Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Mai 2006
 

7.3. Bericht: Das Eigene und das Fremde. Schnittflächen kulturanthropologischer und literaturwissenschaftlicher Fragehorizonte
HerausgeberInnen | Editors | Éditeurs: Andrea Horvath (Universität Debrecen) / Eszter Pabis (Universität Debrecen) / Tamás Lichtmann (Debrecen)

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Die Macht des Todes als soziales Konstrukt auf die Subjektbildung

Izabella Gaál (Universität Debrecen)
[BIO]

 

Nach der Theorie Foucaults strukturieren die Machtverhältnisse den Inhalt des Bewusstseins dadurch, dass sie die Verhaltensweisen normieren. Die Macht kann sogar verinnerlicht werden, die dann das Subjekt von innen steuert. In einem Umbruch wie der Tod, schreibt Waldenfels, wird ein anderes Licht auf die Ordnung der Dinge geworfen und der Überschritt über die bestehende Ordnung hinaus führt ins Unalltägliche.(1) Was geschieht also im Subjekt im Falle eines Grenzphänomens wie dem Tod, der den Gang der Dinge verwirrt? Das Thema dieser Arbeit ist es nachzuforschen, wie die Todesfälle in Joseph Roths Roman Radetzkymarsch die Identität des Protagonisten Franz von Trotta, des beispielhaften Beamten, die soziales Konstrukt seiner Zeit ist, beeinflussen. Bevor man selbst stirbt, wird man mit dem Tod des anderen Menschen konfrontiert. In welchem Maße der Entzug desAnderen die eigene Identität beeinflusst bzw. ihren Zerfall befördert, hängt von der Qualität der Beziehung zwischen dem Verstorbenen und dem Leidtragenden ab, nämlich davon, in welchem Maße der Andere zum Teil des eigenen Selbst geworden ist. Einen je größeren Raum der Andere im Eigenen einnimmt, wodurch der Tod des Anderen als Selbstentzug wirkt, desto weniger offensichtlich wird die Fremdheit des Anderen und desto schwieriger wird es die Spaltung aufzuarbeiten. Es kann zu Wehmut kommen, die dann die eigene Identität zerstört und zum eigenen Tod führt. Es wird auch nachgewiesen, wie der Tod durch Rituale sozial konstruiert ist. Da der Mensch nicht nur eine Privatperson, sondern auch Mitglied mehrerer Gemeinschaften ist, wird sein Tod institutionalisiert und durch Rituale entfremdet.

Franz von Trotta ist der Sohn des Helden von Solferino, Joseph von Trotta, und der Vater Carl Josephs, des letzten Mitglieds der Familie Trotta von Sipolje. "Zwischen dem toten Helden von Solferino und dem unentschiedenen Enkel stand der Vater, der Bezirkshauptmann, Hüter der Ehre, Wahrer des Erbteils."(2). Er ist Vertreter der kaisertreuen und pflichtbewussten Beamtenschicht, die die Werte und den Geist von Alt-Österreich verkörpert. Die völlige Identifikation mit dem Beamtensein prägen die Beziehungen des Bezirkshauptmanns zu seinen Mitmenschen und zu seinem Sohn.

Die Subjektbildung ist nach Foucault das Resultat von Diskursen und von Gegen-Diskursen der Machtverhältnisse, die die Verhaltensweisen normieren. Franz von Trotta hat die Macht sogar verinnerlicht, die ihn dann von innen steuert. Macht muss verstanden werden als eine Multiplizität von ihre eigenen Organisationen konstituierenden Machtverhältnissen immanent in der Sphäre, worin sie funktionieren, als ein Prozess, der durch Konfrontationen transformiert, stärkt oder reversiert; als Unterstützung, durch die diese Machtverhältnisse in einander finden oder, im Gegenteil, Kontradiktionen, die sie von einander isolieren; und als Strategien, in denen sie eine Wirkung ausüben, deren Institutialisation im Staatsapparat, in der Gesetzgebung, in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Hegemonien erscheint.(3) Diskurse konstruieren bei Foucault die Identität des Subjekts. Es gibt dominante Diskurse z.B. Diskurs einer Position, der Familie, der Schule, des Militärs, des Staates usw. Es gibt aber auch Gegen-Diskurse, die das Subjekt verunsichern, sogar verändern können. Sie können auch Macht- und Kräfteverhältnisse verändern. Weedon formuliert das folgenderweise: "Die diskursive Konstituierung von angepassten wie von rebellischen Subjekten ist Teil eines umfassenderen gesellschaftlichen Machtspiels."(4)

Franz von Trotta ist das Produkt seiner Zeit. Die dominanten Diskurse des Kaisertums haben mächtig zur Herausbildung seiner Identität beigetragen. Sowohl in der Familie als auch in der Schule und beim Militär wird ihm beigebracht, wie sich ein Mann als Sohn, Ehemann, Beamter usw. verhalten soll. Er verinnerlicht die entsprechenden Charakterzüge und wird zum Klischee. Er wird zum demütigen Sohn, zum unterwerfenden Ehemann, zum patriarchalischen Vater, zum beispielhaften Beamten, sogar zum Spiegelbild des Kaisers. Diesen Prozess nennt Freud Identifizierung, d.h., man wird zu dem, der man ist, indem man sich mit jemandem identifiziert. Waldenfels formuliert diesen Gedanken vom Gesichtspunkt der Phänomenologie aus, wie folgt: "Auch der Mensch hat seinem Wesen gemäß einen Logos, der allen Menschen gemeinsam ist; je mehr der Mensch sich in seinem Tun und Denken vom Logos leiten läßt, um so weniger unterscheidet er sich von seinen Mitmenschen."(5) Infolge der oben genannten Institutionen, die ihm den gesellschaftlichen Konsens über Männlichkeit, Beamtensein beigebracht haben, ohne dass er das merkt, kommt es bei Franz von Trotta zur Überidentifizierung, d.h., das social self ist alles. Er nimmt Ordnungen wahr, die für ihn vertraut sind und denen er sich fügt. Alles, was außerhalb der Ordnung liegt, die er kennt, erscheint ihm als das Fremde, als etwas Außerordentliches. Franz von Trotta erscheint der Tod, der dem Leben gehört in dem Sinne, dass er das Ende des Lebens ist, als ein Außerordentliches. Man kann nämlich über den Tod keine Erfahrung machen, da - wie es Epikur (341-270 v.Chr.) darstellt - "solange wir hier sind, ist der Tod nicht da, und sobald der Tod da ist, existieren wir nicht mehr".(6) Obwohl Epikur damit eben demonstrieren wollte, dass man vor dem Tod keine Angst haben sollte, erscheint der Tod für den Menschen des modernen Zeitalters als etwas Unzugängliches und in diesem Sinne als fremd.

