt" (ibid.). Nur Nicht-Weiße, also bunt oder schwarz markierte Personen, gehören demnach an den Ort der Dichtung. Damit stellt sich das erzählende Ich, d.h. die Selbstfiguration Lasker-Schülers, als nicht-weißes bzw. farbig markiertes dar. Die Nicht-Farbigen oder ethnisch als so genannte "Weisse" markierten Personen erscheinen im Unterschied zu dem "bunt' Volk" (KA 3.1, S. 268) der Lasker-Schüler'schen Freundes- und Leserschaft nicht von der Farbe der Haut her ethnisch bestimmt als ‚weiß', sondern stehen der Dichtung fern.

Die Figuration "Minn", die vom "Händler nach Europa" (ibid.) gebracht wurde, was einen Status als Sklave impliziert, wird ambivalent als Nichtsklave beschrieben. Ihr wird zudem ein Status als Krieger, d.h. als ein Dichter mit Überzeugung,(49) zugesprochen. Dieses Spiel mit dem "Spielgefährte(n)" (KA 3.1, S. 180) wird in Texten Lasker-Schülers häufiger erwähnt, u.a. auch in Lasker-Schülers Gedicht "Giselheer dem Tiger", wo es als "Skalpspiel" benannt wird. Im Vergleich zu anderen Texten Lasker-Schülers (z.B. "Der Kreuzfahrer" im Buch "Der Prinz von Theben"), in denen abendländische Figurationen eine exotisierende Differenz einführen, kann man in der exemplarisch herangezogenen Szenerie keinen großen Kontrast zwischen Benns Spielcharakter und ihrer Selbstfiguration ausmachen. Zur Zeit der Niederschrift dieser selbstironischen "Liebesgeschichte" findet sich der Freund nicht mehr, um die Icherzählerin erneut zu begleiten. Denn in "Egypten", wird "an allen Litfasssäulen" (ibid.) eine Hochzeit der Figuration "Minn" verkündet.(50) Die Werbung tragenden Litfaßsäulen indizieren, dass es sich hier nicht um das nordafrikanische Land handelt. Der Terminus "Egypten" deutet somit nicht allein auf ein fremdes Land in Nordafrika, vielmehr auf den Lunapark mit seiner Ausstellung. Die Ethnizität des Ägyptischen wird von Lasker-Schüler auf ein ‚Egyptisches' verschoben und verstellt. Der anfangs orientalisiert erscheinende, fremde Ort ist keiner und erweist sich schließlich als eigener, da die Requisiten aus dem damaligen Berlin stammen.

Das "Spiel mit der Grenze zwischen Kunst und Leben" (Feßmann, S. 17) erweist sich im Text Lasker-Schülers als untrennbar verflochten und bricht mit kolonialen Sichtweisen. Die Afrikaner als ethnisch markierte Andere erweisen sich als naturhaft "wilde" Freunde der Dichtkunst und der vermeintlich marokkanische Tanzende entpuppt sich als Deutscher. Damit zeigt sich eine Repräsentation, die keine ist, denn selbst die fiktiven Personen sind nicht allein imaginär, sondern zugleich "wirklich lebende Menschen". Die Lasker-Schülersche Verknüpfung von Leben und Kunst erweist sich als untrennbar. Anstatt Orientalen auszustellen, stellt Lasker-Schüler den orientalistischen Ort "Egypten" ironisch als Kehricht aus, welcher inspirierend für die Dichtung dargestellt wird. Dabei nutzt sie raffinierte Farb- und Buchstabenspiele, um eine feste Ethnizität zu untergraben. Die Dichter sind bei ihr weder durch Einheit noch durch Identität gekennzeichnet, sondern durch eine Differenz in sich selbst. Mit diesen Ambivalenzen können sie nicht einer einzigen Ethnizität zugeordnet werden. Sie formieren sich vielmehr in der Dichotomie zur Nichtfarbe Weiß als plurale Ethnizitäten.

 

Häuptlinge – Hauptleute

Tilla Durieux, die Schauspielerin und Ehefrau des Verlegers Paul Cassirer, beschrieb in ihrem Buch "Eine Tür steht offen" 1954:

"Else, ewig verliebt, schrieb ihre merkwürdigen Gedichte, in denen sie die jeweils Erkorenen zu Göttern erhob und ihnen eine Rose oder einen Stern auf die recht ähnlich gezeichneten Köpfe malte."(51)

Lasker-Schüler schrieb demnach nicht allein lyrische Texte, vielmehr zeichnete sie auch Köpfe, die diesen Texten entsprachen, und die sich untereinander ähnlich sahen. Solch eine Zeichnung von Lasker-Schüler hat sich mit Bleistift auf Postkarte an den "Leutnant Franz Marc, Bayrische Ersatz Division" erhalten.(52) Sie ist an den Maler Franz Marc gerichtet, und zwar zu der Zeit, als er sich als Freiwilliger im Kriegsdienst befand. Umseitig finden sich lediglich Adresse und Absender. Sie wurde am 03.01.1916 in der Stadt ihrer Wahlheimat Berlin abgestempelt. Die Karte wirkt allein durch die eigenhändige Zeichnung schon als Gruß und Zeichen der Verbundenheit. Die Postkarte erscheint hier erneut als "Lebenszeichen" (KA 3.1, S. 160) eines Freundes. Lasker-Schüler ersetzt die Handschrift und erzählt mit ihrer Zeichnung: Das Bild substituiert die Schrift, es wird zur Schrift. Es ist eine Darstellung von fünf stilisierend gezeichneten Köpfen. Sie sind pyramidal angeordnet, eine Formation, die in der Forschung als "Kopfpyramide" bezeichnet wird und in Varianten auch auf einigen ihrer anderen Zeichnungen zu finden ist. Auf der Zeichnung ist kein Hintergrund zu erkennen. Auf der Postkarte ist diese Zeichnung unten handschriftlich bezeichnet mit "Dein Jussuf und seine Häuptlinge, Stambul, Asser, Gad und Salomon". Es lässt sich so auf Lasker-Schülers berühmte Ich-Figuration mit dem arabischen Namen "Jussuf" als Absender schließen, da das Pronomen "Dein" in Großschreibung allgemein zur informellen Grußformel gehört.

