Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Juli 2005
 

7.4. Tradition und Innovation. Die Anwendung von 1001 Nacht als Medium der politischen und sozialen Kritik in der europäischen und der arabischen Literatur / Tradition and Innovation. Applying the stories of 1001 Nights as a medium for political and social criticism in European and Arab literature
Herausgeberin | Editor | Éditeur: Haimaa El Wardy (Humboldt-Universität, Berlin / Ain Schams Universität, Kairo)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Das Herrscherbild Harūn al-Raschīds in 1001 Nacht

Herrscherideal oder ambivalenter Charakter?

Lilli Kobler (FU Berlin)
[BIO]

 

Einleitung

"The name of the Caliph Haroun AlRaschīd is inseparably associated with the most charming collection of stories ever invented for the solace and delight of mankind. Whether there ever was any "Aaron the Just" in the flesh - whether he is not as legendary as King Arthur - it seldom occurs to the odrinary reader to inquire. The stories belong to all time and to no time."

Dieses Zitat aus dem Vorwort zu E.H. Palmers Buch "Haroun AlRaschīd: Calif of Bagdad" aus dem Jahr 1881 zeigt, was für eine wichtige Position der Abbasidenkalif Harūn al-Raschīd in den Geschichten von 1001 Nacht hatte und dass er keiner Zeit und keinem Ort mehr angehörte, sondern zu einer Legende mit historischen Wurzeln geworden war. Die Frage ist, wie eine historische Person zur Legende wird, wie Geschichte und historische Anekdoten in einer Sammlung wie 1001 Nacht verarbeitet werden und was sich für ein Herrscherbild von Harūn al-Raschīd dadurch ergibt.

Auch Wiebke Walther nennt Harūn al-Raschīd in ihrer Einführung zu 1001 Nacht eine "Verkörperung des patriarchalischen, sehr menschlichen und launenhaften Herrschers" (Walther, 1987, 77). Bei ihr taucht der Märchenstereotyp des "gerechten Herrschers", eines "Mann[s] aus dem Volk" auf (Walther, 1987, 77). Auch sie bezeichnet das Bild, welches von ihm in 1001 Nacht gezeichnet wird als "Idealgestalt" und "Legende" (Walther, 1987, 78), stellt dieses Bild des historischen Harūn al-Raschīds jedoch in Frage.

El-Hibri spricht von dem "legendary image of the caliph that arises from the entertaining tales of The Thousand and One Nights", welches für ihn seinen Ursprung schon in historischen Quellen besitzt. Er macht das legendäre Image des Kalifen an mittelalterlichen, islamischen Anekdoten fest, die sich in 1001 Nacht widerspiegeln (El-Hibri, 1999, 21).

Die Sekundärliteratur beschreibt Harūn al-Raschīd als Verkörperung der Idealgestalt eines Herrschers in 1001 Nacht, auch wenn das historische Herrscherbild als Ideal in Frage gestellt wird. Nachdem ich in dieser Arbeit die Problematik der Transformation von der Geschichte zur Fiktion thematisiert habe und die weit verbreitete Ansicht des Herrscherbildes in 1001 Nacht charakterisiert habe, will ich versuchen anhand einer Beispielgeschichte aufzuzeigen, dass auch 1001 Nacht ein ambivalentes Licht auf den Kalifen wirft.

Die Frage ist, ob diese Ambivalenz, diese Charaktereigenschaften und Verhaltensmuster zum Herrscherideal des islamischen Mittelalters gehören. Findet man beim genaueren Analysieren nicht in den Geschichten von 1001 Nacht Beispiele, die den idealisierten Eigenschaften des Herrschers widersprechen? Zeichnet die Sekundärliteratur ein zu idealisiertes Bild dieses Herrschers?

 

Von der Geschichte zur Fiktion

Muhsin Mahdi charakterisiert die Transformation, die von der Geschichte zur Fiktion stattfindet (Mahdi, 1995, 165), aber auch von Generation zu Generation und von Ort zu Ort. Seiner Meinung nach wird im Kontext von 1001 Nacht viel zu oft ignoriert, dass eine ständige Transformation der Geschichten stattfindet, wenn sie wieder und wieder erzählt werden, von einer Generation zur nächsten. Dabei überschreiten sie in einigen Fällen kulturelle und linguistische Grenzen, was notgedrungen zu einer Transformation führt. Jede Formation der Erzählung ist eine Transformation früherer Modelle. Die Frage ist wie dies geschieht? In welchem Maße historische Anekdoten und Chroniken verändert werden. Wie kommen wir zu den heute vorhandenen Manuskripten?