Der eigene Tod ist für das Subjekt bis zum Exitus nicht zu erfahren. Deshalb hat der Tod einen empirischen Tabucharakter oder - anders ausgedrückt - er ist über die Selbstreflexion hinaus. (7) Martin Heidegger stellt in seinem Werk Sein und Zeit das menschliche Sein als das Sein zum Tode dar. Zur Auffassung des Todes als etwas Fremdes tragen auch die Bestattungsrituale wie die Totenwacht und Trauerfahne, Trauerzeremonie, Traueranzug, Trauerbinde, Trauerschleier, Trauermusik, Leichenwagen, Trauergefolge bei. Der Diskurs der gesellschaftlichen Tradition bestimmt nicht nur die Bestattung und die Kleidung, sondern auch die Lebensführung, das Verhalten, die obligatorischen Worte.(8)(9) Glauben, Rituale, die darauf hinweisen, dass dem Tod eine Bedeutung zugeschrieben wird, unterstützen die Tatsache, dass er ein gesellschaftliches Konstrukt ist. Der Tod ist kein nur individueller Akt, da der Sterbende auch Mitglied einer Sippe und einer Gemeinschaft ist. Denn "auch der Akt des Sterbens ist eine sozio-kulturelle Realität, und die Rede über den Tod ist immer auch eine über das Leben". (10)

In einem Umbruch wie der Tod, schreibt Waldenfels, wird ein anderes Licht auf die Ordnung der Dinge geworfen, und der Überschritt über die bestehende Ordnung hinaus führt ins Unalltägliche. Was geschieht also im Subjekt im Falle eines Grenzphänomens wie des Todes, der den Gang der Dinge verwirrt?

Franz von Trotta wird mit dem Tod sechsmal konfrontiert. Sein erstes Todeserlebnis ist der Tod seines Groβvaters. Dann folgt die Beerdigung seines Vaters, viel später erfolgt der Tod seines treuen Dieners Jaques. Er muss den unheldenhaften Tod seines Sohnes Carl Joseph erleben und er überlebt auch Kaiser Franz Joseph. Das letzte Todeserlebnis ist der eigene Tod. Es ist interessant von Schritt zu Schritt zu verfolgen, wie der Diskurs der unterschiedlichen Todesfälle die Identität des Bezirkshauptmanns verändern.

 

Diskurs des Todes des Anderen

Der Tod des Groβvaters

Franz von Trottas erstes Konfrontation mit dem Tod findet beim Begräbnis seines Groβvaters statt. Obwohl er den Groβvater persönlich nicht kennt, weint er. Er weint aber nicht über den Verlust des Großvaters, sondern wird vom Ritual bewegt.

"Die traurige Musik der Militärkapelle, der wehmütige und eintönige Singsang der Geistlichen, der immer wieder hörbar wurde, wenn die Musik eine Pause machte, der sanft schwebende Weihrauch bereiteten dem Jungen einen unbegreiflichen, würgenden Schmerz. Und die Gewehrschüsse, die ein Halbzug über dem Grab abfeuerte, erschütterten ihn mit ihrer lang nachhallenden Unerbittlichkeit."(11)

Er weint wahrscheinlich darum, weil er, noch Kleinkind, sich der Szene gegenüber als Fremdes fühlt und Angst hat. Der Anblick des aufgebahrten Toten und das Ritual der Bestattung sind etwas Unalltägliches für ihn. Waldenfels stellt unterschiedliche Steigerungsgrade des Fremdseins fest. Der alltäglichen und der strukturellen Fremdheit folgend erreicht die Fremdheit ihre höchste Steigerung in einer radikalen Form. Diese radikale Form erscheint als Grenzphänomen wie auch der Tod, der sich außerhalb der Ordnungen befindet und kaum zu interpretieren ist. (12)

Wie schon erwähnt, sagt das Todesritual etwas über das Leben aus. Der Grad der Feierlichkeit bei der Bestattung teilt den Beobachtern mit, zu welcher Gesellschaftsschicht der Verstorbene gehört, er zeigt die Gröβe, den Reichtum und die Opferbereitschaft der Familie.(13) Das Leichengepränge erreicht den höchsten Grad bei der Bestattung des habsburgischen Herrschers. Die Bestattung des Wachtmeisters drückt aus, dass es hier um einen Toten geht, der im Leben keinen hohen Rang erreichte. Er wurde nur "von acht meterlangen Kerzen und zwei Invaliden Kameraden bewacht ... Eine Ursulinerin betete in der Ecke", schreibt Roth leicht ironisch. (14) Die Zahl der Kerzen ist höher als die der Wächter, was zeigt, dass sein Leben unauffällig blieb. Ein angesehener Verstorbener wird auf einem öffentlichen Platz aufgebahrt, damit die vielen Leute, die ihn kennen, ihr Beileid bekunden können. Der Gendarmeriewachtmeister wird aber im Wohnzimmer aufgebahrt. Außer den zwei Invaliden und der Schwester erscheinen dort nur sein Sohn und sein Enkel.

Die Bedeutung des Todes wird in Europa im 19. Jahrhundert einerseits von den christlichen Kirchen formuliert. Die die Lebensführung der Gläubigen beeinflussende Macht der Kirche kommt auch durch den Diskurs des Todes zur Geltung und führt zu Normativität(15): wer ein gottesfürchtiges Leben lebt, der kann ins Himmelreich kommen und ewiges Leben haben. Wie Foucault schreibt, ist die pastorale Macht seligkeitsorientiert, indem sie den Gläubigen nach dem Tod die Möglichkeit der Seligkeit anbietet, und individualisierend, indem sie sich nicht nur um die ganze religiöse Gemeinschaft kümmert, sondern auch um das Individuum. (16) Der christlichen Tradition entsprechend wird in der Kapelle eine Trauermesse gehalten. Nach der Trauermesse wird der Sarg von sechs Kameraden aus der Kapelle zum Grab getragen. Die Uniformen, die Musik, die gespielt wird und die Gewehrschüsse deuten darauf hin, dass der Tote Mitglied der Gendarmerie war. Mit dem Tod beginnt die Periode der Trauer, stellt Hertz fest.(17) Im Falle von Joseph von Trotta und des jungen Franz von Trotta ist das nicht der Fall. Es ist also angezeigt, die Reaktionen des Erwachsenen mit einander zu vergleichen.

Der Tod des Vaters

Das nächste Begräbnis, dem Franz von Trotta beiwohnt, ist das des Vaters. Dies wird auf demselben Friedhof bestattet wie der Groβvater bestattet ist. Obwohl der Verstorbene eine einfache Bestattung haben will, wird sein Tod enteignet und dem Rang eines hohen Offiziers entsprechend organisiert. Beide Toten, der Wachtmeister wie der Major, werden mit militärischen Ehrenbezeigungen beerdigt. Dem Diskurs der Offiziersehre entsprechend ist das zweite Begräbnis pompöser. Verschiedene Organisationen lassen sich vertreten, der Marie-Theresien-Orden wird auf einem schwarz umhüllten Kissen getragen. Der Diskurs des offiziellen Begräbnisses ist, dass der Selige ein Mann von hohem militärischen Rang ist, der auch am kaiserlichen Hof bekannt ist.