Der Plural "Häuptlinge" bezeichnet aus kolonial-westlicher Sicht führende Stammesmitglieder von meist außereuropäischen Völkern. Die Zuordnung zum Eigennamen "Jussuf" durch das Possessivpronomen "seine" bezeichnet eine Zugehörigkeit und auch eine Art Abhängigkeitsverhältnis der Gruppe der "Häuptlinge". Welcher Art genau die Beziehung ist, bleibt unklar. Die Anzahl der Eigennamen korrespondiert mit der Anzahl der Köpfe. Wirft man nun einen ersten Blick auf die Zeichnung, ist man verwundert, denn es werden keine Häuptlinge zu sehen gegeben. Bei einem Titel, der verspricht, ein Bild von "Häuptlingen" zu zeigen, assoziiert man beispielsweise eine bildliche Darstellung der Stammesführer von amerikanischen Ureinwohnern,(53) i.e. Indianerhäuptlingen, oder von Häuptlingen eines zentralafrikanischen Stammes. Diese visuellen Konventionen und stereotypen Konstrukte zum Begriff "Häuptling" gehören zum soziokulturell-ästhetischen Code und sind im Deutschen Kaiserreich von Kontexten wie z.B. der Rezeption von populären Reiseerzählungen geprägt, u.a. vom literarischen Code-Splittern der Romane des Schriftstellers Karl May, der sich selbst zu Lebzeiten mindestens ebenso fantastisch wie Lasker-Schüler inszenierte. Die Erwartungen werden aber von Lasker-Schüler bewusst enttäuscht, denn es werden keine Indianer zu sehen gegeben. Dies erweist sich auch darin, dass dies kein Einzelfall bei Lasker-Schüler ist. Zu ihren Bildern von Amenophenisindianern schreibt Ricarda Dick in ihrem Aufsatz zu "Else Lasker-Schüler als Künstlerin",(54) welcher die alt-ägyptischen Einflüsse auf die Zeichnungen der Künstlerin herausstreicht, "Daß unter den erhaltenen und bekannten ‚Bögen voll Amenophenisindianern' ausgerechnet keine Indianer zu sehen sind, ist wohl Zufall, denn just auf jenes Jahr 1927, als sie die Formulierung verwendete, ist ihre erste Indianerdarstellung zu datieren" (ibid., S. 144). Dick vermutet hier eine Kontingenz, die allerdings in Anbetracht des vermehrten Auftretens von Unterschriften, die nicht zu den Bildern zu passen scheinen, vielleicht keine ist.

Der oberste Kopf ist mit leicht angedeuteter Linksdrehung von Nase und Mund en face gezeichnet und lehnt sich teilweise verdeckend an den Kopf darunter, welcher auch noch en face zu sehen ist, aber etwas stärker nach links gedreht scheint. Die drei übrigen Köpfe sind darunter angeordnet, einer etwas höher im Rechtsprofil und zwei im Linksprofil. Während die beiden oberen Köpfe eine gewisse Tiefe andeuten und Details zeigen, sind die unteren drei nur zweidimensional-flächig und in Umrissen gezeichnet. Es sind fünf körperlose Häupter, die in einer Pyramide angeordnet sind und sich aufeinander aufbauen.

Nun sehen sich auf der vorliegenden Kopfpyramide vom Januar 1916 tatsächlich die unteren drei Köpfe recht ähnlich. Auch im Notizbuch des Dichters Albert Ehrenstein finden sich drei ähnliche Kopfpyramiden Lasker-Schülers, die zwei Monaten später entstanden sind, aber kein Rechtsprofil zeigen. Auf der vorliegenden Kopfpyramide vom Januar sind nur die beiden oberen Köpfe individuell gekennzeichnet. Diese sind ganz ohne typische Kennzeichen, die dem Stereotyp eines kolonial-westlichen Blicks auf Indianer entsprechen würden. Weder sieht man schwarzes, glattes Haar noch Irokesenschnitt, Vogelfedern oder eine andere den Ureinwohnern Amerikas als typisch zugesprochene Kennzeichnung. Bis auf den zweiten Kopf ist auf das Andeuten von Haar ganz verzichtet worden, was eine Zuordnung zu einem bestimmten Geschlecht erschwert oder unmöglich macht. Das oberste Haupt, das auch als Oberhaupt erscheint, trägt eine Kopfbedeckung, die durch ihre Form entfernt an ein (sehr gekürztes) Nemes-Kopftuch(55) erinnert, i.e. das dreieckige gestreifte Kopftuch, das die Pharaonen im alten Ägypten trugen und das zum Königsornat gehört. Das Haupt scheint deshalb einer ägyptischen Ethnizität zuschreibbar. Während aber das traditionelle altägyptische Nemes-Kopftuch die Stirn bedeckt und beidseitig über die Ohren bis zur Brust herabfällt, fehlt auf der Zeichnung der Schulterbereich der Figur. Statt des alt-ägyptischen Königssymbols der Uräusschlange hat Lasker-Schüler dem obersten Haupt eine Mondsichel auf die Stirn gezeichnet. Die Sichelmondform ist nicht nur ein muslimisches Symbol, sie kennzeichnet auch die Monate zur Berechnung des altägyptischen Kalenders.(56) Die so auf der Postkarte gezeichnete und mit dem Einschnitt gekennzeichnete Stirn weist durch diese Verknüpfung zu Konstantinopel und zum Osmanischen Reich in Verbindung mit dem abgewandelten altägyptischen Nemes-Kopftuch in einem Zwischenbereich zwischen Anpassung und Abgrenzung eine Hybridität von mythisch-traumhafter Orientalistik vor. Der Reihenfolge der Namensnennung entsprechend sollte dieses Haupt das von "Jussuf" darstellen, der sich durch das besitzanzeigende Pronomen "seine" als Anführer der Gruppe, zumindest als primus inter pares, darstellt. Die Umrisse der Figur sind nur teilweise ausgeführt, so dass man außer dem Kopf nichts ausmachen kann. Das Haar des ersten Kopfes ist überhaupt nicht zu erkennen, sondern bleibt vom Kopftuch bedeckt. Es muss entweder nach hinten gebunden oder sehr kurz geschnitten sein, was um 1916 für Frauen nicht üblich war. Eine Blickrichtung ist nicht auszumachen, denn die Pupillen der mandelförmig asiatisch-schrägen Augen sind nicht ge(kenn)zeichnet. Nur der Hals scheint durch seine Elongierung eine Weiblichkeit vorzuweisen.

Das zweite Haupt trägt kinnlange Locken unter den Umrissen einer helmartigen Kopfbedeckung, welche nur angedeutet ist und von dem obersten Haupt verdeckt wird. Sie geht in die Halslinie des ersten Hauptes ein, "so innig, daß die Grenzen zwischen den Figuren verschwimmen" (Schmetterling, S. 170), und steht im Begriff, von diesem inkorporiert zu werden. Die mandelförmig asiatisch-schrägen Augen tragen Pupillen, deren Blick nach oben gerichtet scheint. Das Haupt ist durch einen sechseckigen Stern auf der zugewandten Wange gekennzeichnet. Der von Lasker-Schüler gezeichnete Stern in seiner Mehrdeutigkeit kann neben dem jüdischen Symbol des Davidssterns bei Lasker-Schüler auch auf die Auserwähltheit als Künstler und hohen Respekt verweisen. Sterne sind Himmelskörper, die in der Nacht sichtbar werden. Ihre Vielzahl und Rätselhaftigkeit evoziert das Raumgefühl der Leere und der Unendlichkeit, und erinnert an das Rätsel des Textes,(57) dessen Kettenstruktur Signifikant an Signifikant knüpft. Wie auch der Sichelmond rekurriert der Stern auf die Teilhabe am Kosmischen über Raum und Zeit. Mond und Sterne sind Wegweiser in der Dunkelheit der Nacht. Im Unterschied zu Sternen aber indiziert der Mond eine Einzigartigkeit, denn es gibt ihn nur einmal. Wenn der Stern als Mal auf der Wange des Hauptes erscheint, liest sich dies als Auszeichnung eines Dichters durch einen anderen Dichter. Der Name "Stambul" bezieht sich eigentlich auf die türkische Stadt Istanbul (wie im bekannten Titel von Karl Mays Roman "Von Bagdad nach Stambul"), vormals Konstantinopel, die einzige kosmopolitische Metropole der Welt, die sich – durch den Bosporus getrennt – auf zwei Kontinenten befindet, Europa und Asien. Zugleich ist er jedoch als Benennung des rettenden biblischen Halbbruders "Ruben Stambul",(58) eine der Spielfigurationen Lasker-Schülers für den Maler Franz Marc, mit welchem sie seit 1912 in persönlichem und künstlerischem Austausch stand. Die Aquarelle seiner berühmten Tierzeichnungen beispielsweise inkorporieren Lasker-Schülers Bildzeichen von Sichelmond und Sternen, wie z.B. auf der Skizze zum "Turm der blauen Pferde", d.h. die gleichen typischen Symbole, die auf den zwei als individuell markierten Häuptern erkennbar sind. In den "Briefe[n] nach Norwegen" schreibt Lasker-Schüler im "Einundzwanzigste[n] Brief" an "Ruben":