Eine Transformation ist zunächst eine Veränderung. Dies kann eine relativ kleine Veränderung sein. Beispielsweise kann lediglich der religiöse Kontext des Islam hinzugefügt werden, was den Zufall durch den islamischen Schicksalsglauben ersetzen würde (Walther, 1987,74). Genauso können Geschichten in die jeweilige Gegenwart projiziert werden. So werden Orts- und Personennamen sowie der Sprachgebrauch der Gegenwart angepasst. Die Transformation kann aber auch viel größer und gravierender sein. Es könnte auch sein, dass jeder Autor, der eine schriftliche Formation der Erzählungen vornimmt, ein neues Stück Kunst schreibt, frühere Quellen als Modelle jedoch heranzieht. Dies kommt Mahdi als logischere Variante vor. Er argumentiert dafür, weil es keine komplette Geschichte und keinen Geschichtenzyklus in den arabischen Manuskripten von 1001 Nacht gibt, die Übersetzungen oder genaue Anpassungen von fremden Modellen sind. So gibt es keine einzige Geschichte, die mit existierenden Geschichten im Altindischen, Mittelpersischen oder Byzantinischen verglichen werden kann.

Bei der Verschriftlichung bzw. der Redaktion/Kompilation von Manuskripten, gehen Grotzfelds davon aus, dass die Änderungen eines solchen Redaktors, der im allgemeinen Material verwertet, welches ihm schriftlich vorliegt und nicht mündlich vorgetragen wird oder aus seinem Gedächtnis stammt, weder tiefgreifend noch umfangreich gewesen sind, sondern vor allem aus Ergänzungen von Lücken oder unleserlichen Passagen bestanden (Grotzfeld, 1984, 74). Dies geht zwar mehr auf die Verschriftlichung der 1001 Nacht ein, zeigt aber, dass es durchaus auch unterschiedliche Meinungen zur Transformation der Geschichten geben kann.

Gelehrte haben bisher immer nach den Wurzeln und Quellen der 1001 Nächte gesucht, bis heute allerdings keine belegten, konkreten Anhaltspunkte gefunden. Das Wissen darum ist immer noch sehr vage, daher plädiert Mahdi sich von dieser Suche zu entfernen und eine Kombination aus Literaturgeschichte und Literarkritik zu versuchen (Mahdi, 1995,164). In diesem Feld findet man seiner Meinung nach mehr Beweise und konkretes Material wie beispielsweise die Formation der ersten bekannten Version der Erzählungen des 14. Jahrhunderts. Hier sind wir mit einem definierten historischen, geographischen, kulturellen und linguistischen Kontext konfrontiert. Hier kann die Transformation von mittelalterlichen geschichtlichen Anekdoten und Chroniken zur Entstehung dieser Erzählung nachvollzogen werden. Wir sollten nicht nach Wurzeln und Quellen suchen, die wir nicht finden bzw. die es vielleicht nicht gibt, sondern konkret die Transformation von geschichtlichen Anekdoten, wie sie über al-Raschīd beispielsweise in at-Tabarī (Bosworth transl., 1989., at-Tabari, Vol.XXX) zu finden sind, hin zu den Erzählungen der 1001 Nacht analysieren. Dies tut Mahdi auch anhand eines Beispiels (Mahdi, 1995, 166ff).

 

Die historische Figur Harūn al-Raschīd

Harūn al-Raschīd wurde 766 in Ray in Khorasan als Sohn von al-Mahdi und einer ehemaligen Sklavin al-Khaizuran geboren. Er starb 809 an einer langwierigen Krankheit. Er wuchs am Hofe auf und genoss höfische Bildung. Die Abbasiden legten im Gegensatz zu den Umayyden, die Waffenspielen und sportlicher Betätigung großen Raum gaben, viel Wert auf Religion und das Geistesleben. So wurde Harūn al-Raschīd in der Lehre des Koran samt seiner Exegese und Hadīt-Überlieferung, der Philosophie und der Rechtswissenschaft unterrichtet, aber auch Dichter und Musiker spielten in der Erziehung eine Rolle. So kennzeichnete hohes intellektuelles Niveau die Abbasidenherrschaft (Clot, 2001, 41ff). Der Barmekide Yahyā spielte bei seiner Erziehung und Bildung eine große Rolle und sollte dies auch noch tun, bis er aufgrund von Machtkämpfen in Ungnade viel.

Harūn al-Raschīd war der fünfte Abbasidenkalif nach seinem Vater al-Mahdi und seinem Bruder al-Hadi. Er regierte von 786, nach dem ominösen Tod seines Bruders (man sagt er wurde von seiner Mutter al-Khaizuran, die bis zu ihrem Tod 803 große Macht auf ihre Söhne und ihren Mann sowie deren Herrschaft ausübte, vergiftet worden), bis 809, als er auf einer Reise nach Khorasan, wo er einen Aufstand bekämpfen wollte, bei Tus starb und dort begraben wurde. Er regierte zunächst von Bagdad aus, zog aber aus Gründen der Sicherheit und wohl aus militärischer Erwägung 796 nach Raqqa am linken Euphratufer nahe der Grenze zum Byzantinischen Reich (Clot, 2001, 91).

