Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Juli 2005
 

7.4. Tradition und Innovation. Die Anwendung von 1001 Nacht als Medium der politischen und sozialen Kritik in der europäischen und der arabischen Literatur / Tradition and Innovation. Applying the stories of 1001 Nights as a medium for political and social criticism in European and Arab literature
Herausgeberin | Editor | Éditeur: Haimaa El Wardy (Humboldt-Universität, Berlin / Ain Schams Universität, Kairo)

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"Tradition und Innovation". Die Anwendung von 1001 Nacht als Medium der politischen und sozialen Kritik in der europäischen und der arabischen Literatur

Haimaa El Wardy (Ain Schams Universität, Kairo)
[BIO]

 

Zu den wichtigsten Werken der arabischen Literatur, die eine enorm große Wirkung auf die deutsche und im Allgemeinen auf die europäische Literatur im 18. und im 19. Jh. hatte, gehört das volkstümliche Märchenbuch "Tausendundeine Nacht". Kein Werk der orientalischen Literatur hat in Europa eine solche Berühmtheit erlangt wie dieses.

Der arabische Titel für diese Märchensammlung ist "Alf Laila wa Laila", wörtlich übersetzt Tausendundeine Nacht. In der englischen Übersetzung der Gallandschen französischen Version im 18. Jh. trägt sie aber den Titel "The Arabian Night’s Entertainment", "Die arabischen Nachtunterhaltungen", der in den späteren englischen Übersetzungen und Nachschlagwerken erhalten blieb.(1)

Es ist schwierig, den Ursprung, die literarische Gattung und den Anfang der Niederschrift für diese Geschichten genau zu bestimmen., denn tatsächlich existierte in Arabien oder im gesamten Orient nie eine vollständige Originalsammlung von 1001 Nacht, sondern es wurden immer wieder bis ins frühe 19.Jh. dem ursprünglichen Korpus, das wiederum auf älteren Sammlungen basiert, andere Geschichten hinzugefügt, und auf diese Weise änderte sich im Laufe der Zeit der Geschichtsbestand dieser Sammlung immer.

Die Geschichten von Tausendundeiner Nacht haben ihren Ursprung in diversen Ländern des Orients, vor allem in Indien, im Irak, in Persien, in Ägypten und in Syrien. Was diesen verschiedenen Sammlungen und Titeln gemeinsam ist, sind sowohl die Andeutung eines unendlichen Buches mit unzähligen Geschichten, die dem Titel zu entnehmen sind, als auch das Loskauf-Motiv, das in der Rahmengeschichte von dem König Schehrijar und seiner Frau Königin Schehrezad (Scheherezade) erschienen ist. Die Rahmengeschichte aus dem buddhistischen Erzählgut(2) berichtet von dem König Schehrijar, der seine erste Frau umbrachte, weil er ihre Untreue entdeckt hatte. Aus Zorn über den Betrug der ersten Frau und zugleich aus Angst vor weiteren sexuellen Betrugsmanövern entscheidet der König, sich jede Nacht mit einer neuen Jungfrau zu vermählen, die er am nächsten Morgen enthaupten lässt. Nach einer Weile bietet sich auf ihren eigenen Wunsch die Tochter des Wesirs gegen den Willen ihres Vaters als die nächste Braut des Königs an. Schehrezad rettet sich selbst und andere Frauen im Reich des Königs Schehrijar durch ihre niemals abgeschlossenen Geschichten, mit denen sie den König drei Jahre lang fasziniert und zurückhält. ‘1001 Nacht’ lang verschiebt sie durch ihre Erzählungen ihr Todesurteil. Am Ende wird sie Mutter von drei Kindern von Schehrijar, und der König widerruft ihr Todesurteil.