"(...) und Ich ziehe in den Krieg gegen eines der wilden Stämme, werde Selbst Mein Heer anführen, in der vordersten Reihe kämpfen; man erschlafft – ich will wieder Ehrfurcht vor Mir bekommen. Gedenke Meiner! Unser Blut steht gleich hoch im Stern. (...) Dein Krieger" (KA 3.1, S. 449)

Ehrfurcht vor sich selbst ist somit das Ziel, das durch den Kampf und Krieg zu erwerben ist. Der "Blaue Reiter" als Figuration des Malers Franz Marc erscheint dabei als gleichwertiger Künstler. Die Gleichwertigkeit der Künstler ist aber nur eine behauptete, da durch den Sichelmond nicht nur ein Spiel mit der Orientalisierung ihrer Selbstfiguration betrieben wird. Er steht als einziger seiner Art unter unzählbar vielen Sternen am Himmel und deutet so Lasker-Schülers Einzigartigkeit an. Die Figur des Kriegers ist die des für seine Kunst kämpfenden Dichters. Dies wird im darauffolgenden Brief deutlich, wo es heißt:

"Gestern hielt der Kampf an bis in die Nacht. (...) Ich scherze und tauche den Schreibstift in Blut. Ich kämpfe wie im Gemälde; (...)" (KA 3.1, S. 449).

Der Krieg bei Lasker-Schüler erscheint als ein Krieg der Künstler, und ihre Waffen bestehen aus Schreibstiften. Häuptlinge, die in Lasker-Schülers Texten auf den Kriegspfad geschickt werden, sind demnach wichtige Künstler.

Die drei unteren Häupter haben etwas Artifizielles und Unfertiges an sich. Sie sind wenig(er) ausgeführt, und ihre zugehörig scheinenden Namen finden sich erst in späteren Texten Lasker-Schülers. Asser und Gad sind Namen für die Söhne des biblischen Jakob und Halbbrüder von Ruben und Josef (auf Arabisch "Jussuf") aus dem Alten Testament. Beide Namen bezeichnen Figurationen in Lasker-Schülers literarischen Texten, beispielsweise 1919 am Ende des Romans "Der Malik", wo mit Verweisen auf eine gleichgeschlechtliche erotische Beziehung gespielt wird.(59)

Der Name Salomein konnotiert ebenfalls eine alttestamentliche Figur, Salomon. Er war der Sohn Davids, Herrscher des vereinigten Israel und sprichwörtlich mit einer altorientalischen, i.e. der salomonischen Weisheit ausgestattet. Zugleich gehört er aber auch in den Kontext altorientalischer Mythen, denn seine Figur erscheint in den Märchen von "Tausendundeiner Nacht". Die Lasker-Schüler'sche Figuration des Salomein im Kaiserroman wirkt ganz im Unterschied zum weisen, biblischen Herrscher Salomon als einer der jüngsten Gespielen und "Jussufs treuester Häuptling" (ibid.). Wird der Name Salomein als "mein Salo", d.h. metonymisch als Anagramm gelesen, verweist er zum einen auf eine italienische Stadt am Gardasee namens "Salo", zum anderen auf den befreundeten Dichter Jakob Bluwstein, der 1937 in Lasker-Schülers Buch "Das Hebräerland" auch als "der vornehm gesinnte Dichter Salo"(60) figuriert wird.

Die Semantik der unter der Zeichnung stehenden Worte wird unterlaufen, wenn es nicht möglich ist, die Häuptlinge ethnisch zu differenzieren. Aus Häuptlingen, von denen es tatsächlich nur Häupter gibt, werden so ‚Haupt'-linge, oder besser ‚Haupt-leute'. Es verweist auf Personen aus dem Freundeskreis Lasker-Schülers, die ihr wichtig waren, also Hauptmänner und zugleich Gefolgsleute (bzw. mit der Lektüre der "Briefe nach Norwegen" vielmehr Stammesführer) unter der Führung des "egyptischen" Prinzen Jussuf. Bereits Ricarda Dick schreibt, dass Lasker-Schüler "Den Begriff ‚Indianer' (...) als Metapher für ihren Freundeskreis [nutzt], den sie als verschworenen Bund gegen die Außenwelt sehen wollte" (Dick, S. 144). Dick betont vor allem die alt-ägyptischen Einflüsse, die auch Aufnahme in die Kompositionsprinzipien von Lasker-Schüler fanden. Das Prinzip der Staffelung von gleichartigen Bildelementen bei Lasker-Schüler gehört wie auf den altägyptischen Wandmalereien zu einem Gefüge, wobei Unterschiede "nur zwischen unterschiedlichen Ethnien zu erkennen, [sind] dort allerdings sehr deutlich" (ibid., S. 143f.). Nach Dicks Theorie ließ sich Lasker-Schüler durch einen Besuch im Ägyptischen Museum in Berlin von der abgebrochenen Nase einer Gipsmaske von Amenophis IV. zu ihrer zeichnerischen Entwicklung anregen (ibid., S. 130). Neben Amenophis ist aber auch einer der bekanntesten großen alt-ägyptischen Skulpturen ebenfalls bekannt dafür, dass ihr die Nase abgeschlagen wurde: der Sphinx von Gizeh. Auch auf der Postkarte Lasker-Schülers von 1916 findet sich in der Kopfpyramide eine Mehrfachperspektivierung in Variationen. Die schon laut Durieux "recht ähnlich gezeichneten Köpfe" zeichnen sich alle fünf insbesondere durch ihre typische Ausstattung der mandelförmig asiatisch-schrägen Augen sowie der langen, abgeflachten Nasenrücken aus, die "egyptisch" anmuten. Flache Nasenrücken werden aber häufiger als Kennzeichen asiatischer Gesichter interpretiert und weniger häufig als Kennzeichen von Ägyptern, d.h. auch der Einfluss des Japonismus in der damaligen Kunst könnte hier eine Rolle spielen. Japonismus ist eine "zusammenfassende Bezeichnung für die an japanischer Kunst und Kultur orientierten Tendenzen in der europäischen Kunst, die seit der 1854 erfolgten politischen und wirtschaftlichen Öffnung Japans nach Europa verstärkt zunahmen". (61) Neben den tiefen Nasenrücken gehörte auch die Mehrfachperspektivierung zu den japonistischen Einflüssen in Europa. Durch die Strategie der Hybridisierung muss eine exakte ethnische Zuordnung misslingen.