Noch als junger Mann leitete er einige erfolgreiche Expeditionen gegen das östliche Römische Reich, was ihm den Titel "Harūn al-Raschīd", "Aaron, der Rechtgeleitete" verlieh. Als er an die Macht kam, machte er Yahya, den Barmekiden zu einem seiner Wesire. Dessen Sohn Ğa’afar wurde ebenfalls Wesir und zu einem seiner engsten Vertrauten. Der Klan der Barmekiden erlangten in der Administration viele machtvolle Positionen, bis sie nach Machtkämpfen in Ungnade vielen und Harūn al-Raschīd sie auslöschte.

Regionale Dynastien erhielten im Gegenzug zu hohen jährlichen Zahlungen eine Art semi-autonomen Status. Dies machte Harūn al-Raschīd und seine Herrschaft reicher, aber schwächte auch die Macht des Kalifats. Er verlieh seiner Dynastie Glanz, der die Jahrhunderte überdauerte (die Abbasiden herrschten fast ein halbes Jahrtausend von 750 bis zur Invasion der Mongolen 1258 (Halm, 2004)) und ihn als Herrscher idealisierte (Clot, 2001).

Harūn al-Raschīds Name allein reicht schon aus ohne eine Referenz in Zeit oder Ort anzugeben, weil er es zu einem so hohen Bekanntheitsgrad brachte (El-Hibri, 1999, 17). Wie schon Palmer 1881 über seine Herrschaft sagte: "(he) belongs to all time and to no time" (Palmer 1881). Seine Zeit gilt als idealisierte Zeit, als Goldenes Zeitalter mit Bagdad als Hauptstadt. "Madinat as-Salam", die runde Stadt, die unter al-Mansur 762 fertig gestellt wurde (El-Hibri, 1999, 17).

Im 9. Jahrhundert der Abbasidenherrschaft finden wir das schon in der Umayyadenzeit stark erweiterte große Territorium vor, wobei soziale und kulturelle Symbiose sowie ökonomische Integration ein Verdienst der Abbasiden sind. So zum Beispiel eine gemeinsame Sprache, Währung und vereinende religiös-politische Zentren. Weniger bekannt ist über die Administration, die Gesetze und Motive des Kalifen und wie dieser vom Volk gesehen wurde (El-Hibri, 1999, 1). Heute steht uns eine große Anzahl von mittelalterlichen, arabischen Anekdoten und Chroniken zur Verfügung. Die Linie zwischen Mythos und Fakt des Portraits des Kalifen ist jedoch sehr schwammig. Immer wieder werden Fiktion und Fakten verwoben (El-Hibri, 1999, 17).

 

Harūn al-Raschīds Rolle in 1001 Nacht

Palmer charakterisiert verschiedene Genres von Geschichten, in denen Harūn al-Raschīd eine Rolle spielt. Als erstes gibt es die so genannten "incognito nocturnal ramblings" (Palmer, 1881, 143). Nachtausflüge, die der Kalif mit seinem Wesir Ğa’afar und dem Eunuchen und Schwertträger Masrūr unternimmt. Meist verkleiden sie sich als Kaufleute und wollen sich in den Straßen von Bagdad amüsieren oder die Zufriedenheit des Volkes feststellen. Der Kalif litt auch an Schlaflosigkeit und wanderte aus Langeweile durch die Straßen Bagdads (Palmer, 1881, 145). El-Hibri schreibt, dass dieses Verhalten klar als ein Nachahmen des orthodoxen Kalifen Umar I. zu sehen sei, der nachts mit seinem Diener durch die Straßen Medinas wanderte, um sich nach dem Wohlbefinden seines Volkes zu erkundigen (El-Hibri, 1999, 25).

In einer zweiten Reihe von Geschichten unterhält und umgibt sich der Kalif mit Dichtern (eine primäre Rolle spielt der Dichter Abū Nuwwās) und Musikern (als größter seiner Kunst spielt hier Ishaq al-Mausili eine Rolle). Es gibt auch eine ganze Reihe von Geschichten in denen der Kalif sich mit Gelehrten umgibt oder deren Rat benötigt. In Rechtsfragen wird meist der Qādi Abū Yūsuf zu Rate gezogen (z.B. in der "Geschichte von Harūn er-Raschīd, der Sklavin und dem Kadi Abu Jusuf", Littmann III, 1953,160-163).