"Eine Wiener Militärkapelle, eine Kompanie Infanterie, ein Vertreter der Ritter des Maria-Theresien-Ordens, Vertreter des südungarischen Regiments, dessen bescheidener Held der Major war, alle marschfähigen Militärinvaliden, zwei Beamte der Hof- und Kabinettskanzlei, ein Offizier des Militärkabinetts und ein Unteroffizier mit dem Maria-Theresien-Orden auf schwarz-behangenem Kissen: sie bildeten das offizielle Leichenbegängnis ... Die Salven, die diesmal abgefeuert wurden, waren stärker und verhallten mit längerem Echo." (18)

Der Unterschied zwischen dem Leichenbegängnis des Großvaters und des Vaters ist offensichtlich und resultiert aus dem Unterschied im Rang. Bei der Bestattung des Großvaters spielt die lokale Militärkapelle, bei der des Vaters eine Militärkapelle aus Wien. Auch die Anzahl der Anwesenden ist viel höher. Wichtige Ämter lassen sich vertreten. Da der Vater Besitzer des Marie-Theresien Ordens ist, sind die Ritter dieses Ordens vertreten, aber auch Vertreter anderer hoher Stellen erscheinen bei der Bestattung, da der Vater der Held von Solferino ist. Während bei der Beerdigung des Großvaters nur ein Halbzug "soldatische Grüße" schießt, werden bei der des Vaters Salven von einer ganzen Kompanie abgefeuert.

Franz von Trotta bleibt diesmal, bei der Beerdigung seines Vaters, Joseph von Trotta, indifferent. Die Kapelle spielt zwar denselben Marsch, er weint aber nicht. Dieses Verhalten entspricht einerseits dem Diskurs der Zeit. Ariés beschreibt das folgenderweise:

"Im Umkreis des Toten bleibt also kein Raum mehr für die großen und langewährenden Wehklagen von ehedem; niemand trägt mehr mit lauter Stimme Lobeserhebungen und Schmerzäußerungen vor wie früher. Die Freunde und die Familie, die schweigsam geworden und verstummt sind, fungieren nicht mehr als die Hauptakteure eines jetzt entdramatisierten Geschehens." (19)

Anderseits erfolgt es aus der Auffassung des männlichen Verhaltens, ein Mann weint nicht, zeigt seine Gefühle nicht. Es stellt sich nicht heraus, ob der Bezirkshauptmann irgendwelche Emotionen hätte. Er wird wohl vom Testament des Vaters enttäuscht gewesen sein.

Das Testament "ein Akt des Privatrechtes, [ist] ausschließlich dazu bestimmt, den Erbgang der hinterlassenen Güter zu regeln."(20) Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts bestand das Testament aus zwei Teilen, einerseits wurde die Erbschaft aufgeteilt, anderseits aus einem Glaubensbekenntnis. Nur der erste Teil des Testaments von Joseph von Trotta wird im Roman dargestellt. Er ist um das Gut gebracht worden und auf das Wohlwollen des Kaisers angewiesen. Der Diskurs des Testaments ist es, dass er einerseits von den Ahnen endgültig getrennt wird; andererseits wird er in die Beamtenschicht endgültig eingebettet. Das Testament verfügt über seine Bestattung, wobei der Vater keinen Pomp haben will. Der Diskurs der Zeit regelt diese Ereignisse anders, wie es schon geschildert wurde.

Da auch das Grabmal ein Symbol der Identität ist, lohnt es sich den Grabstein des Vaters ins Auge zu fassen. "Man setzte ihm einen einfachen, militärischen Grabstein, auf dem in schmalen, schwarzen Buchstaben neben Namen, Rang und Regiment der stolze Beinamen eingegraben war: ‚Der Held von Solferino’"(21). Der Diskurs des Grabsteins scheint mit der Bestattungszeremonie in Widerspruch zu stehen. Die Einfachheit des Grabsteins und die Stelle der Bestattung deuten darauf hin, dass der Verstorbene für die Zeitgenossen keine Persönlichkeit von außergewöhnlichem Ansehen ist. Das Leichenbegängnis teilt den Tod eines hohen Offiziers mit. Der Ruhm der Heldentat scheint vergangen zu sein. Nur noch der Beiname erinnert den Besucher des Friedhofes, dass dort ein Soldat ruht, der eine mutige Tat ausgeführt haben soll.

"Individuell wie gesamtgesellschaftlich ist die Friedhofs-, Denkmals- und Totenkultur daher ein wichtiges Identitätssymbol zur Repräsentation personalen und nationalen Machtprestiges, denn nur das Tote ist für immer einer weiteren Wandlung entzogen."(22)

Grabsteine sind Identifikationsmerkmale. Die Gräberarchitektur und die Grabinschriften tragen zur Unsterblichkeit bei.

Bei der Beerdigung seines Vaters reagiert er als erwachsener Mann selbstständig. Er zeigt seine Erschütterung nicht, wenn es sie überhaupt gibt. Seine Persönlichkeit bleibt unverändert. "Der Sohn [Franz] weinte nicht. Niemand weinte um den Toten. Alles blieb trocken und feierlich. Niemand sprach am Grabe." (23)

Der Tod des Dieners

Jacques, der alte Diener, ist krank geworden. Diese Tatsache wird für den Bezirkshauptmann offensichtlich, wenn er eines Tages die amtlichen Briefe nicht auf dem Frühstücktisch findet. Er denkt, dass die Welt drauβen nicht mehr besteht. Für ihn bedeutet die Krankheit, dass der Tod herannaht, da er selbst nie krank war. "Die Krankheit war nichts anderes als ein Versuch der Natur, den Menschen an das Sterben zu gewöhnen", sagt er. (24)

Der sich annähernde Tod löst einen Wandel in seinem Lebensstil, im Wahrnehmen der Umwelt und in seiner Beziehung zum Diener aus. Seine seit Jahrzehnten praktizierten Gewohnheiten verändern sich. Er isst nicht, er liest seine Post nicht(25)(26), er kommt verspätet ins Büro: "Sehr langsam, mit mehreren unklarenGedanken beschäftigt, schritt Herr von Trotta ins Amt, zwanzig Minuten später als sonst setzte er sich an den Schreibtisch."(27) Er macht das Fenster der Kanzlei an einem warmen Frühlingstag zu und "zum erstenmal, seitdem er in dieser Kanzlei zu arbeiten angefangen hatte, ging er an einem unleugbar warmen Frühlingstag zum Fenster und schloss es."(28), "ließ sich Hut, Stock und Handschule reichen und schritt zu dieser ungewohnten Stunde in den Park, zur Überraschung aller, die sich dort befanden." (29)

Die Krankheit und die Möglichkeit des Todes von Jacques erschüttern ihn, und er nimmt einen Tag Urlaub. Es ist ihm bisher nie eingefallen, auf Urlaub zu gehen. Das erste Mal in seinem Dienstleben erfährt er den Geschmack der Ruhe: "Zum erstenmal, seitdem er im Dienste seines Kaisers stand, tat er am hellichten Wochentag gar nicht ... Zum erstenmal erlebte er einen freien Tag."(30) Wenn er nach der scheinbaren Besserung von Jacques ins Büro zurückkehrt, erfüllt ihn aber Unruhe und er kann nicht mehr arbeiten, sogar "alle Gefahren, von denen der Bezirk W. und die Monarchie bedroht waren, erschienen Herrn von Trotta auf einmal geringer als am Vormittag" (31)