Die Mehrfachperspektivierung, die die Kontrolle der Wahrnehmung aus einer einzigen Sicht unterläuft, um in der Moderne einen außereuropäischen Rhythmus zur Darstellung zu bringen, wurde nicht nur auf der Postkarte an Franz Marc gezeichnet, sie wurde beispielsweise auch bei den Tänzerinnen dieser Zeit beobachtet.(62) Auf Lasker-Schülers Postkarte von 1916 sind die zwei oberen Köpfe nicht als direkte Abbilder der Personen Lasker-Schüler und Franz Marc anzusehen, sondern als spielerisch verfremdet und erhöht. So trug der Maler Franz Marc keine Locken; diese heben in der Zeichnung den Kopf seiner Figuration "Stambul" jedoch optisch besonders aus der Menge der ähnlichen Köpfe heraus. Die Zeichnung der Köpfe ist keine Repräsentation des darunter Geschriebenen, sondern zeigt im Spiel mit verschiedenen Verweisen von Ethnizitäten Enthüllung und Verschleierung zugleich. Die Bilder werden durch diese Verweise supplementär zu lesbaren Texten.

Die "Häuptlinge" Jussufs können so als die vom Stamm der sich am Stammtisch eines Berliner Kaffeehauses wie des "Café des Westens" treffenden Freunde gelesen werden. Dieses Café befand sich dort, wo die Joachimstalerstraße den Kurfürstendamm schnitt; diese Gegend hieß "Neuer Westen" und trug im Volksmund den Namen "W.W." für "Wilder Westen".(63) Was liegt näher und passt besser in diesen Wilden Westen als solche "Häuptlinge"? Verdeckt verweist die Assoziation zu den Häuptlingen als indianische Ureinwohner Amerikas auch auf Karl May, und in einem weiteren Schritt dann auf die IndiaAner von Arno Schmidts Karl May-Lektüre,(64) also Schwule bzw. Homosexuelle. Diese soziale Gruppe mit Schriftstellern wie Johannes Holzmann,(65) Kurt Hiller(66) und Hans Ehrenbaum-Degele(67) gehörte in das Milieu, in dem Lasker-Schüler wie viele andere Künstler Anregung und Auseinandersetzung suchte. Ihr Freundeskreis, "ein bunt' Volk" (KA 3.1, 267), beinhaltet aber nicht zuletzt durch ihre Wanderungen und Spaziergänge neben Literaten, Malern, Architekten und weiteren Künstlern auch Obdachlose, darunter Straßen- und Strichjungen. So nennt sie sich selbst viel später in einem Brief: "Ich bin keine gnädige Frau, aber ein Straßenjunge oder ein Hirte oder ein Prinz alle 1000und1 Jahr einmal."(68) In diesen wechselnden Bezeichnungen wird deutlich, dass die damals alltägliche Anrede "Gnädige Frau" nicht auf die Künstlerin Lasker-Schüler zutrifft. Treffender ist vielmehr die Ortlosigkeit eines Straßenjungen oder Hirten und die Märchenhaftigkeit aus 1001 Nacht.

Der Text unter der Zeichnung verbindet die Schrift mit der bildnerischen Kunst auf der Postkarte. Der Schriftzug des Namens "Jussuf" geht in die Zeichnung des Sichelmonds über. Er verweist so auf ein für Lasker-Schüler typisches Nebeneinander und Ineinander von Bild und Schrift, das die Differenz von Bild und Schrift verstreut bzw. auflöst. Zur Unterscheidung von dem ansonst identischen Buchstaben ‚n' hat sie wie in der deutschen Kurrentschrift(69) einen Längestrich auf den Kleinbuchstaben ‚u' gesetzt. Durch die schwungvolle Rundung wird das Makron in der Rundung des Sichelmonds zu einer Figur der Wiederholung (und mit diesem so zu einer Emphase des Mondes). Zu ihrem Bildkonzept publiziert Lasker-Schüler viel später, am 15. Januar 1927, einen mikrologischen Text mit dem Titel  "Wie ich zum Zeichnen kam" in der Morgenausgabe des Berliner Tagblatt:

"Wahrscheinlich so: Meinen Buchstaben ging die Blüte auf – über Nacht; oder besser gesagt: über die Nacht der Hand. Man weiß eben nicht – in der Dunkelheit des Wunders.

(...) Wie ich zum Zeichnen kam? Ganz genau, wie das Laub sich nach der Blume sehnt, so zaubert die Sehnsucht meiner lebendigen Buchstaben das Bild in allen Farben hervor. Nicht zu erzwingen ... " (KA 4.1, S. 137)

In diesem Essay, der bereits mit dem Wort "wahrscheinlich" anhebt und damit den Wahrheitsgehalt des darauffolgend Erzählten vorauslaufend subversiert, entspringt das Bild der Schrift, wenn den Buchstaben die "Blüte" aufgeht. Damit zeigt sich bei Lasker-Schüler die Schrift dem Bild vorgängig.(70) Auf welche Art, das bleibt in rätselhaftes Dunkel der Nacht getaucht, so dass man eben nicht weiß, wie Lasker-Schüler zum Zeichnen kam. Es wird mit der Zauberkraft von Buchstaben begründet, die lebendig erscheinen. Es sind die Nächte (!) Tino von Bagdads, in denen scheherazadengleich kleine Geschichten von exotischen Orten erzählt werden. Nur in der Nacht sind die Sterne und der Mond sichtbar. In dieser mythisch-märchenhaften Erzählung wird deutlich, dass es das traumhafte Verfahren der Allegorisierung als Bildlichkeit ist, das durch die Schrift in Gang gesetzt wird. In der Verknüpfung von Schrift und Bild wird im Hintergrund die jüdische Texttradition und ihr Verweis auf eine mythische Urschrift sichtbar, worauf schon Silvia Henke verwies.(71) Demzufolge geht die Schrift den Texten immer schon voraus, weshalb die Hand als Scharnier zwischen Körper und Schreibwerkzeug zum wichtigen Motiv wird. in der hebräischen Texttradition muss die Materialität jedes Buchstaben und jedes kleinen Krönchens geachtet werden: Die Schrift wird dabei zum Bild. Daneben weist die Tradition der Hieroglyphen, deren Bezeichnung aus dem Ägyptischen mit "Schrift der Gottesworte" übersetzt werden kann,(72) auf die göttliche Herkunft der piktografischen Zeichen. Bildhafte Allegorisierung zeigt sich auch in den Zeichnungen von den hieroglyphisch wirkenden Allerweltssymbolen Herz, Stern und Sichelmond bei Lasker-Schüler, die von der Schrift zu Zeichen verwandelt werden.(73) Diese hieroglyphischen Insignien werden als hervortretendes Mal zu aufgedrückten, geradezu tätowierten Bildern,(74) die auf den Körper und wie auch auf den Köpfen der Postkarte von Lasker-Schüler gezeichnet sind.

 

Heimat statt Exil: "Egypten"

Mit der Einführung der Postkarte erscheint ein zu jener Zeit neuer, unkonventioneller Weg, eine Nachricht mit einer bildlichen Darstellung zu verknüpfen. Über die späteren Postkarten Lasker-Schülers im Schweizer Exil schreibt Alfred Bodenheimer, sie zeugten von einem "immer neuen Scheitern an vorgenormten Formaten, wie eine planmäßige Unbelehrbarkeit, auch wie eine konstante Unterschätzung der im Schreibfluß sich freisetzenden Dynamik des Sichmitteilens",(75) d.h. er erkennt nicht, dass Lasker-Schülers Schreibstrategien wie z.B. die Bedeutungsdissemination erarbeitet sind und ihr nicht unbewusst zufallen. Das verwundert nicht, hat sie es doch immer selbst darauf angelegt, als ungebildet zu erscheinen. Es wurde aber nach der kritischen Ausgabe ihrer Werke deutlich, dass Lasker-Schüler bewusst ihr Spiel mit den Lesern getrieben hat und auch ihre Postkarten nicht von einem Scheitern zeugen. Bodenheimer hat jedoch bereits zur Funktion feststellen können, dass bei Lasker-Schüler

"(...) die Karte selbst oft weit über den Mitteilungswert und -charakter hinaus zur persönlichen Unterschrift wird. Wobei dem Begriff der Unterschrift selbst zweierlei Funktionen beizumessen sind: Zum einen die konventionelle Funktion, sich als Schreiber des Briefes bekanntzugeben, zum anderen (...) die Funktion der Selbstvergewisserung, die gerade dadurch gestärkt wird, daß die Unterschrift an einen Empfänger gerichtet ist, der durch sein Lesen diese Selbstvergewisserung sozusagen bestätigt. So gewinnt die Postkarte (...) ein Gewicht, das mit der Aussagekraft von Druckbuchstaben allein nicht annähernd getragen werden kann." (588f.)