Nicht nur wird der Kalif durch Nachtausflüge und Dichter unterhalten und beruhigt. Ein weiteres Genre von Harūn al-Raschīd-Geschichten dreht sich um das Geschichtenerzählen und Dichten meist unter Drohungen, z.T. auch Todesdrohung (wie z.B. in der Geschichte "Die drei Äpfel", Ott, 2004, 218ff; oder in einer Anekdote bei Palmer, in der der Kalif gesagt haben soll "if you do not make me laugh, I will beat you three times with this leathern bag", Palmer, 1881, 146). Alle weiteren Geschichten benutzen den Kalifen, seine Zeit und das Hofleben von Bagdad als "setting" für andere Geschichten und Begebenheiten. Diese, so Palmer, seien eigentlich eine Enttäuschung für den europäischen Leser (Palmer, 1881, 139).

Nachdem wir die verschiedenen Arten der Geschichten von Harūn al-Raschīd ein wenig beleuchtet haben, stellt sich die Frage, was die Zweideutigkeit des Kalifen, die durch das Verweben von Mythos und Fakten entsteht, für eine Auswirkung auf Kalifenbiographien, aber auch auf das Image des Kalifen in 1001 Nacht hatte. 1001 Nacht macht den Namen Harūn al-Raschīds im Westen wohl am besten bekannt, aber er bleibt eine zweideutige Quelle, ein hybrides, mythologisches Portrait des Kalifen und seiner Zeit. Verschiedene Persönlichkeiten, kulturelle Geschichten und Arten des Denkens werden hier verwoben. Die Geschichten an sich haben eine ganz natürliche ahistorische Natur (El-Hibri, 1999, 17).

Die Gelehrten des 19. Jahrhunderts fangen an nach den "echten" historischen Quellen zu suchen, um Biographien zu erstellen. Sie kommen aber letztlich mit einem ähnlich romantisiertem Image des Kalifen hervor, die die Geschichten von 1001 Nacht schon suggerieren. El-Hibri kritisiert diese Gelehrten, die ihre Biographien auf blumige Anekdoten stützen und eine Art sechsten Sinn verwenden, um aus der Fülle von Material das ihnen am Vertrauen erweckendste herauszuarbeiten und zu verwenden (El-Hibri, 1999, 18). Aber auch diese Biographien des 19. Jahrhunderts müssen in ihrem Kontext gesehen werden. Das Vermischen von Mythos und Fakten in der romantisierenden Literatur war in Europa um die Jahrhundertwende sehr angesagt beim Leser und verkaufte sich ähnlich wie die Geschichten der 1001 Nacht sehr gut. Außer dem kulturellen Kontext ist auch der politische Kontext zu beachten. Politische Motive dieser Zeit werden eine Rolle beim Verfassen der Biographien gespielt haben. Man bewunderte die erfolgreiche Karriere, die Würde und Großzügigkeit des Kalifen. Zeit, Ort und Sprache spielten nicht so eine große Rolle wie Erinnerungen an seine Person. Der Plan war, den Erfolg des Kalifen zu verstehen, Schwächen zu identifizieren und eine Art "modifizierte" Version z.B. in Europas Kolonien anzuwenden. Also besaß das Interesse an der Kalifenbiographie auch eine didaktische Qualität (El-Hibri, 1999, 19-20).

Heute ist das Interesse am Leben des Kalifen stark gesunken, man interessiert sich viel genereller für die Herrschaft der Abbasiden im Ganzen. Die Biographien sind viel zu schwierig, wissenschaftlich zu ungenau, da es schwierig ist, das historische Material zu werten. El-Hibri schlägt eine Ordnung der vielen Anekdoten und Informationen nach Kriterien vor, die für die mittelalterliche Bevölkerung von Bedeutung waren (El-Hibri, 1999, 21).

Die Geschichten in 1001 Nacht waren laut El-Hibri weniger zur Unterhaltung gedacht als dazu, kontroverse Sichtweisen und religiöse, kulturelle und moralische Themen anzusprechen, die im Jahrhundert nach Harūn al-Raschīd heiß diskutiert waren (El-Hibri, 1999, 21). Um die Rolle Harūn al-Raschīds in 1001 Nacht weiterhin zu charakterisieren muss man sich die Charaktere genauer ansehen. Den Stereotypen des Kalifen als gerechten, aber launenhaften Herrscher, aber auch sein Gefolge und Leute, die immer wieder mit ihm in Zusammenhang gebracht werden. Wiebke Walther nennt Harūn al-Raschīd die "Verkörperung des patriarchalischen, sehr menschlichen und launenhaften Herrschers" (Walther, 1987, 77). Zu seinem Gefolge gehört zunächst sein Wesir und enger Vertrauter Ğa’afar, der Barmekide. Walther nennt ihn den "Prototyp des klugen Wesirs" (Walther, 1987, 77). Der Wesir ist dem Kalifen geistig überlegen, ist ihm aber ebenso selbstverständlich untertäniger Helfer (Walther 1987, 76). Seine Gemahlin Zubaida taucht auch in einigen Geschichten um den Kalifen auf. Sie wird als eifersüchtig, ränkespinnend, aber machtvoll charakterisiert (Walther, 1987, 77). Abū Nuwwās, der wohl größte und bekannteste Dichter seiner Zeit, und Ishaq Ibn Ibrahim al-Mausili, der einen ähnlichen Status als Musiker erhielt, spielen in seinen Geschichten oft eine große Rolle. Vor allem der Dichtung ist Harūn al-Raschīd sehr zugetan und umgibt sich gerne mit guten Dichtern, Abū Nuwwās wird meist als begabtester und klügster hervorgehoben. Auf seinen Nachtausflügen spielt meist der Eunuch und Schwertträger Masrūr eine Rolle und bei Rechtsfragen wird meist der Qādi Abū Yūsuf herangezogen.