Die erste Übersetzung von 1001 Nacht in eine europäische Sprache war die französische Übersetzung des französischen Orientalisten Jean-Antoine Galland (1646-1715), die zwischen 1704-1717 in zwölf Bänden erschienen ist.(3) Alle späteren Übersetzungen bis zum ersten Drittel des 19. Jh. lehnten sich an die Übersetzung von Galland, die vor allem dem französischen und europäischen höfisch-aristokratischen Geschmack zu dieser Zeit entsprach, und nicht an das arabische Original. Sex, Derbheit und Grausamkeiten in 1001 Nacht formte er meist rationalisierend um. Erst im 19 Jh. gab es Übersetzungen von 1001 Nacht in anderen europäischen Ländern, die auf dem arabischen Originaltext beruhten. Die erste deutsche Übersetzung war von Gustav Weil. Sie entsprach wie die französische dem Moralgefühl der Großbürger und sonderte deshalb die vulgären, derben Geschichten, die einen erotischen Charakter haben, aus der Sammlung aus. Die englischen Übersetzungen dagegen von John Payne (1882- 1884) und von Richard Burton (1885), die im 19.Jh.als Standardwerke in den Bibliotheken der Gebildeten in England galten(4), betonten bewusst den erotischen Charakter der Sammlung. Diese Übersetzungen zeigen vor allem den Wandel der europäischen Einstellung in dieser Hinsicht. Im 20. Jh. nahm das Interesse an der Sammlung ab und deshalb hörte die Welle der Übersetzungen teilweise auf. Bemerkenswert ist die deutsche Übersetzung des Tübinger Arabisten Enno Littmann (1875-1958), der zu Beginn des 20. Jh. die vollständige Sammlung von Tausendundeiner Nacht aus dem Arabischen ins Deutsche übertragen hat, ein relativ getreues Bild der arabischen Welt bot und deshalb bis heute von Fachleuten und Lesern hoch gelobt wird. Insgesamt gibt es bis heute neun Übersetzungen von 1001 Nacht in europäische Sprachen, zwei auf Französisch von Galland und Mardus, drei auf Englisch von Burton, Lane und Payne, drei auf Deutsch von Max Hennig, Gustav Weil und Enno Littmann und eine auf Spanisch von Cansinos-Asséns.(5)

Die frühesten auf Arabisch gedruckten Ausgaben im Orient gehen auf das 19.Jh. zurück (Kalkutta 1814- 1818; Bulak 1835). Der Grund für die späte Erscheinung der Drucke von "Alf Laila wa Laila" im Orient ist darauf zurückzuführen, dass die Sammlung Jahrhunderte lang im arabischen Orient als Trivialliteratur abgewertet wurde, weil sie nicht in der Hochsprache, sondern in der einfachen, schlichten gesprochenen Sprache dieser Zeit, dem Mittelarabischen abgefasst war und deshalb von den arabischen Intellektuellen unterschätzt und nicht für echte Literatur (Adab; Hochliteratur) gehalten wurde. Eine große Zahl der Geschichten von Tausendundeiner Nacht gehört der orientalischen Volksliteratur an, die meistens von professionellen Berufserzählern produziert wurde, die im arabischen Mittelalter kein hohes Ansehen hatten, weil das Geschichtenerzählen damals als eine ziemlich minderwertige und leicht anrüchige Tätigkeit galt. Solche Geschichtenerzähler seien, so Robert Irwin, bis gegen Ende des 19. Jh. in verschiedenen arabischen Städten sehr häufig anzutreffen gewesen und hätten oft Geschichten aus Tausendundeiner Nacht erzählt.(6) Robert Erwin beschreibt den Stand solcher Erzähler im Folgenden:

"Er konkurrierte mit Schlangenbeschwörern, Gauklern und hausierenden Quacksalbern um die Aufmerksamkeit und das Geld des Volks."(7)

Es ist wahr, dass einige Geschichten von 1001 Nacht als nahezu kindlich naiv, ohne rationale Begründung, sehr schlicht und derb erscheinen, allerdings beanspruchen etliche Geschichten in 1001 Nacht einen hohen Wert und sind als "kunstvoll konstruierte, raffiniert erdachte Fiktionen"(8) zu bezeichnen.

Die frühesten arabischen Drucke von 1001 Nacht im 19. Jh. erfolgten aufgrund des europäischen Interesses an der Gallandschen Übersetzung "Les Mille et Une Nuit", und sind als Reaktion auf die romantische Bewegung in Europa zu verstehen, mit der der Orient voll in das Bewusstsein der Europäer trat.