Bodenheimer spricht der Postkarte bei Lasker-Schüler deshalb einen Substratcharakter zu, "Sich an einem Ort Platz zu schaffen, wo keiner ist" (ibid., 589). Das trifft auch auf die Zeit vor ihrer Emigration zu. Lasker-Schüler flanierte nicht nur auf den Straßen Berlins und anderer Städte und nutzte Hotelzimmer als Absteigequartiere, sie bewegte sich selbst zwischen den Ethnizitäten und Geschlechtern. Das Ortlose wurde ihr zum Aufenthalt, wenn sie die Haltlosigkeit gegenüber einer falschen Sicherheit bevorzugte. Es ist jedoch nicht ausreichend, auf die Funktion der Selbstvergewisserung zu deuten, denn Lasker-Schüler verwendet eben nicht stets den gleichen Namen. Sie verwendete oft andere Namen und wechselte diese sogar innerhalb eines kurzen Postkartentextes.(76)

Else Lasker-Schüler macht das Problem der Ethnizität zum Thema ihres Schreiben und Zeichnens. Bei Lasker-Schüler fällt insbesondere auf, dass die Differenz des Kleinformats herkömmliche eindimensionale Kunstvorstellungen stört und verschiebt. Es zeigt eine neue Form des künstlerischen Ausdrucks, die verunsichern wollte und das künstlerische Ideal des Geniekults in der Kunst (u.a. durch das Ironische und exotisch Andere) subvertierte. An der Schnittstelle zwischen Kunst und Gebrauchsgegenstand zeigt sich so intermedial eine Transformation der visuellen Kunst und offenbart neuartig eine spezielle Ästhetik. So wurde schon vor den elektronisch-digitalen Medien die Grenzziehung zwischen Bild und Schrift ins Wanken gebracht. In der Schrift finden sich Rückkopplungen auf das Bild, und umgekehrt. Der Dualismus von Text und Bild wird in der palimpsestartigen Überschreibung des Bildes aufgehoben. Die Postkarte wird genutzt, um das Prinzip der Identität zu verstellen und zu verschieben (z.B. mit dem Stilmittel der Parodie). Dabei sind die mikrologischen Zeichnungen auf Lasker-Schülers Postkarten wie ihre kleinen Erzählungen nicht auf visuelle Repräsentation angelegt, sondern verweisen mit der Frage der Ethnizität auf eine Gespaltenheit der Identität in der Moderne, die sich nicht in neuer Auflösung befindet, sondern schon immer gebrochen ist. Indem verschiedene künstlerische Formen des Kleinen exemplarisch miteinander konstelliert wurden, erweist sich die Auflösung der Ethnizität als ein poetologisches Konzept von Lasker-Schülers Selbstfigurationen. Es zeigt sich kongruent zur Flüchtigkeit und Instabilität der anbrechenden Moderne eine beständige Rekonstruktion und Neufindung des Selbst. Die orientalistische Selbstdarstellung im Zwischenraum, durch Unterbrechung und Kontextualisierung erzeugt, gibt den Rahmen ab als Erzeugungsmodus für etwas, was leer bleibt bzw. Offenheit produziert, und imaginär zwischen Zeichnung und Text erzeugt wird. Ihre ästhetische Strategie der Verunsicherung von Sinnzusammenhängen hat sie auch auf den visuellen Bereich übertragen. Die Verflüchtigung der Repräsentation wird auch in den Szenen behandelt, in der es vermeintlich um Ethnizität geht. Die Zeichnung auf der Postkarte von 1916 gibt nicht allein Figurationen von Lasker-Schüler zu sehen, sondern allegorisch-kryptische Chiffren. Insbesondere die Hybridität der Lasker-Schüler'schen Selbstfiguration stellt tradierte Begriffe von Ethnizität und Geschlecht infrage, hinterfragt den Glauben an eine stets eindeutige kulturelle, ethnische und geschlechtliche Orientiertheit und verdeutlicht so, dass Identität sich in einem Zwischenraum konstituiert. Das künstlerische Spielen Lasker-Schülers mit vorgegebenen marginalen ethnischen Identitätsmustern in Bildern und Texten ahmt die kulturellen Muster nach, erfüllt sie aber nie ganz. Das Konzept von Ethnizität wird bei Lasker-Schüler durch die Ambivalenzen in den Bildern und Texten unterlaufen. Ethnizität erweist sich so als nicht authentisch, i.e. als eine Konstruktion, und disseminiert in einer "multikulturelle(n) Vielschichtigkeit".(77)

Wenn bei Lasker-Schüler durch Charakterisierung und zugleich Anonymisierung die Ethnizität sprachlich und bildlich durchbrochen wird, so hatte das auch Auswirkungen auf die jüdischen Bevölkerungsgruppen in Deutschland. Astrid Schmetterling hebt hervor, dass sich Lasker-Schüler nicht allein auf das Fremdsein im Sinne des jüdischen Exils in Ägypten bezieht, sondern dass sie auch "eine Herausforderung an die akkulturalisierten Juden [darstellte], die ihre traditionellen Rituale und Gebräuche den Normen des deutschen Bürgertums anpaßten, um sich vom Stigma des nichteuropäischen Ursprungs zu befreien".(78) Lasker-Schüler wendet die Narration von der jüdischen Diaspora in Ägypten in die entgegengesetzte Richtung um und erfindet aus dem Exil die Narration von einer Heimat in ‚Egypten'. Sie suspendiert das Geschlecht und (v)erdichtet in ihrer Strategie der Mimikry mit vielen Mehrdeutigkeiten eine andere, nichtexistente mythisch-plurale Ethnizität. Dazu gehört der marokkanische Tänzer, dessen Identität zugleich auf einen deutschen Dichter verweist genauso wie Lasker-Schülers Kombination des altorientalisch-mythischen "Egyptischen" der Selbstfiguration des Prinzen "Jussuf" im Doppel mit seinem somalischen Diener, die in den mikrologischen Bildern nach und nach zu einer ambivalenten Einheit verbunden werden und die auf dem Kriegspfad für die Kunst gehenden Häuptlinge, die den Stamm am Berliner Stammtisch treffen.

Es wurde entfaltet, wie Ethnizität in bildhaften und literarischen Texten von Else Lasker-Schüler funktionalisiert wird. Das mikrologische Format der Postkarte enthüllt und verschleiert zugleich im Hinblick auf das Konzept der Ethnizität und beginnt so, den herkömmlichen Begriff von Kunst anzustoßen und ins Wanken zu bringen. In der neuen Verbindung von Schrift und Bild erscheint ein Angriff auf die Werkhoheit künstlerischer Praxis. Die darstellende Kunst begibt sich so in eine neue Verbindung mit dem Medium ‚Postkarte'. Ethnizität dabei zum einen disseminiert und zum anderen dem Eigenen anverwandelt. Sie unterläuft so das, was gemeinhin als das Ethnische bezeichnet wird.