Dies sind natürlich alles Idealgestalten, und Harūn al-Raschīds Image wird in der Realität in Frage gestellt, aber "seine Regierungszeit war eine der letzten glanzvollen Perioden des Abbasidenkalifats" und wird daher im Nachhinein oft stark idealisiert (Walther, 1987, 78).

Walther, aber auch Schaade, beschreiben das Phänomen, dass Geschichten oft in die Zeit Harūn al-Raschīds zurückverlegt und Charaktere ausgetauscht wurden, so dass al-Raschīd an die Stelle eines anderen Kalifen trat. So wurden Geschichten, die historisch z.B. al-Amin zugeschrieben wurden, regelrecht auf al-Raschīd "umgedichtet". Dies hatte natürlich oft unlogische Konsequenzen. So stimmten Orte nicht mehr mit der Handlung überein, topographische Beschreibungen einer Stadt wurden beispielsweise weggelassen, da sie nicht mehr zeitgemäß waren, oder Personen trafen sich, die eigentlich nicht zur gleichen Zeit lebten (Walther, 1987, 77-78; Schaade, 1934, 264,276). Schaade beschreibt in seinem Artikel und erklärt auch anhand zweier Bespiele, wie stark oft Geschichten in 1001 Nacht verändert werden, dass aber Abū Nuwwās’ Gedichte meist seine eigenen waren und dass sich um diese als Kern Geschichten gesponnen haben (Schaade, 1934, 274, 276).

Muhsin Mahdi gibt ein gutes Beispiel einer Harūn al-Raschīd-Geschichte und wie sie verändert wurde. Er vergleicht einen historischen Report aus dem 10. Jahrhundert aus Bagdad (von al-Tanukhi (940-994) tradiert) mit der selben Geschichte in 1001 Nacht, die wohl im 14. Jahrhundert in Kairo oder Damaskus entstand. Die Geschichte ist "Die Geschichte des Küchenchefs: Der junge Mann aus Bagdad und die Sklavin Zubaidas, der Gemahlin des Kalifen" aus dem Zyklus "Der Bucklige, der Freund des Kaisers von China" (Titel nach Ott 2004). Sie wird aus der Zeit al-Muqtadirs (908-932) in die Zeit al-Raschīds übertragen, der von Mahdi als "timeless, mythical caliph of the Nights" beschrieben wird (Mahdi, 1995, 170). Des Weiteren werden andere Charaktere verändert, die Topographie Bagdads wird entfernt, die Sprache wird in die des 14. Jahrhunderts in Syrien oder Ägypten übertragen. Einfache und zu realistische Episoden des historischen Reports werden fantastischer und würziger gemacht. Insgesamt wird die Geschichte umfangreicher, fantastischer und grausamer (Mahdi, 1995, 167ff). Dies zeigt die Rolle Harūn al-Raschīds als idealisierten Kalifen, der in Geschichten den Platz anderer Kalifen einnimmt, sehr gut. Außerdem erhält man hier einen Einblick wie aus Geschichte Fiktion wird.

 

Harūn al-Raschīds Herrscherbild in 1001 Nacht

Um das Herrscherbild Harūn al-Raschīds in 1001 Nacht genauer zu beleuchten, muss man sich der starken Idealisierung bewusst werden und deren Elemente herausarbeiten, wie dies El-Hibri in seinem Buch tut (El-Hibri, 1999, 21ff). Das legendäre Image des Kalifen aus den Geschichten der 1001 Nacht ist ganz klar eine Idealisierung, dessen Wurzeln allerdings schon in den historischen Quellen zu finden sind, was aber in 1001 Nacht weiter ausgeschmückt wird. Das idealisierte Bild eines charismatischen Herrschers, der Patron der Gelehrten und Dichter ist und als religiöser Mensch mit gutem Beispiel voran geht.