Die arabischen Intellektuellen und Schriftsteller Ende des 19.Jh., die politisch engagiert waren und mit ihren Werken gegen den Kolonialismus und die korrupten Regierenden kämpften, suchten aus Furcht vor einer drohenden kulturellen Überfremdung nach den Werten und Blütezeiten der eigenen Literatur und Kultur und stießen dabei zwangsläufig auf Tausendundeine Nacht. Die Schriftsteller empfingen ihre Inspiration aus dem mythischen, volkstümlichen, literarischen, geschichtlichen und religiösen arabischen Erbe und verwendeten es schöpferisch. Das half dabei, der modernen arabischen Literatur einen besonders innovativen Charakter zu verleihen. Die Anwendung literarischer Techniken der internationalen Literaturmoderne auf der einen Seite und die Inspiration durch das arabische Erbe auf der anderen Seite waren zwei Schlüssel zum Erleben der modernen arabischen Literatur, die inzwischen reich an Phänomenen des Zusammenspiels arabischer wie internationaler Elemente war. So wurden Motive und Stoffe von 1001 Nacht in den Theaterstücken des 19.Jhs. und später in den Romanen, Erzählungen und Dramen der 30er und 40er Jahre des 20. Jhs. aufgenommen und bearbeitet. Die Vertreter der modernen arabischen Literatur, die meistens einen großen Teil ihrer akademischen Ausbildung in Europa und besonders in Frankreich erworben hatten(9) und die daher fühlten, dass ihnen eine Verantwortung bezüglich der Veränderungen und Reformen auferlegt wurde, hoben in ihren literarischen und essayistischen Beiträgen die sozialen und politischen Missstände indirekt hervor und bewirkten allmählich einen Demokratisierungsprozess im Bildungswesen. Durch die Entstehung des arabischen Zeitungswesens und die Entwicklung der modernen Schriftsprache breitete sich das Lesepublikum in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der arabischen Welt aus, und so wurden Literatur, Kultur und Bildung nicht mehr das Privileg einer winzigen Elite. Die Märchensammlung von 1001 Nacht wurde von den arabischen Schriftstellern im 20.Jh. wieder entdeckt, nämlich durch ihre Verwendung der Symbolik des Kunstmärchens, um sich mit aktuellen brisanten politischen Themen auseinanderzusetzen.

Das Märchen - als eine beliebte literarische Gattung in Arabien - wurde immer von verschiedenen arabischen Schriftstellern und Intellektuellen als Medium der Gesellschaftskritik und der Herrschaftskritik bevorzugt, weil es nicht historisch konkret und durch freie Beweglichkeit in Raum und Zeit und durch Verallgemeinerung gekennzeichnet ist. Ein weiterer Grund für die Bevorzugung des Märchens als Medium, vor allem, um Einsichten in soziale, politische und wirtschaftliche Ungerechtigkeiten zu vermitteln, liegt darin, dass die von den Autoren erzählten politisch motivierten Märchen meistens von der Obrigkeit geduldet werden und daher dem Verbot durch die Zensur und der Beschlagnahme entkommen. Zahlreiche arabische Autoren sind, im Gegensatz zu manchen anderen Ländern, nicht als Schriftsteller ins Gefängnis gekommen, sondern als politische Aktivisten, wie zum Beispiel die ägyptischen Autoren Edwar al-Charrat und Jussuf Idris. Deshalb versuchten die anderen Schriftsteller, die Konfrontation mit der Obrigkeit zu vermeiden und ihre politisch engagierten Werke mit einem harmlosen Charakter zu verkleiden.

Da den arabischen Schriftstellern - wie schon erläutert- die Möglichkeit einer offenen und deutlichen Kritik an der Obrigkeit entzogen wurde, wandten sich prominente Autoren bewusst Symbolen, Anspielungen und Motiven aus 1001 Nacht zu, um die korrupte Macht zu kritisieren. Die Gestalt von Scheherzade, einer unterlegene Frau, die durch ihre Phantasie den grausamen König Schehrijar überlistet, wurde als Symbol des freien Denkens und der schöpferischen Phantasie von den Autoren verwendet.

Das 18. Jahrhundert galt als eine bedeutende Phase in der Entwicklungs- und Wahrnehmungsgeschichte der Märchendichtung in Europa. Die Tatsache, dass das Märchen vor dem 18. Jh. einer Bedeutungsminderung und literarischen Abschätzung unterlag und nur als erfundene, unwahre Geschichte oder sogar Lüge gedeutet wurde, begründet die Bedeutung des 18. Jh., in dem die Gegenbewegung und Wandlung in der Wahrnehmung des Märchens einsetzten. Diese Gegenbewegung, die das Märchen als literarische Erzählgattung und Quelle der Poesie gewertet hat, ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen. Einer der wichtigsten Gründe dafür war der große Erfolg der französischen Übersetzung von 1001 Nacht durch Galland (1704-1717). Diese Übersetzung der berühmten arabischen Märchensammlung galt in Europa als eine wichtige "sozial-historische Quelle für den Vorderen Orient im Mittelalter und in der frühen Neuzeit"(10), weil sie ein relativ wahres Bild des Privatlebens der einfachen Menschen im mittelalterlichen Arabien und in der islamischen Unterschicht vermittelt.