Der mögliche Tod von Jacques, außerhalb der Ordnung, an die er sich gewöhnt hat, macht ihn zum ersten Mal darauf aufmerksam, dass sich die Welt grausamer Weise verändert hat, da es überall Revolutionäre gibt, die den Kaiser nicht mehr respektieren. Alles, was für ihn bisher wichtig und wertvoll war, die Werte, die Teil seiner Identität und die Teile seines Eigenen geworden sind, wie z.B. die Kaisertreue, Pflichterfüllung scheinen keine Bedeutung mehr zu haben. Franz von Trotta hat das Gefühl, dass der Held von Solferino noch einmal stirbt, da Jacques auch der Diener von Joseph Trotta und dadurch auch Zeuge des Familienmythos war. Der Tod von Jacques bedeutet für ihn nicht nur den Tod eines Anderen, sondern auch den Entzug eines Teils seines Eigenen, den Verlust seiner Vergangenheit. Er fühlt nämlich, dass so eine Periode der Familiengeschichte in Vergessenheit gerät. Dieser Gedanke führt ihn zur schrecklichen Möglichkeit des Todes des Kaisers. Er kommt zur Schlussfolgerung: "Nicht nur Jacques war heute krank geworden!"(32) Die ganze Welt scheint krank geworden zu sein.

Der nahe Tod verändert das Verhalten des Bezirkshauptmanns auch Jacques gegenüber. Früher hat er mit ihm nur offiziell gesprochen oder ihm Befehle gegeben. Jetzt lässt er den Bezirksarzt rufen(33). Er ist um Jacques Leben besorgt. "Den Bezirksarzt, der in diesem Augenblick eintrat, fragte Herr von Trotta nach dem Befinden des alten Jacques."(34) Er ist noch stark genug, die Veränderung im Gesicht bei der ärztlichen Mitteilung der drohenden Nachricht nicht zu zeigen. Seine Erschütterung wird aber durch seine Körperhaltung offensichtlich. Er beugt sich nämlich über den Tisch, zieht die Schublade auf, holt Zigarren, bietet sie dem Arzt an, wortlos bietet er ihm Platz an.

Jetzt betritt er Jacques Haus, was er früher nie getan hat. "Herr von Trotta schrieb auf einen Zettel: ‚Ich bin in der Wohnung Jacques, legte das Papier unter einen Briefschwerer und ging in den Hof."(35) Die Umgebung erinnert ihn an die Stube seines Großvaters, was bei ihm eine Art Zusammengehörigkeitgefühl auslöst. Er spricht teilnahmsvoll, sogar vertraut mit ihm, wie mit einem Familienmitglied. Er tröstet den Kranken: "Hast noch lange Zeit!"(36) und später: "’Kommt Zeit, kommt Rat!" sagte der Bezirkshauptmann.’Wir können warten!’"(37)

Jacques ist während der gemeinsam verbrachten Jahre ganz vertraut, sogar Teil seines Eigenen geworden. Es stört ihn nicht, dass Jacques ihn dutzt. "Ich möchte’ das Bild sehn. Ob der sich wirklich verändert hat? Bring’s her, sei so gut, bring’s her!, Bitte, Herr Baron!" (38)

Erst jetzt erfährt er, wie Jacques in Wirklichkeit heißt und dass ihn nur der Vater des Bezirkshauptmanns Jacques genannt hat. Er organisiert die Betreuung von Jacques. Die Hausdame, Frau Hirschwitz, die er von Zeit zu Zeit selbst ablöst, soll bei Jacques wachen. Der christlichen Tradition entsprechend lässt er den Geistlichen und eine barmherzige Schwester holen. Das Erscheinen des Priesters benachrichtigt die Leute auf der Strasse, dass jemand im Hause auf dem Sterbebett liegt. Sogar der früher stolze Bezirkshauptmann zieht den Hut und neigt den Kopf. Die Leute von der Strasse betreten das Haus, um sich nach der Person des Sterbenden zu erkundigen, wodurch der Tod öffentlich wird. Der Bezirkshauptmann betreut den Alten gehorsam.

"Auf seiner gelben, hohen und knochigen Stirn glitzerten winzige Schweißperlchen. Der Bezirkshauptmann trocknete sie von Zeit zu Zeit mit seinem Taschentuch, es kamen aber immer wieder neue. Er nahm die Hand des alten Jacques, betrachtete die rötliche, schuppige und spröde Haut auf dem breiten Handrücken und den kräftigen, weit abstehenden Daumen Dann legte er die Hand wieder sorgfältig auf die Decke, ging in die Kanzlei zurück, befahl dem Amtsdiener, den Geistlichen und eine Barmherzige Schwester zu holen, Fräulein Hirschwitz, inzwischen bei Jacques zu wachen"(39).

Er fühlt sich sogar fröhlich, wenn er dem Wunsch von Jacques folgend das Porträt des Helden von Solferino holt. Den letzten Nachmittag verbringen die Anwesenden zusammen wie eine glückliche Familie. Franz von Trotta ist kein steifer Beamter mehr, sondern ein menschliches Familienhaupt. Dass die Bande der Freundschaft etwas Wertvolles sein können, dass er von nun an der Einsamkeit entgegensieht, so dass seine bisherige Auffassung umgeformt wird, zeigt das Leichenbegängnis. Franz von Trotta bestellt für den Diener ein Leichenbegängnis erster Klasse und kauft ein Grab und einen Grabstein.

"Er schrieb die Anordnungen für die Aufbahrung und das Begräbnis seines Dieners auf einen großen Bogen Kanzleipapier, mit allem Bedacht, wie ein Zeremonienmeister, Punkt für Punkt, Abteilungen und Unterabteilungen. Er fuhr am nächsten Morgen, ein Grab zu suchen, auf den Friedhof, kaufte einen Grabstein [...] und bestellte ein Leichenbegängnis erster Klasse mit vier Rappen und acht livrierten Begleitern."(40)

Und er macht noch etwas Ungewöhnliches:

"Er ging drei Tage später zu Fuß hinter dem Sarg, als einziger Leidtragender, in gebührendem Abstand gefolgt vom Wachtmeister Slama und manchen andern, die sich anschlossen, weil sie Jacques gekannt hatten und besonders weil sie Herrn von Trotta zu Fuß sahen. So kam es, daß eine stattliche Anzahl von Leuten den altenFranz Xaver Joseph Kromischl, genannt Jacques, zu Grabe geleitete."(41)

Das alles widerspricht dem Diskurs der Zeit, da einem Diener das nicht zukommt. Angehörige des gemeinen Volks wurden im Allgemeinen in einem gemeinsamen Grab beerdigt. Auch die Grabinschrift "Hier ruht in Gott Franz Xaver Joseph Kromischl, genannt Jacques, ein alter Diener und ein treuer Freund"(42) ist überraschend, da neben dem Namen noch die folgenden Wörter stehen: "ein alter Diener und ein treuer Freund."(43) Diese Maßnahmen machen für die Beobachter klar, dass der Verstorbene ein wertvolles Leben geführt hat, das vom Leidtragenden geschätzt wird. Er will seine Ehre auch für die Öffentlichkeit zum Ausdruck bringen, was die Veränderung seiner Identität gut prägt. Er scheint nicht mehr bloß ein socialself zu haben. Dass der Tod grundsätzliche Veränderungen in seiner Persönlichkeit ausgelöst hat, zeigt die Tatsache, dass er solch eine Bestattung bestellt und dass er dem Sarg zu Fuss folgt, was für die Leute auf den Strassen ein höchst ungewohnter und unverständlicher Anblick ist.