Sein religiöses Bild als gläubiger Herrscher wird oft unterstrichen (er wird stets respektvoll mit "Beherrscher der Gläubigen" angesprochen, Littmann und Ott, aber auch "Getreuer Gottes" taucht auf, Littmann III, 299), jedoch finden sich wenige Referenzen zum islamischen Dogma. Meist wird dieses Bild viel genereller dargestellt. Die idealen menschlichen Werte und die Verantwortung als gerechter Herrscher werden betont. Auch gibt es Anspielungen auf den Jüngsten Tag und wie sich dort jeder vor Gott verantworten muss. Harūn al-Raschīd ist demgegenüber sehr ehrfürchtig (El-Hibri, 1999, 27). Er gilt als Verteidiger des orthodoxen Islam gegenüber seinen Feinden. Ein gutes Beispiel für die Verteidigung des Islam ist eine Anekdote bei Palmer (Palmer, 1881, 150f), in der Harūn al-Raschīd den Dichter Abū Nuwwās für seine Vergehen gegen den Koran und die Aussprüche des Propheten bestrafen will. Abū Nuwwās zeigt sich in diesem Disput jedoch als der Klügere und kommt mit dem Leben davon.

Historisch wird das religiöse Bild des Kalifen von at-Tabarī in seiner Weltgeschichte gestützt. So beschreibt at-Tabarī das religiöse Verhalten Harūn al-Raschīds. Er soll täglich 100 Verbeugungen (rak’ahs) zur Verehrung gemacht haben (Bosworth, 1989, 305). Außerdem ist er der Pflicht des zakāt regelmäßig nachgekommen und konnte er aus gesundheitlichen Gründen einmal keine Verbeugungen machen, legte er noch 1000 dirhams zum zakāt hinzu. Er machte jährlich die Pilgerfahrt nach Mekka mit und nahm stets 100 Gelehrte und deren Söhne mit. Wenn er nicht selber auf Pilgerfahrt ging, schickte er 300 Männer an seiner Stelle mit genug Geld zur Versorgung (Bosworth, 1989, 305).

Auch das idealisierte Bild des Patron der Gelehrten und Dichter wird in at-Tabarī bestätigt, der diese Vorliebe Harūn al-Raschīds sich mit Dichtern, Dichtung, Literaten und Rechtsgelehrten zu umgeben und deren Rat zu erfragen beschreibt (Bosworth, 1989, 306). Außerdem wird er bei at-Tabarī als Herrscher, der stets mit dem Wohl seines Volkes beschäftigt ist, beschrieben. Wir finden also eine große Übereinstimmung der Theorie und der Praxis eines idealen Herrschers, so El-Hibri (El-Hibri, 1999, 22). Dies hat seiner Meinung nach den Grund, dass die Vorstellung und Beschreibung des idealen Herrschers und Kalifen erst später entsteht und um Harūn al-Raschīds Aktivitäten gebildet wird. Die Gründe der Idealisierung sind also einerseits die Zweckmäßigkeit, aktuellen Ideen und sozialen Interessen zu dienen, andererseits eine Art nostalgischer Blick in die Vergangenheit. Das ideale Bild eines Herrschers wird also nach dem Tod Harūn al-Raschīds konstruiert, um Interessen in der Zeit nach seinem Tod zu dienen (El-Hibri, 1999, 22). Die Idealisierung diente auch als nostalgischer Blick in die Vergangenheit, da nach Harūn al-Raschīd seine Söhne herrschten, zunächst Al-Amin (809-813), danach Al-Maamun (813-833). Unter der Herrschaft dieser beiden Kalifen kam es zu religiösen Konflikten und später sogar Bürgerkrieg. Harūn al-Raschīds Bild der religiösen Orthodoxie steht also im Kontrast zu religiösen Problemen, sein Bild der Harmonie mit den traditionellen Gelehrten steht im Kontrast zu Spannungen, die nach ihm auftreten. Der Prunk seines Kalifats steht im Kontrast zur Misere des Bürgerkriegs (El-Hibri, 1999, 22). Die Quellen um Harūn al-Raschīd dienen also als Antwort auf die Art und die Gedanken seiner Nachfolger (El-Hibri, 1999, 24).

Die Frage ist, warum Harūn al-Raschīd als Kalif ausgewählt wird, der idealisiert und romantisiert wird. El-Hibri meint, dass seine Persönlichkeit und seine Errungenschaften ihn zu einem Kalifen machten, der sehr nach außen wirkte, der Öffentlichkeit zugänglich war und damit ein Ideal aufstellte. Historisch ist wohl, dass der Kalif mit der Neugier der Öffentlichkeit am königlichen Leben spielte und dass er periodisch sogar direkten Kontakt zum Volk aufnahm, meist allerdings mit Gelehrten. In der Fiktion wird er zum Freund des Volkes, der sich mit Dichtern umgibt und sich verkleidet aus dem Schloss schleicht und nachts das Volk trifft. In den Geschichten erfährt der historische Gehalt noch eine Übertreibung und wird viel fantastischer (El-Hibri, 1999, 28).