Die Übersetzung von Galland im 18. Jh. und die darauf folgenden Übersetzungen in andere europäische Sprachen im 19. Jh. haben dazu beigetragen, dass viele deutsche und europäische Dichter durch 1001 Nacht ästhetisch und literarisch inspiriert wurden. In ihren Werken versuchten sie, an das Erzählgut und an die Erzähltradition von 1001 Nacht anzuknüpfen. Allerdings wurde die in 1001 Nacht zur Darstellung gebrachte orientalische Welt von westlichen Autoren nicht bruchlos übernommen, sondern vielfältig modifiziert und abgewandelt. Der Grund dafür besteht darin, dass zahlreiche europäische Schriftsteller den Orient gar nicht aus eigener Anschauung, vielmehr nur aus der Literatur kennen, so dass man von einem tendenziell literarisch erzeugten Orientbild sprechen muss. In Ermangelung fundierter Kenntnisse über die Länder des Nahen und Mittleren Ostens war die Versuchung groß, die Geschichten, die sich um den grausamen Herrscher und die schöne, kluge Scheherazade rankten, als Abbild der dort existierenden Realität anzusehen. Dazu kommt, dass sich meistens der Begriff "Orientbild" in den Werken der europäischen Schriftsteller als ein ideologisches Konstrukt erweist, indem, anstatt das Gesicht des Anderen zur Erscheinung zu bringen, hinter der Maske des Fremden die Fratze des Eigenen sichtbar wird. Am "Orient" als einem geographisch und kulturell fernen Schauplatz konnte stellvertretend Kritik an sozialen und politischen Verhältnissen in Europa geübt werden, wenn offene, direkte Kritik zu gefährlich war. Das gilt vor allem für den satirischen Briefroman des französischen Staatstheoretikers Charles de Montesquieus "Lettres Persanes" (1721, Persische Briefe), in dem er die politischen, sozialen und religiösen Verhältnisse in Frankreich schilderte, wie sie von zwei persischen Reisenden wahrgenommen wurden. Das Werk ist eine sarkastische, halb romanhafte Darstellung französischer und europäischer Verhältnisse in Form einer fiktiven Korrespondenz zweier Perser, die Frankreich bereisen. Der Abstand der Fremden, deren Urteile wiederum fragwürdig erscheinen, lassen das geistvolle Buch zu einem frühen Beispiel des Kulturrelativismus werden. Die fremden Besucher beschrieben eine Gesellschaft, die sich durch eine "universale Künstlichkeit" auszeichnete. Montesquieu wollte damit die gesellschaftlichen und politischen Zustände unter Ludwig XIV. scharf kritisieren. Auch der französische Schriftsteller Voltaire (1694-1778), der als der bedeutendste französische, vielleicht sogar europäische Autor und geistige Großmacht des 18. Jh.s gilt, formuliert in seinen Werken, allen voran "Candide" (1759) und "Der Fanatismus oder der Prophet Muhammed", den Wunsch nach mehr Toleranz und weniger Fortschrittsgläubigkeit und geißelt den Dogmatismus des Christentums. Voltaire zielte mit dem Begriff "Fanatismus", der für ihn gleichbedeutend ist mit "Aberglauben", vor allem auf den unaufgeklärten Obskurantismus der katholischen Kirche. Das Orientbild bei ihm war eine Kulisse, ein Handlungsort für didaktische Parabeln, Lehrstücke über die Grenzen und Möglichkeiten der Vernunft.