Die Trauer verursacht bei ihm unendliche Einsamkeit. Er fühlt sich im eigenen Haus nicht mehr zu Hause.

"Von nun an erschien dem Bezirkshauptmann sein Haus verändert, leer und nicht mehr heimisch. Er fand die Post nicht mehr neben seinem Frühstückstablett, und er zögerte auch, dem Amtsdiener neue Anweisungen zu geben. Er rührte nicht mehr eine einzige seiner kleinen, silbernenTischglocken an, und, wenn er manchmal zerstreut die Hand nach ihnen ausstreckte, so streichelte er sie nur."(44)

Waldenfels formuliert diese Erscheinung folgenderweise:

"Die Herausforderung durch ein radikal Fremdes, mit der wir uns konfrontiert sehen, bedeutet, dass es keine Welt gibt, in der wir völlig heimisch sind, und dass es kein Subjekt gibt, das Herr im eigenen Hause wäre."(45)

Manchmal geht er in die Stube von Jacques, als wenn er hoffte, ihn wiedersehen zu können, und reicht dem Kanarienvogel ein Stück Zucker. Erst jetzt empfindet er Sehnsucht nach seinem Sohn. Um seine Einsamkeit zu lösen, entschliesst er sich, beim Sohn Hilfe zu suchen und ihn in der Grenzgarnison zu besuchen. "Eines Tages [...] faßte er einen überraschenden Entschluß. [...] Der Bezirkshauptmann beschloß, seinen Sohn in der fernen Grenzgarnison zu besuchen."(46) Das ist ein weiterer Beweis für den Zusammenbruch seiner früheren Identität. Er pflegte früher mit dem Sohn bloß zu korrespondieren. Carl Joseph durfte ihn während der Schulausbildung nur einmal pro Jahr persönlich besuchen. Der Diskurs zwischen ihnen war eher einem Verhör ähnlich. Die Beziehung zwischen ihnen war eher offiziell als liebevoll.

Der Tod des Sohns

Die Nachricht vom Tod des Sohnes Carl Joseph hat ihm einen Schock versetzt:

"Der alte Trotta las den Brief ein paarmal und ließ die Hände sinken. Der Brief fiel ihm aus der Hand und flatterte auf den rötlichen Teppich. Herr von Trotta nahm den Zwicker nicht ab. Der Kopf zitterte, und der wacklige Zwicker flatterte mit seinen ovalen Scheiben wie ein gläserner Schmetterling auf der Nase des Alten. Zwei schwere, kristallene Tränen tropften gleichzeitig aus den Augen Herrn von Trottas, trübten die Gläser des Zwickers und rannen weiter in den Backenbart"(47).

Der Schock über den Verlust löst die Trauerreaktionen aus, die die Erscheinungen des Schmerzes und der Traurigkeit sind und denen die Trauerarbeit folgt. (48) Der Sinn der Trauerarbeit ist es, dass der Leidtragende die Tatsache des Todes und die dadurch ausgelösten Veränderungen in der Lebensweise, in der gemeinsam vorgestellten Zukunft annimmt, d.h. das Annehmen des Lebens ohne den Verstorbenen.(49) Der Leidtragende, der die Trauerarbeit nicht ausführen kann, wird kein reales Leben führen, er wird sich in Illusionen wiegen. Der Trauerprozess besteht nach Verena Kast aus vier Stadien.(50) Im oben zitierten Abschnitt kann man das erste Stadium sehen, wenn der Trauernde von der Nachricht gelähmt das starke Gefühl nicht bewältigen kann. Es reicht ihm nicht, den Brief nur einmal zu lesen. Er liest ihn ein "paar Mal", als wenn er ihn nicht verstehen könnte oder die Nachricht nicht glauben könnte. Der Schock übt dadurch eine noch stärkere Wirkung aus, dass die Todesnachricht unerwartet über die Post ankommt. Er hat sich auf den Tod des Sohnes nicht vorbereiten können, er hat den Leichnam nicht sehen können. Er hat ihn nicht beerdigen und sich von ihm verabschieden können. Er kann die Rituale, die er im Falle von Jacques ausgeführt hat, nicht mitmachen. Er hat ihn nicht betreut, nicht bewacht, die Bestattung nicht bestellt. Er ist so erschüttert, dass er seine Umgebung nicht einmal wahrzunehmen scheint. "Herr von Trotta schlief sehr wenig. Er aß, ohne zu merken, was man ihm vorsetzte."(51) Dann beginnt er zu weinen. Das verweist auf das zweite Stadium, das unter anderen vom Gefühlsausbruch gekennzeichnet wird. Das dauert aber beim Bezirkshauptmann nicht lange. Er zieht den schwarzen Anzug an, trägt eine schwarze Krawatte und Trauerschleifen. Der sonst wortkarge Beamte teilt den Tod seines Sohnes nicht nur der Hausdame und den Beamten in der Kanzlei, sondern auch den Leuten auf der Strasse mit. "Mein Sohn ist tot, Herr Soundso! Mein Sohn ist tot, Herr Soundso!"(52)

Er hat chaotische Gefühle, die das dritte Stadium kennzeichnen. Er kann nicht mehr gut schlafen.