Auch Palmer geht sehr detailliert auf Harūn al-Raschīds Herrscherbild, seine Eigenschaften, in 1001 Nacht ein. Palmer spricht von ihm als gerecht und sehr klug (Palmer, 1881, 143), der das Recht über Leben und Tod besitzt (Palmer, 1881, 144). Er litt an Schlaflosigkeit und deshalb handeln viele seiner Geschichten von seinen Wanderungen durch Bagdads Straßen, aber auch Dichter und Musiker mussten ihn unterhalten und ablenken. Viele Geschichten dienen der Besänftigung und Beruhigung des Kalifen in seinen schlaflosen Nächten (Palmer, 1881, 145; Walther, 1987, 16).

Eine weitere Eigenschaft des Kalifen ist die Anhäufung eines großen Vermögens, das er großzügig an die Wohlfahrt oder Dichter und Gelehrten verteilte. So Palmer: "when the money came, he ordered it to be given away in charity" (Palmer, 1881, 159). Er galt als sehr gutherzig, weil er den Armen von seinem Reichtum abgab. So Palmer: "take this outside my brother’s house and give it to the first poor person you meet" (Palmer, 1881, 160). Historisch ist dies auch von at-Tabarī beschrieben worden. Er soll im Großen und Ganzen dem Verhalten von al-Mansūr (seinem Großvater) gefolgt sein, sein Geld aber verteilte er viel großzügiger, z.T. auch unkontrolliert (Bosworth, 1989, 306).

Es wird beschrieben, dass Harūn al-Raschīd Moscheen repariert, Schulen gegründet und sein Land verbessert haben soll. So Palmer: "by charity to the poor and the orphan, by performing the pilgrimage to Mecca, by repairing mosques, by founding schools and by improving the country, for all which things you will reap a rich reward" (Palmer, 1881, 200).

Ebenso gehören aber die Witze und Witzeleien zu Eigenschaften des Kalifen, der als spaßiger Geselle bei den Nachtausflügen gilt (Palmer, 1881, 221). Er wird auch als eloquenter Redner beschrieben. Dies, so Palmer, passt historisch sehr gut, denn der Stil seiner Reden ist fast überall sehr ähnlich. Außerdem setzen seine Reden sich bei den Hörern fest und könnten in den Geschichten von 1001 Nacht schwerlich einfach so verändert werden (Palmer, 1881, 222).

Harūn al-Raschīd wird bei Palmer als loyaler, liebevoller Mensch gesehen, dessen menschliche Gefühle jedoch durch die Position als Machthaber z.T. zerstört werden (Palmer, 1881, 222). Dies erweckt natürlich noch mehr Sympathien, die auch El-Hibri beschreibt. Harūn al-Raschīd, der, wäre er nicht durch einen historischen Zufall ins politische Rampenlicht getreten, ein wahrhaft spirituelles Leben führen würde. Durch sein Amt jedoch muss er auch religiös gesehen fragwürdige politische Methoden anwenden. Dieser Zwiespalt ruft fast Mitleid beim Leser hervor, und Harūn al-Raschīd geht als sympathischer, menschlicher Held daraus hervor (El-Hibri, 1999, 26).

Harūn al-Raschīd wird von Palmer weiters als energischer Herrscher gesehen, der bescheiden die Aufgaben seiner Religion ausführt (Palmer, 1881, 223). Er wird auch "Getreuer Gottes" genannt, was das fromme, religiöse Bild unterstützt (Littmann III, 299). Außerdem wird er immer wieder in 1001 Nacht "Beherrscher der Gläubigen" genannt, der ein riesiges Reich beherrscht (z.B. Littmann III, 1953, 154). Bewundernd wird diesbezüglich bemerkt, dass er dieses große, glamouröse Erbe, also das Reich zu der Zeit, in Stand hält bzw. sogar vergrößert (Palmer, 1881, 223). Außerdem ist ihm ein ganzes Volk untertan und steht unter seinem Schutz, so sagt der "falsche Kalife", "Heil dir, der du der Beherrscher der Gläubigen bist und dessen Schutze das Volk des Glaubens anvertraut ist" (Littmann III, 153). Er hat also viel Macht über Land und Leute, kümmert sich aber gut darum und ist stets mit dem Wohl seines Volkes beschäftigt. Der Aspekt des weisen Kalifen taucht auch öfters in den Anekdoten und Geschichten um den Kalifen auf (z.B. Littmann III, 1953, 163). Nicht zu unterschlagen ist ebenfalls die Bemerkung von Palmer, die Harūn al-Raschīd auch als verwöhnt und blutrünstig beschreibt (Palmer, 1881, 223).