Der "Orient" hat also einerseits der Phantasie einiger Autoren eine Traumwelt eröffnet, andererseits bot er durch die Ferne des Orts anderen Autoren die Möglichkeit, ihn als Projektionsfläche eigener Wünsche zu missbrauchen. Der "sinnliche Orient" der Harems und polygamen Paschas bot ab dem 19. Jahrhundert ein Ventil für die eigene unterdrückte und tabuisierte Sexualität. So konnten die engen Grenzen der in Europa herrschenden bürgerlich-monogamen Familie, die einer strikten religiösen Moral unterworfen und in der die Sexualität nur mit der Pflicht zur Fortpflanzung verbunden war, zumindest in Kunst und Literatur überwunden werden. Das gilt auch vor allem für die Malerei des 19. Jh.s, deren gesamte Bilder vom Orient mit den bevorzugten Motiven der Harems oder schwülen Szenen im Bad rein konstruiert und erfunden sind. Diese Tatsache macht die Auseinandersetzung mit dem Orientbild in den westlichen Literaturen erheblich schwieriger, vor allem in den Prosawerken des 18. und 19. Jh., die sich an den Märchen aus 1001 Nacht orientierten, ohne das in ihnen aufscheinende Bild vom Orient bloß oder blind zu übernehmen. Deshalb ist es von Bedeutung, bei unserer Darstellung der Einwirkung von 1001 Nacht auf die literarischen Werke deutscher bzw. europäischer Dichter die Erzählintentionen der Autoren und die herrschenden geistigen Ideologien in den verschiedenen literarischen Epochen in Betracht zu ziehen.

Wie bereits erwähnt war Gallands französische Übersetzung der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht im 18. Jh. lange Zeit die einzige Quelle auch für deutsche Bearbeitungen, Adaptationen oder Erweiterungen der morgenländischen Märchen, man denke etwa an Johann Gottlieb Schummel oder Johann Heinrich Voss. Christoph Martin Wieland(11) hat die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht nicht nur in seiner Märchensammlung Dschinnistan, oder auserlesene Feen- und Geister-Mährchen (1786), sondern auch in zahlreichen seiner Romane und Verserzählungen seit der Mitte des 18. Jh.s intensiv verarbeitet und weitergesponnen. Auch Johann Gottfried Herder und Johann Wolfgang Goethe(12) wären hier zu nennen, ebenso wie Ludwig Tieck, Friedrich Schlegel oder Wilhelm Hauff. Werke des sprachgewaltigen Friedrich Rückert oder das Versepos Die Abassiden (1835) von August von Platen vertiefen das Bild des romantischen Orients, das wesentlich aus den Erzählungen von Tausendundeiner Nacht speist. Die angefangene Liste ließe sich beliebig bis in unsere Gegenwart fortsetzen.

Das Interesse an der orientalischen Märchensammlung von Seiten der europäischen Autoren nahm aber im 20 Jh. ab. Trotzdem kann man etliche Beispiele für europäische Autoren finden, die ihre Werke dem Erzählstil von 1001Nacht angeglichen haben. Borges erwähnt in seinem Aufsatz über 1001 Nacht als Beispiele zwei englische Autoren, die bestimmte Themen, Gestalten und Motive aus Tausendundeiner Nacht aufgegriffen haben. Es handelt sich um Stevenson, der in seinem Werk "New Arabian Nights" das Thema des maskierten Prinzen aufgenommen hat, der "in Begleitung seines Wesirs die Stadt durchwandert und seltsame Abenteuer erlebt."(13) Obwohl sich die Geschehnisse dieses Werkes in London abspielen, erscheint die Stadt London in den Handlungssträngen als eine arabische Stadt, nämlich als Bagdad, aber es gleicht "nicht dem Bagdad der Realität, sondern dem Bagdad von Tausendundeiner Nacht."(14)

Den anderen Autor "Chesterton", der auch Motive aus der Sammlung bearbeitet hat, beschreibt Borges als "Stevensons Erben" und meint:

"Das Phantastische London, in dem sich Father Browns Abenteuer und die des Mannes, der Donnerstag war, ereignen, gäbe es nicht, wenn Chesterton nicht Stevenson gelesen hätte. Und Stevenson hätte seine New Arabian Nights nicht geschrieben, wenn er nicht Tausendundeine Nacht gelesen hätte."(15)

Tausendundeine Nacht bleibt also immer die unerschöpfliche Quelle der ästhetischen und literarischen Inspiration für Dichter, Romanciers und Denker sowohl aus dem Orient als auch aus dem Okzident und die literarische Brücke, die zwei verschiedene und sogar gegensätzliche Kulturen verbindet.