"In dieser Nacht und in vielen der folgenden Nächte schlief der alte Herr von Trotta nicht. [...] Manchmal träumte der Bezirkshauptmann von seinem Sohn. Der Leutnant Trotta stand vor seinem Vater, die Offiziersmütze mit Wasser gefüllt, und sagte: "Trink, Papa, du hast Durst!" Dieser Traum wiederholte sich oft und immer öfter. Und allmählich gelang es dem Bezirkshauptmann, seinen Sohn jede Nacht zu rufen, und in manchen Nächten kam Carl Joseph sogar einigemal."(53)

Er kümmert sich um nichts, nicht um sich selbst, nicht um die Statthalterei, nicht um die Kriegsnachrichten: "Der Krieg schien Herrn von Trotta wenig zu kümmern"(54), oder:

"Was gingen Herrn Trotta die hunderttausend neuen Toten an, die seinem Sohn inzwischen gefolgt waren? Was gingen ihn die hastigen und verworrenen Verordnungen seiner vorgesetzten Behörde an, die Woche für Woche erfolgten? [...] Sein Sohn war tot. Sein Amt war beendet. Seine Welt war untergegangen"(55), oder:

"Die Nachrichten aus dem Kriege und die verschiedenen außerordentlichen Bestimmungen und Erlässe der Statthalterei kümmerten den Bezirkshauptmann wenig. Längst wäre er ja ohnehin in Pension gegangen. Er diente nur weiter, weil der Krieg es erforderte." (56)

Wenn er doch schläft, träumt er von seinem Sohn. Er weiß, dass er ihn im Leben nie wiedersehen kann, deshalb sucht und ruft er ihn im Traum. Er ruft seinen Sohn jede Nacht, und der kommt. Er verdunkelt sein Schlafzimmer, um die Nächte zu verlängern. Auch nach langer Zeit fühlt er so, als wenn er die Todesnachricht erst erhalten hätte. Er liest den Brief jeden Tag. "Und also war es ihm zuweilen, als lebte er nur noch ein zweites, ein blasseres Leben, und sein erstes und echtes hätte längst vorher beschlossen.(57) Da er die Trauer nicht bewältigen kann, führt er kein reales Leben. Auch die Szene mit Frau Taußig unterstützt diese Tatsache. Lange Zeit nach dem Tod seines Sohnes weigert er sich nicht nach Wien zu fahren, da er hofft, etwas Wichtiges von seinem Sohn zu erfahren. "Vielleicht wußte der Kranke [Chojnicki] etwas Wichtiges vom Leutnant. Vielleicht hatte er dem Vater etwas von der Hand des Sohnes zu übergeben."(58) Während er in der Irrenanstalt wartet, verwischen sich Wirklichkeit und Unwirklichkeit. Es regnet, und er denkt daran, dass die Leiche jetzt nass wird.

Am schwierigsten ist es für die Eltern, wenn ihr Kind stirbt. Durch den Tod des Kindes verlieren sie einen Teil ihrer Identität.(59) Das Leben des Kindes, d.h. eines Anderen wird zum Teil des Eigenen der Eltern. Franz von Trotta ist kein Vater mehr, da er sein einziges Kind verloren hat. Er verliert auch sein Zukunftsbild, da sein Geschlecht keine Fortsetzung mehr haben wird. Das Geschlecht des Helden von Solferino, das aus slowenischen Bauern zum geadelten österreichischen Offzieren geworden ist, ist zu Ende gekommen.

Die Trauerarbeit wird auch dadurch erschwert, dass der Sohn einen unheldenhaften Tod erlitten hat. Er stirbt nicht mit der Waffe, sondern mit zwei Wassereimern in der Hand, in denen er Wasser für seine Soldaten holen will. Vielleicht deshalb träumt er immer, dass Carl Joseph ihm eine mit Wasser gefüllte Offiziersmütze anbietet, da der Vater Durst hat. Zur gleichen Zeit ist das der Sohn, der sich um den Vater kümmert. Die liebenswürdige Gestalt des Sohnes erweckt im Vater das Gefühl der Liebe, das er dem Sohn im Leben nie zeigen konnte. Ihr Verhältnis war eher kalt und offiziell. Jetzt aber denkt der erschütterte Vater:

"Wenn Carl Joseph verrückt worden wäre, statt zu fallen, ich hätte ihn schon vernünftig gemacht. Und wenn ich es nicht gekonnt hätte, so wäre ich doch jeden Tag zu ihm gekommen! Vielleicht hätte er den Arm so grauenhaft verrenkt wie dieser Leutnant hier, den man eben vorbeiführt. Aber es wäre doch sein Arm gewesen, und man kann auch einen verrenkten Arm streicheln. Man kann auch in verdrehte Augen sehen! Hauptsache, dass es die Augen meines Sohnes sind. Glücklich die Väter, deren Söhne verrückt sind!"(60)

Jetzt denkt er nicht mehr daran, dass ein Mann seine Gefühle nicht zeigt, weil es nicht männlich ist. Er würde den Arm des Sohnes gern streicheln und ihn gern betreuen, wenn dieser nur am Leben wäre. Es ist aber jetzt zu spät gut zu machen, dass er den Sohn nicht genug liebte.

Auch am Beispiel der Szene bei den Stranskys kann klar gemacht werden, dass Franz von Trotta mit seiner Trauer nicht fertig wird. Früher hat er seinen Schwager nie besucht, weil dieser nicht ranggemäß geheiratet hat. Auch jetzt weiß er nicht genau, warum er ihn besucht. Es wird aber offensichtlich, dass er den Sohn sehen will. Wenn der Sohn der Familie Stransky eintritt, stellt der Bezirkshauptmann fest, wie stark er hinkt. "Carl Joseph hat nicht gehinkt!", denkt er. (61) Seine Trauer wird nach diesem Treffen noch stärker. Dieser Satz drückt seine Traurigkeit aus, nämlich dass sein Sohn, der gesund war, sterben musste, während der andere Junge, der ein Behinderter ist, lebt.

Er kann nicht ins vierte Stadium der Trauerarbeit kommen, d.h., er ist nicht fähig den Verlust anzunehmen und neue Verbindungen zu entwickeln. Erst wenn er nach Schönbrunn fährt, fühlt er eine gewisse Erleichterung. Er glaubt, dass sein Sohn nicht zufällig gestorben ist. Die Trottas haben den Kaiser gerettet, und dieser kann sie nicht überleben. Sein Sohn ist tot und jetzt kann auch der Kaiser sterben. Das gibt dem Tod des Sohnes einen Sinn.

Der Tod des Kaisers

Franz von Trotta erfährt vom Grafen Choinicki, der in der Irrenanstalt in Wien behandelt wird, dass der Kaiser stirbt. Er fährt nach Schönbrunn. Er betritt das Schloss nicht, sondern bleibt "unter den Leuten des niederen Gesindes"(62). Man kann ihn von den anderen nicht mehr unterscheiden. Der Bezirkshauptmann, der früher in der Paradeuniform mit der Pferdekutsche in Schönbrunn beim Kaiser erschien und den die Diener sich nicht einmal trauten anzusprechen, wird jetzt weder durch seine Kleidung noch durch seine Körperhaltung ausgezeichnet. Er ist einer in der Menge, der auf die Todesnachricht des Kaisers wartet. Die anderen duzen ihn sogar.

"Herr von Trotta nahm den Hut ab. Die umstehenden niederen Hofbeamten hielten ihn für ihresgleichen oder für einen der Brieftr ä ger vom Postamt Schönbrunn. Und der und jener sagte zum Bezirkshauptmann: "Hast du ihn gekannt, den Alten?’"(63)

Das stört ihn aber gar nicht. Der Sohn des Helden von Solferino wartet demütig, mit dem Hut in der Hand. "Draußen unter dem niederen Gesinde wartete Herr von Trotta, der Sohn des Helden von Solferino, den Hut in der Hand, im st ä ndig niederrieselnden Landregen.(64)

Jetzt steht vor dem Leser ein völlig veränderter Franz von Trotta. Er ist ein einfacher Mann geworden, er ist nicht mehr stolz, hochmütig und schneidig. "Herr von Trotta blieb. [...] Man sah ihn nicht. " (65) Seit dem Tod seines Sohnes wartet er auf die Todesnachricht des Kaisers, da er denkt, dass der Kaiser seine Retter nicht überleben kann. Als die Glocken den Tod des Kaisers verkündigten, ging er ungewohnterweise zu Fuß ins Hotel, obwohl es weit von Schönbrunn lag.