Nicht nur der "Prinz von Theben", auch ein anderer Mythos ist mit dem Herkunftsland Theben verknüpft. Nach der griechischen Mythologie hielt sich die Sphinx auf einem Berg außerhalb von Theben auf, und gab den vorbeikommenden Reisenden (als letztem dem Ödipus) ein Rätsel auf. Sie ist aber auch selbst ein Rätsel, denn sie ist ein Mischwesen. Das grammatische Geschlecht ist weiblich, der Körper ist der eines geflügelten, männlichen Löwen. Ihr Kopf und Oberkörper ist der einer Frau. Die Sphinx ist das Gegenstück zur Identität von Ethnizität und Geschlechtlichkeit, eine rätselhaft mythische Figur, die die Differenz als solche allegorisch darstellt. "Jussuf" und die Sphinx sind beide Gattungsgrenzen durchbrechend Thebaner, ‚Fabel-haft' im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne als ein Legendengebäude, und repräsentieren das Mysterium.

 

Fussnoten:

1 Vgl. Lebeck, Robert und Gerhard Kaufmann: Viele Grüße... Eine Kulturgeschichte der Postkarte. Harenberg Kommunikation, Dortmund 1985, S. 389.

2 Vgl. [http://de.wikipedia.org/wiki/Ethnizit%C3%A4t], abgerufen am 30. August 2013.

3 Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000.

4 Siehe Walter, Karin: Postkarte und Fotografie. Studien zur Massenbild-Produktion. Würzburg 1995, S. 11; siehe ebenso Diekmannshenke, Hajo: "Ich habe gerade an dich gedacht!". Die Postkarte als Kommunikationsmedium. In: Lingua et opinio
[http://www.tu-chemnitz.de/phil/leo/rahmen.php?seite=r_medn/diekmannshenke_postkarten.php], abgerufen am 21. September 2013.

5 Vgl. Handbuch des deutschen Postwesens. Frankfurt/Main 1953, S. 532; sowie [http://de.wikipedia.org/wiki/Postkarte#cite_note-55], abgerufen am 21. September 2013.

6 Schon 10 Jahre nach ihrer Einführung wurden 1880 im Deutschen Postgebiet insgesamt 141 Millionen Postkarten verschickt; vgl. Hedinger, Bärbel: Künstler, Post, Karte – eine Einleitung. In: Dies. (Hg.): Die Künstlerpostkarte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1992, S. 9-18; zitiert nach Diekmannshenke, a.a.O., S. 3.

7 Siehe dazu als Beispiel eine Postkarte vom September 1906 in Raabe, Wilhelm: Postkarte an Paul Jonas Meier. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Wilhelm Raabe. Edition Text + Kritik, Heft 172, 2006, S. 7.

8 Siehe die Farbtafel des Kommunikats 18 in Holzheid, Anett: Das Medium Postkarte. Eine sprachwissenschaftliche und medienwissenschaftliche Studie. (Erich Schmidt Verlag) Berlin, 2011, S. 370. Diese Karte wurde damals verwendet, um beispielsweise "60-65 lt. gutes, frisches Mohnöl" (ibid.) zu bestellen.

9 So z.B. auch bei Peter Altenberg; vgl. zur Kleinform als Form der Epoche in Köwer, Irene: Peter Altenberg als Autor der literarischen Kleinform. Untersuchungen zu seinem Werk unter gattungspoetologischem Aspekt. Peter Lang Verlag, Frankfurt/Main 1987, S. 59ff.

10 Darunter "Das Peter Hille-Buch" von 1906 und der Roman "Die Nächte Tino von Bagdads" von 1907.

11 Oder mit Lacan von Signifikanten, welche beständig gleiten, vgl. "Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten" in Lacan, Jacques: Schriften II. Berlin, Weinheim 1986, insbesondere S. 27.

12 Vgl. zum selektiven Verknüpfen von Verweisungszusammenhängen beim Lesen Leipelt-Tsai, Aggression in lyrischer Dichtung, a.a.O., S. 73.

13 Rosa von der Schulenburg (Hg.): Arte Postale. Bilderbriefe. Künstlerpostkarten, Mail Art. Aus der Akademie der Künste und der Sammlung Staeck. Akademie der Künste, Berlin 2013. Auf S. 13 ist nur ein undatierter Brief Lasker-Schülers an Ludwig Berger mit Zeichnungen und aufgeklebten Lackbildchen abgedruckt.

14 Im literarischen Spiel nutzte Else Lasker-Schüler verschiedene Figurationen und Selbstfigurationen mit z.T. ambiguos schillerndem oder unbestimmbarem Gender, z.B. "Tino".

15 Im Unterschied zu einer "Spielfiguration" als poetische Stilisierung (vgl. Feßmann, Meike. Spielfiguren. Die Ich-Figurationen Else Lasker-Schülers als Spiel mit der Autorrolle. Ein Beitrag zur Poetologie des modernen Autors. M & P Verlag für Wissenschaft und Forschung, Stuttgart 1992, S. 16), die Eigenschaften von tatsächlichen Personen aufnimmt (siehe dazu auch den Nebentitel von Lasker-Schülers Roman "MeinHerz") und verwandelt wiedergibt, so dass die Leser die mehr oder weniger verdeckte Person (nicht) wiedererkennen können, erscheint die Figur des Ossman auf den ersten Blick eindimensional.

16 Im Menschenpark. Von Utz Anhalt. (03.05.2007) taz. die tageszeitung [http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2007/05/03/a0238]; 22. September 2013.

17 Siehe dazu Krabbe, Wolfgang R. "Die Lebensreformbewegung." In: Buchholz, Kai, Rita Latocha, Hilke Peckmann und Klaus Wolbert (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. 1, Darmstadt: Häußer, 2001, S. 25-29.

18 Dick, Ricarda (Hg.): Else Lasker-Schüler – Die Bilder. Hg. im Auftrag des Jüdischen Museums Frankfurt am Main. Berlin 2010, S. 212. Dick datiert den Brief auf 1916, während in KA 7, Nr. 470, S. 542 der Brief an Johannes Matuschka auf Frühjahr 1922 datiert wird.

19 Eine mittelamerikanische Variation dieses Motivs findet sich später in Lasker-Schülers Bild "Der blaue Jaguar und Freytag" von 1928 (im Verzeichnis von Dick, Ricarda (Hg.): Else Lasker-Schüler. Die Bilder, a.a.., S. 72), die aber keine solch enge Verwobenheit vorweist. Der Name "Freytag" spielt auf den exotischen Diener und Freund von Daniel Defoes Protagonisten Robinson Crusoe an, was den Begleiter der Selbstfiguration Lasker-Schülers in einer eher untergeordneten Position erscheinen lässt. Zugleich wird mit dem Namen aber auch auch auf den bekannten Schriftsteller Gustav Freytag angespielt.

20 Zur Frage des Kriegerischen bei Lasker-Schüler siehe das vorletzte Kapitel (s.o.).

21 Stowasser, Josef M.: Der kleine Stowasser. Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch. Münchnen 1979, S. 298.