© Haimaa El Wardy (Humboldt-Universität, Berlin / Ain Schams Universität, Kairo)


ANMERKUNGEN

(1) Wie z.B. Grunebaum, Gustave E. v., ,,Greek Form Elements in the Arabian Nights", in: Journal of die Royal Asiatic Society 1942, S. 277-292; Pinault, David: Story-Telling Techniques in the Arabian Nights, Leiden: Brill,1992

(2) Vgl. Walther, Wiebke: "Alf Laila wa-Laila", S. 98.

(3) Ebd., S. 98.

(4) Vgl. Irwin, Robert: Die Welt von Tausendundeiner Nacht, S. 8.

(5) Die neueste Übersetzung von 1001 Nacht ist die im Jahr 2004 erschienene deutsche Übersetzung von Claudia Ott im C.H. Beck Verlag, und umfasst 688 Seiten.

(6) Vgl. Borges, Jorge Luis: "Tausendundeine Nacht", S. 123.

(7) Irwin, Robert: Die Welt von Tausendundeiner Nacht, S. 136.

(8) Ebd., S.11.

(9) Wie z.B. die beiden ägyptischen Schriftsteller Taufik El- Hakim (1898- 1987 ), und Taha Husain (1889-1973).

(10) Irwin, Robert: Die Welt von Tausendundeiner Nacht, S. 12.

(11) Unter der Überschrift "Zauberlandschaften nach 1001 Nacht" erwähnt Moustafa Maher nicht nur Wielands ‘Oberon’ und ‘Der goldene Spiegel’, sondern auch Langbeins ‘Die Wunderlampe’ und Oehlenschlägers ‘Aladdin’ (vgl. Moustafa Maher Ali Ragheb, Das Motiv der orientalischen Landschaft in der deutschen Dichtung von Klopstocks ‘Messias’ bis zu Goethes ‘Divan’, Düsseldorf 1962, S. 97ff.).

(12) Goethes Kenntnis der arabischen Welt und der arabischen bzw. der islamischen Literatur beschränkte sich nicht nur auf den Koran und die vorislamische bzw. islamische Dichtung. Zu den wichtigsten Werken der arabischen Literatur, die eine enorm große Wirkung auf Goethes literarische Produktion hatte, gehört das volkstümliche Märchenbuch "Tausendundeine Nacht"; Goethe liebte lebenslänglich die Erzählungen der 1001 Nacht, die ihm durch die Mutter und die Großmutter seit früher Kindheit vermittelt worden waren. Die Gestalt von Scheherezade bildete für Goethe ein Motiv in einigen seiner Gedichte, die auch mit der Nennung des Namens der Scheherezade verbunden sind. Man erhält ein völlig neues Bild von Goethes Erzählkunst, wenn man seine tiefe Beziehung zu ‘1001 Nacht’ betrachtet, die leider bisher meist übersehen wurde. Ganz bewusst verglich Goethe sich nämlich als Dichter und als Erzähler immer wieder mit Scheherezade. Dieser Vergleich lässt sich an verschiedenen Zügen feststellen, die seine Märchendichtung enthält und die auf ‘1001 Nacht’ beruhen.
In ihrem Buch ,,Goethe und die arabische Welt" zählt Katharina Mommsen die Werke Goethes auf, in denen die Spuren von ‘1001 Nacht’ zu finden sind:
"Dies gilt von den Märchen Der neue Paris und Die neue Melusine ebenso wie von dem Märchen in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In Wilhelm Meisters Wanderjahren spielt der Dichter ganz deutlich auf Aladdin und die Wunderlampe und auf den Barbier von Bagdad an. Für die Schlußpartie der Wahlverwandschaften hat Goethe die ‘1001 Nacht’-Erzählung von Abdulhassen und Schemselnihar zur Vorlage gedient, während er für seine Novelle das Märchen vom Prinzen Achmed und der Fee Paribanon verwendete.", In: Mommsen, Katharina: Goethe und die arabische Welt. Insel Verlag, Frankfurt/Main 1988. S.22., Vgl. auch dazu: Mommsen, Katharina: Goethe und 1001 Nacht. Akademie -Verlag, Berlin 1960.S.1., S. 228.

(13) Borges, Jorge Luis: "Tausendundeine Nacht", S. 131.

(14) Ebd. S. 131.

(15) Ebd. S.131.


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Haimaa El Wardy (Ain Schams Universität, Kairo): "Tradition und Innovation". Die Anwendung von 1001 Nacht als Medium der politischen und sozialen Kritik in der europäischen und der arabischen Literatur. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/07_1/elwardy16.htm

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