"Er ging den ganzen langen Weg zur Stadt, barhäuptig, den Hut in der Hand, er begegnete niemandem. Er ging sehr langsam, wie hinter einem Leichenwagen. Als der Morgen graute, erreichte er das Hotel." (66) Am nächsten Tag fährt er nach Hause. Seine Aufgabe im Leben ist beendet, er legt sich ins Bett und stirbt.

Das unzerstörbare Band zum Kaiser ist mit dessen Tod zerbrochen. Er verliert dadurch nicht nur seinen Herrscher, sondern auch den Teil seines Selbst, das sich mit dem Herrscher identifiziert. Er verliert weiterhin auch den Mythos - nämlich, dass das Lebensziel der Trottas ist, den Kaiser zuschützen -, der sein ganzes Leben prägte, nicht zu sprechen davon, dass auch die vertraute Heimat - die Österreichisch-Ungarische Monarchie- verloren gegangen ist. Die Heimat ist zur Fremdwelt geworden. Er lebt jetzt in einer Fremdwelt, er hat keine Vergangenheit und keine Zukunft und in der Gegenwart keine Ordnung mehr, die eine bestimmte Lebenswelt oder Lebensform entwickeln läßt.

Der eigene Tod

"Ich geh‘ zu Bett, Gnädigste! Ich bin müde.Und er legte sich, zum erstenmal in seinem Leben, bei Tag ins Bett."(67) Er läßt Doktor Skowronnek und den Geistlichen holen. Er will noch den Kanarienvogel von Jacques und das Porträt des Helden von Solferino sehen. Er bittet Dr. Skowronnek, das Bild aus dem Herrenzimmer zu holen. Bevor er aber zurückkehrt, stirbt Franz von Trotta. "Es war der Tag, an dem man den Kaiser in die Kapuzinergruft versenkte."(68) Der Bezirkshauptmann ist zwar alt, aber scheinbar gesund. Er war, in seiner Kindheit ausgenommen, nie krank. Das vierte Stadium der Trauerarbeit bringt für ihn keine Erleichterung, er kann mit seinen Gefühlen nicht fertig werden. Des Kaisers Tod erschwert seinen krankhaften seelischen Zustand. Er will nicht länger leben.

Der Tod kann auch freiwillig gewählt werden. Bei einigen Stämmen, schreibt Szenti(69), war es Tradition, sich in eine Höhle zurückzuziehen und dort zu sterben. Bei dieser Todesart erfolgt zuerst ein seelischer Tod, der vom physischen Tod gefolgt wird. Die Traurigkeit, die Trauer, die Enttäuschung, das aufgegebene Leben, die Erschütterung über das verfehlte Leben können zu Hoffnungslosigkeit und letzten Endes zum Tod führen. Wo die Liebe, der Glaube, das Vertrauen fehlen, dort kann man sich nicht festklammern und kann in den Zustand des Ausgestoßenseins geraten, dessen notwendige Folge der Tod ist.

Franz von Trotta stirbt eigentlich einen psychogenen Tod, d.h., er stirbt allein aus seelischer Ursache. Es liegt weder eine äußere Einwirkung noch eine körperliche Schädigung oder Krankheit vor. Gary Bruno Schmid nennt dieses Ereignis "Tod aus heiterem Himmel" bei Menschen, die aus irgendwelchem Grund den Willen verlieren zu leben. (70)

Warum stirbt Franz von Trotta so von einem Tag auf den anderen? Er hat alles verloren, was für ihn im Leben wichtig war. Erstens hat ihn der Tod des alten Jacques tief erschüttert. Mit dessen Tod hat er einen Teil seiner Identität, die Vergangenheit seiner Sippe verloren. Zweitens hat er seinen Sohn und damit die Zukunft seiner Sippe verloren. Nach Jacques Tod hat er noch Kraft sich an seinen Sohn zu wenden. Obwohl er Sehnsucht nach Carl Joseph fühlt, kann er seine väterlichen Gefühle nicht zum Ausdruck bringen. Der Sohn erscheint ihm als fremd, und er weiß nicht, wie er die Beziehungen zwischen ihnen freundlicher gestalten könnte. Wenn er die Todesnachricht seines Sohnes erhält, verliert er den Halt und seine letzte Hoffnung. Er hat niemanden zu lieben, keine Möglichkeit sich festzuhalten. So verlieren der Dienst wie auch das Leben die Bedeutung für ihn. Drittens liegt die letzte Person, die ihm so nahe steht, der Kaiser, dessen Gnade seinen Vater, ihn selbst und seinen Sohn begleitete, auf dem Sterbebett. Viertens tr ä gt die veränderte politische Situation zur Verschlechterung seines seelischen Zustands bei. Mittlerweile wird es ihm n ä mlich klar, dass die ganze Welt aus ihren Fugen geraten ist. Es gibt Revolutionäre überall in der Monarchie, und auch in der Stadt, wo er wohnt. Die verschiedenen Völker wollen sich nicht mehr zur Monarchie bekennen, sie wollen selbständige Nationalstaaten zustande bringen. Sie gehorchen dem Kaiser nicht mehr. Diese Situation ist für den Bezirkshauptmann völlig fremd. Er kann und will sie nicht mehr verstehen. Nach dem Tod des Kaisers bleibt ihm nichts anderes übrig, als zu sterben.

Von der Bestattung weiß man nur so viel, dass der Bürgermeister eine Grabrede hielt, in der er des Krieges und des verstorbenen Sohnes gedachte. Die Tatsache, dass der Bürgermeister eine Grabrede hält, weist darauf hin, dass der Verstorbene eine angesehene Persönlichkeit der Stadt gewesen ist. Auf Grund des Textes ist es nicht klar, wie viele Leute an der Bestattung teilgenommen haben, man kann aber von der Aufzählung der Blumen darauf schließen, dass trotz des schlechten Wetters zahlreiche Stadtbewohner ihr Beileid bezeugt haben.