22 Hallensleben, Markus: Else Lasker-Schüler: Avantgardismus und Kunstinszenierung. Tübingen und Basel 2000, S. 51.

23 Das Problem der ursprünglichen Gewalt der Sprache wird von Jacques Derrida als "arché écriture" bezeichnet. Die ursprüngliche Gewalt in der Sprache zeigt sich demnach im Benennen durch einen Namen, da durch die festschreibende Einengung des Namens ein Verlust des Eigentlichen stattfindet (vgl. Derrida, Jacques: Grammatologie. Frankfurt/Mai 1974, S. 197). In der Herstellung einer Identität wird diese zugleich verfehlt, wenn das von der Sprache versprochene Eigene stets schenkt und zugleich enteignet.

24 Vgl. Rahmann, Sabrina K.: "Die Aschanti" von Peter Altenberg und "Der Neger" von Karl Kraus. In: Kopp, Kristin und Werner Michael Schwarz (Hg.): Peter Altenberg. Ashantee. Afrika und Wien um 1900. Löcker Verlag, Wien 2008, S. 151-162; hier S. 160.

25 Zur sukzessiven Publikation der "Briefe an den blauen Reiter" siehe KA 3.2, S. 260. Der "Kaiserroman" erschien dann 1919 im Verlag Paul Cassierer.

26 http://de.wikipedia.org/wiki/Zwarte_Piet; 22. September 2013.

27 Siehe u.a. die Portraitzeichnung "Bulus I. von Theben" (KA 3.1, S. 353). Lasker-Schüler figurierte ihren Sohn zuvor schon des Öfteren in ihrer Prosa, z.B. als "Klein Pull" in "Das Peter Hille-Buch" (KA 3.1, S. 46).

28 Bhabha, a.a.O., S. 126.

29 Else Lasker-Schüler an Heinrich Mann, Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, Berlin 12.2.1931. Leider wurden weder die Postkarte noch der Brief mit Vignette in dem diese Austellung begleitenden Katalog von 676 illustren Exponaten abgedruckt. Beides wird im Katalog nur im Verzeichnis der ausgestellten Werke kurz erwähnt, vgl. Schulenburg, a.a.O., S. 117.

30 Siehe beispielsweise die Spiegelschrift in den "Hebräischen Balladen", oder "Jussuf" spiegelschriftlich geschrieben auf der Rückseite der "Kopfpyramide 3" von 1916 in Dicks Werkverzeichnis unter Nr. 63, S. 213.

31 Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. (Edition Suhrkamp) Frankfurt/Main 2002, S. 18f. Agamben kritisiert implizit René Girard, wenn er auf die Abgrenzung der Spähren des Politischen und Religiösen insistiert (vgl. ibid., S. 90).

32 Vgl. Klüsener, Erika: Else Lasker-Schüler mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. (rororo) 8. Aufl., Reinbek bei Hamburg 1996, S. 95.

33 Ein Effekt der orientalistischen Selbstfigurationen war, dass Lasker-Schüler von ihren Landsleuten, Juden und Nichtjuden, als orientalisch angesehen wurde (vgl. Heizer, Donna K.: Jewish-German Identity in the Orientalist Literature of Else Lasker-Schüler, Friedrich Wolf, and Franz Werfel. Columbia, SC, USA: Camden House, 1996, S. 41).

34 Vgl. Kirschnick, Sibylle: Zersplitternde Bilder. Zur Berliner Rezeption von Peter Altenbergs Aschantee. In: Kopp, Kristin und Werner Michael Schwarz (Hg.): Peter Altenberg, a.a.O., S. 185-198; hier S. 189.

35 Vgl. [http://www.kj-skrodzki.de/Dokumente/Text_048.htm], abgerufen am 6. Oktober 2013. Gertrude Barrison (um 1880-1946) war Tänzerin und Rezitatorin. Die dänischen Five Sisters Barrison aus New York gehörten zu den größten Tanzstars des Varietes und der Revuen. Sie verkörperten sinnlich-naive kleine Mädchen mit viel Sex-Appeal, und traten 1894 für acht Monate im Berliner Wintergarten auf (vgl. Traub, Ulrike: Theater der Nacktheit. Zum Bedeutungswandel entblösster Körper auf der Bühne seit 1900. Bielefeld 2010, S. 155f.).

36 Vgl. Benn, Gottfried: Else Lasker-Schüler. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. VI, Prosa 4. Stuttgart 2001, S. 54-57; hier S. 54. Mit der "Sturm"-Ausgabe vom September 1911 ist Lasker-Schülers Bekanntschaft mit Benn bereits vor 1912 zu datieren.

37 Vgl. Traub, ibid.

38 Vgl. Langenscheidts Großes Schulwörterbuch. Französisch-Deutsch. Berlin, München 1998, S. 331.

39 Dies gemahnt an die von Lasker-Schüler selbst verfertigte Einbandillustration des Bandes der zweiten Auflage von "Die Nächte Tino von Bagdads" (dann im Titel durch Ergänzung eines Artikels feminisiert zu "Die Nächte der Tino von Bagdad"), welche eine sich windende Tänzerin zeigt.

40 Meike Feßmann liest interessanterweise in der Geschichte "Ached Bey" die Tänzerin als Verführerin, sowie eine Feminisierung von Minn (vgl. Feßmann, a.a.O., S. 179f.).

41 Siehe den 54. Brief Lasker-Schülers (erschienen in: Der Brenner, 4. Jahrgang 1913/14, S. 852-862) in Marc/Lasker-Schüler, Der Blaue Reiter, a.a.O., S. 109.

42 So z.B. für Franz Marc den Namen "der goldblaue Reiter". Vergleiche zu den Farben bei Lasker-Schüler Leipelt-Tsai, a.a.O., S. 283f.

43 Das Verfahren der Verbindung durch Ähnlichkeit bei Lasker-Schüler wird schon von Meike Fessmann beschrieben (vgl. ibid., S. 227f.).

44 Siehe Kirschnick, Zersplitternde Bilder, a.a.O., S. 191-192.

45 Lasker-Schüler schreibt am 19. Januar 1910 in einem Brief an Jethro Bithell: "(....) gleich gehe ich zum Indianerfest, oder Vögelfest, der Finkenschaft. Meine Nägel sind mit Hena gefärbt und meine Stirne habe ich tätowiert voll von Sternen." (KA 6, S. 131).

46 Dazu weiter vgl. Schuller, Marianne: Bilder in gezeichneter Schrift. Franz Marc – Else Lasker-Schüler. In: Fliedl, Konstanze (Hg.): Kunst im Text. Frankfurt/Main und Basel 2005, S. 15-29; hier S. 28f.

47 Lasker-Schüler entwarf sogar andernorts für ihre Selbstverspottung spezielle Figurationen (wie "August" und "Amanda").

48 Der Bund der "wilden Juden" erscheint vor allem in Lasker-Schülers Kaiserroman "Der Malik" von 1919 (KA 3.1, S. 337, 346f.).

49 Lasker-Schüler nimmt ihre Kunst ernst (vgl. KA 3.2, S. 215) und sieht sich als Dichterin, die "das heilige Kriegskleid" (KA 3.1, S. 408) trägt. Im Rückblick auf die Figur des "Ossman", der ebenfalls als Krieger gezeichnet wird, wird nun deutlich, dass er ebenfalls zu den Künstlern gehören muss und eine Selbstfiguration Lasker-Schülers spiegelt.

50 Dabei fragt sich auch, wer ihn in der Fantasie der Icherzählerin zu jener Zeit bereits heiraten wollte, denn die erste Fassung von 1912 enthält allem Anschein nach bereits diesen Satz, während Benn erst viel später, im Jahr 1914, zum ersten Mal heiratete.

51 Schmid-Ospach, Michael: Elisabeth Lasker-Schüler. Eine Biographie. In: Ders.: Mein Herz – Niemandem. Ein Else Lasker-Schüler Almanach. Gemeinsam herausgegeben mit der Else Lasker-Schüler Gesellschaft u. der Stadtbibliothek Wuppertal. Wuppertal 1993, S. 7-39; hier S. 22.

52 Dick, Ricarda (Hg.): Else Lasker-Schüler – Franz Marc. Eine Freundschaft in Briefen du Bildern. München 2012, S. 104.

53 Das Motiv der amerikanischen Ureinwohner war zu jener Zeit in deutschsprachigem Gebiet nicht unbekannt. Der Maler August Macke, der in der Gruppe "Der Blaue Reiter" mitarbeitete, malte z.B. 1911 sein Gemälde "Indianer auf Pferden".

54 Vgl. Dick, Die Bilder, a.a.O., S. 130-132 und S. 142-144.

55 Vgl. [http://de.wikipedia.org/wiki/Nemes-Kopftuch], abgerufen am 24. Oktober 2013.

56 Vgl. [http://de.wikipedia.org/wiki/Mondsichel], abgerufen am 22. Oktober 2013.

57 Im sehr viel später entstandenen Gedicht "Hingabe", das 1943 in Jerusalem in Else Lasker-Schülers Sammlung "Mein blaues Klavier" erschien, findet sich im Moment der poetischen Selbstreflexion die Ausweitung des Sternenzeichens auf das Rätsel der Schriftzeichen als "Sternoglyphen": "Ich schwebte einsamlich die Welten all hinan,/Entzifferte die Sternoglyphen und die Mondeszeichen um den Mann."

58 Vgl. KA 3.2, S. 263.

59 "Asser, Gad, Mêmed und Salomein wandelten schon kurz nach Mitternacht auf Raten Jussuf Abigails heim. Asser trug eine Verwundung durch einen Dorn der Rose auf der Wange, die den Kaiser im Anblick der Schönheit Assers störte." (KA 3.1, S. 348) "Nur daß Assers Herz am Wesen der Frauen hing, verargte vielfach die Freude des Kaisers an seinem Häuptlinge. (...) Gad hatte Verständnis für des Kaisers Abneigung gegen Eva" (KA 3.1, S. 349).

60 Vgl. KA 5, S. 96. Else Lasker-Schüler bezeichnete Jakob Bluwstein auch als "Salo", vgl. http://www.kj-skrodzki.de/Dokumente/Text_048.htm], 19. Oktober 2013.

61 Lexikon der  Kunst. Sechster Band. Hert-Klap. Malerei, Architektur, Bildhauerkunst. Karl Mueller Verlag, Erlangen 1994, S. 239.

62 So gab es außer Gertrude und ihren "Five Sisters Barrison" seit 1890 noch andere einheitliche Gruppen von Tänzerinnen die im Unterschied zu ihnen eher automatisiert in Reihen tanzten; vgl. Traub, a.a.O., S. 159. Die langbeinigen, ähnlich aussehenden Tänzerinnen der Revue-Tanzstars gehörten zu einer "Girlkultur", deren künstlerisches Konzept die sportlich-kühle Erotik erwachsener weibliche Körper waren, und die ein Jahrzehnt später als Kollektiv (z.B. in den Tiller-Girls, deren starke Rhythmik an Maschinen erinnerte und die als "durchtrainierte Tanzautomaten" gesund und intakt strahlten) einen Gruppentanz mit absoluter Präzision ausführten (vgl. ibid., S. 155ff.).

63 Vgl. Fohsel, Hermann-J.: Im Wartesaal der Poesie. Zeit- und Sittenbilder aus dem Café des Westens und dem Romanischen Café. Berlin o.J., S. 23.

64 Vgl. Schmidt, Arno: Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl Mays. Frankfurt/Main 1963.

65 Holzmann trat für die Abschaffung des Paragrafen 175 und die Legalisierung der Homosexualität ein und schrieb u.a. einen Artikel mit dem Titel "Die Homosexualität als Kulturbewegung", vgl. [http://en.wikipedia.org/wiki/Johannes_Holzmann], abgerufen am 25. Oktober 2013.

66 Der Pazifist Kurt Hiller gründete mit Jakob van Hoddis in Berlin den berühmten "Neuen Club", der "Neopathetische Cabarets" veranstaltete, in dem auch Georg Heym und Else Lasker-Schüler auftraten. Hiller schrieb u.a. für "Der Sturm" und dessen Konkurrenten "Die Aktion". Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er mit dem Sexualforscher Hans Giese zusammen; vgl. [http://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Giese] und [http://www.hiller-gesellschaft.de/nb.htm], abgerufen am 25. Oktober 2013.

67 Hans Ehrenbaum-Degele lebte lange Zeit mit Friedrich Wilhelm Murnau zusammen (vgl. [ http://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Ehrenbaum-Degele ], abgerufen am 14. November 2013); im Mai 191 erschienen seine Texte im "Pan". Er wurde von Lasker-Schüler als "Tristan" figuriert.

68 Else Lasker-Schüler in einem Brief vom 15. April 1927 an Paul Goldscheider, siehe KA 8, S. 116.

69 Vgl. [http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Kurrentschrift], abgerufen am 24. Oktober 2013.

70 Vgl. Schuller, Bilder in gezeichneter Schrift, a.a.O., S. 26.

71 Vgl. ibid., S. 26. sowie Henke, Silvia: Fehl am Platz. Würzburg 1997, S. 54. Dies könnte auch mit Derridas Schriftauffassung konstelliert werden.

72 [http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%84gyptische_Hieroglyphen], abgerufen am 15. Oktober 2013.

73 Dies geschieht – mit Susan Sontag gelesen – in einer Form anti-aristokratische Haltung gegenüber Kultur im "vorsätzlichen Camp" als überpointierte Verwendung populärer Symbole, die eine Naivität zitieren und zugleich untergraben; vgl. dazu Sontag, Susan: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. 7. Aufl., Frankfurt/Main 2003, S. 329. Im Unterschied zu Pop-Art erscheint "Camp" als weniger ernst.

74 Vgl. Schuller, Bilder in gezeichneter Schrift, a.a.O., S. 28f.

75 Bodenheimer, Alfred: "Die Traurigkeit überlassen Sie mir". Else Lasker-Schülers Briefe an Emil Raas. In Zeitschrift für Deutsche Philologie. Bd. 116, Berlin 1997, S. 588-602; hier S. 588.

76 Sieh dazu z.B. Lasker-Schülers Text der Postkarte aus München vom 21.05.1911 an Karl Kraus.

77 Sachs, Brita: Oh, wie schön ist Theben. FAZ, Feuilleton [http://www.franz-marc-museum.de/pdf/FAZ_artikel_hochformat.pdf], abgerufen am 6. Oktober 2013.

78 Schmetterling, Astrid: ‚Das ist direkt ein Diebstahl an den Kunsthistorikern'. Else Lasker-Schülers bildnerisches Werk im kunsthistorischen Kontext. In: Dick, Ricarda (Hg.): Else Lasker-Schüler. Die Bilder, a.a.O., S. 159-193; hier S. 173.