"Der Bürgermeister der Stadt W. Hielt eine Rede [...] Indessen rann der unermüdliche Regen über alle entblößten Häupter der um das Grab Versammelten, und es rauschte und raschelte ringsum von den nassen Sträuchern, Kränzen und Blumen."(71)

Zusammenfassend kann man feststellen, dass d as radikal Fremde - wie z.B. der Tod - außerhalb jeder Ordnung liegt und unzugänglich bleibt. Das radikal Fremde kann das Sein unterhöhlen, wie es auf Grund Franz von Trottas Leben ersichtlicht worden ist. Der Tod des Anderen, der als Entzug eines Teils des Eigenen erlebt wird, löst eine völlige Verwandlung des Subjekts aus und kann letzten Endes sogar zum eigenen Tod führen. Das Abbröckeln des social self weist auf folgendes hin - wie das Becker formuliert: "Die Nichtverfügbarkeit des Fremdbestimmten im Eigenen verweist ... auf eine Schicht von Unwillkürlichem und Unbewusstem, auf ein Verhalten zur Welt und Mitwelt, welches sich der vollständig bewussten und freien Kontrolle entzieht."(72) Andererseits kann man am Beispiel der Bestattungsrituale nachweisen, dass der Tod ein soziales Konstrukt ist, denn "auch der Akt des Sterbens ist eine sozio-kulturelle Realität, und die Rede über den Tod ist immer auch eine über das Leben".(73)

© Izabella Gaál (Universität Debrecen)


ANMERKUNGEN

(1) Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden. - Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1997. - S. 64.

(2) Roth, Joseph: Radetzkymarsch. - Köln: Kiepenheuer und Witsch, 1989. - S. 118.

(3) Foucault, Michel : "Method" in: The History of Sexuality: Volume 1. London: Random House Inc. 1979. - S. 334

(4) Weedon, Chistine: Wissen und Erfahrung. Feministische Praxis und poststrukturalistische Theorie. Aus dem Englischen von Elke Hentschel. Zürich/Dortmund. 1990. - S.144f

(5) Waldenfels B.: Op. Cit. - S. 16.

(6) Bölcskei, Gusztáv : A halálon túl. Öt évezred filozófiai és theológiai válaszaiból. (Über den Tod. Philosophische und theologische Antworten aus fünf Jahrtausenden) Hefte des Seminars für Ethik und Soziologie der Reformierten Theologischen Universität zu Debrecen. Debrecen. - 1991. - S. 9.

(7) Berta, Péter: Hatalom, halálkép, normativitás. (Macht, Todesbild, Normativität in Halál és Kultúra. (Tod und Kultur) Hrsg. P. Berta. - Budapest. Janus/Osiris, 2001. - S. 119.

(8) Polcz, Alain: Gyászban lenni. (Trauern). - Budapest: Pont Kiadó, 2000. - S: 14.

(9) Brandt, Reinhard: "Den Tod aber statuiere ich nicht". In: Paul Liessmann (Hrsg.): Ruhm, Tod und Unsterblichkeit. Über den Umgang mit der Endlichkeit. - Wien: Paul Zsolnay Verlag, 2004. - S. 23.

(10) Priester, Karin: Mythos Tod. Tod und Todeserleben in der modernen Literatur. Berlin:Philo, 2001. - S. 14.

(11) Roth, J.: Radetzkymarsch. 1981. S. 21.

(12) Waldenfels, B.: Op. - cit. - S. 36-37.

(13) Lakner, Judit: Halál a századfordulón. (Tod um die Jahrhundertwende). Budapest: História. 1993, S.36.

(14) Roth, J. Op. cit. - S. 20.

(15) Berta P.: Op. cit. - S. 133.

(16) Foucault, M.: The Subject and Power. in Hubert L. Dryfus, Paul Rabinov: Michel Foucault: Beyond Structuralism and Hermeneutics (With an Afterword by and Interview with Michel Foucault): Chicago. ChicagoUP, 1983. - S. 214.

(17) Hertz, Robert: A halál mint kollektív képzet. (Der Tod als kollektive Vorstellung). in: Halál és Kultúra. (Tod und Kultur) Hrsg. Péter Berta. Budapest. Janus/Osiris, 2001. -. S. 11.

(18) Roth, J.: S. 25.

(19) Ariés, Philippe: Geschichte des Todes. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.. 2002 S.212.

(20) Ebenda: S. 243.

(21) Roth, J.: Op. cit. - S. 26.

(22) Bringazi, Friedrich: Robert Musil und die Mythen der Nation. Frankfurt am Main: Lang. 1998. - S.132.

(23) Roth, J.: S. 25.

(24) Ebenda: S. 169.

(25) Ebenda: S. 170.

(26) Ebenda: S. 179.

(27) Ebenda: S. 170.

(28) Ebenda: S. 173.

(29) Ebenda: S.176.

(30) Ebenda: S. 180.

(31) Ebenda: S. 181.

(32) Ebenda: S. 172.

(33) Ebenda: S. 170.

(34) Ebenda: S. 173

(35) Ebenda: S. 173.

(36) Ebenda: S. 178.

(37) Ebenda: S. 182.

(38) Ebenda: S. 178.

(39) Ebenda: S. 175.

(40) Ebenda: S. 184.

(41) Ebenda: S. 184.

(42) Ebenda: S. 184.

(43) Ebenda: S. 184.

(44) Ebenda: S. 184.

(45) Waldenfels B.: Op.cit. S. 17.

(46) Ebenda: S. 185.

(47) Ebenda: S. 391.

(48) Polcz A.:Op. cit. - S. 13

(49) Ebenda: S. 17.

(50) Kast, Verena: A gyász. (Die Trauer) Budapest. T-Twins Kiadó, 1995 - S. 65.

(51) Roth, J.: Op. cit. S. 395.

(52) Ebenda: S. 392.

(53) Ebenda: S. 393.

(54) Ebenda: S. 393.

(55) Ebenda: S. 395

(56) Ebenda: S. 395

(57) Ebenda: S. 395.

(58) Ebenda: S. 396.

(59) Polcz, A.: Op. cit. - S. 7.

(60) Ebenda: S. 397.

(61) Ebenda: S. 399.

(62) Ebenda: S. 399.

(63) Ebenda: S. 400.

(64) Ebenda: S. 401.

(65) Ebenda: S. 402

(66) Ebenda:S. 402.

(67) Ebenda: S. 402

(68) Ebenda: S. 403.

(69) Szenti, Tibor: A kiközösítettek halála..A "woodoo"jellegű halál. (Der Tod der Ausgestossenen. Der "woodoo"-Tod.) In: Alaine Polcz: Letakart tükör. Halál, temetkezés, gyász. (Der abgedeckte Spiegel Tod, Bestattung, Trauer.) Budapest: Helikon, 2001. - S. 31-53.

(70) Schmid, Gary Bruno: Todesursache: Gebrochenes Herz. Das Geheimnis psychogener Todesfälle. Wien, New Wien, New ork: Springer, 2001. http://ppfi.de/buchbesp/schmid00.htm

(71) Roth, J: Op.cit. S. 403.

(72) Becker, Barbara.: S.11

(73) Priester, Karin (2001): Mythos Tod. Tod und Todeserleben in der modernen Literatur. Berlin: Philo. S. 14.


7.3. Bericht: Das Eigene und das Fremde. Schnittflächen kulturanthropologischer und literaturwissenschaftlicher Fragehorizonte

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For quotation purposes:
Izabella Gaál (Universität Debrecen): Die Macht des Todes als soziales Konstrukt auf die Subjektbildung. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/07_3/gaal16.htm

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