Nachdem wir nun die Eigenschaften und das idealisierte Herrscherbild genauer beleuchtet haben, ist es interessant zu sehen, ob sich dies tatsächlich in den Geschichten von 1001 Nacht widerspiegelt. Ist das Bild Harūn al-Raschīds in 1001 Nacht tatsächlich das eines gerechten und menschlichen Herrschers, der weise ist und seine Religion orthodox ausübt? Verkörpert er in den Geschichten von 1001 Nacht tatsächlich das Idealbild eines Herrschers seiner Zeit? Ich möchte hierzu anhand einer Beispielgeschichte ein etwas anderes Bild des Harūn al-Raschīds herausarbeiten. Eigenschaften und Züge, die in dieser Form oft nicht in der Sekundärliteratur zu finden sind und im Kontrast zu ihr stehen.

 

"Die drei Äpfel"

"Die drei Äpfel" ist eine kurze Geschichte von vier Nächten (69.-72. Nacht), die von einem Nachtausflug Harūn al-Raschīds erzählt (Angaben nach Ott, 2004). Palmer bemerkt zu dieser Geschichte "it may relate to an incident, which actually happened, but has little personal connection with the subject of our history" (Palmer, 1881, 142). Pinault sieht in dieser Geschichte die mittelalterliche Tradition des Geschichtenerzählens als Spiegel der Details aus Kalifenportraits in historischen Chroniken und populären biographischen Erzählungen (Pinault, 1992, 86). Er argumentiert, dass die verschiedensten Versionen von 1001 Nacht diese Geschichte fast gleich erzählen und dass sie sogar in Gallands Version auftaucht. Dies soll uns hier aber nicht weiter interessieren, da es nicht darum geht den geschichtlichen Gehalt dieser Anekdote herauszuarbeiten, sondern darum, das hier gezeichnete Bild des Kalifen zu charakterisieren .

Harūn al-Raschīd begibt sich mit seinem Wesir Ğa’afar und seinem Diener Masrūr in die Straßen Bagdads, um sich nach der Zufriedenheit seines Volkes mit den Richtern zu erkundigen. Er begegnet einem armen Fischer, der schon länger keine Fische mehr gefangen hat. Harūn al-Raschīd empfindet Mitleid mit diesem und sagt ihm, er solle sein Netz auswerfen und was immer er fangen würde, würde er ihm für 100 Dinar abkaufen. Dies geschieht dann auch. Der Fischer zieht eine Kiste aus dem Wasser, die der Kalif in seinen Palast schaffen lässt. Dort entdeckt er in der Kiste eine Frauenleiche. Er gerät in Wut und will ihren Mörder verurteilt wissen. Ğa’afar erhält unter Androhung seines eigenen Todes den Auftrag den Mörder zu finden. Der Mörder wird nicht gefunden und Ğa’afar droht der Galgen, doch kurz bevor er gehenkt werden soll, taucht ein junger Mann auf, der sich des Mordes bekennt. Kurz darauf taucht ein Greis auf, der sich ebenfalls für schuldig bekennt. Beide werden von Ğa’afar vor den Kalifen gebracht, der sich die Geschichte des jungen Mannes anhört. Danach folgt eine zweite Serie, in der Ğa’afar den eigentlich schuldigen Sklaven finden soll. Wieder droht Ğa’afar der Tod, doch entdeckt er kurz vor seiner Erhängung, dass sein eigener Sklave der Schuldige ist. Diesen führt er abermals vor den Kalifen. An dieser Stelle beginnt Ğa’afar eine neue Geschichte zu erzählen, die das Leben seines Sklaven unter Umständen retten kann (Ott, 2004, 218-226).

Wie wird der Kalif Harūn al-Raschīd hier dargestellt? Zunächst scheint er sehr gerecht und um das Wohl seines Volkes bemüht zu sein. Er will wissen, ob sein Volk zufrieden ist und sich vergewissern, ob seine Richter auch gerecht und zur Zufriedenheit des Volkes arbeiten. Dann sieht er das Elend in seiner Stadt am Beispiel des armen Fischers. Er hilft diesem Fischer, hat Mitleid mit ihm und zeigt sich sehr großzügig mit Geld (Ott, 2004, 218). Genau diese Bild kennzeichnet die Idealvorstellung eines gerechten, großzügigen Herrschers. Allerdings zeigt er sich in dieser Szene auch sehr beschränkt und dumm, ja, fast tölpelhaft. Er sieht einen armen Fischer, bemitleidet diesen und schenkt ihm etwas Geld, ohne daran zu denken, dass es in seinem Kalifat vielleicht noch mehr arme Fischer gibt und das Problem der Armut an seinem Kern zu lösen. Die Geldsumme für den Fischer hilft diesem einen Fischer nun vielleicht eine Weile, aber was kommt danach? Und was ist mit den vielen anderen Bedürftigen? Der Kalif scheint hier sehr naiv.

Nachdem die Geschichte in 1001 Nacht mit viel Spannung beim Auspacken der Kiste gefüllt ist, wird danach eine große Grausamkeit aufgedeckt (Ott, 2004, 218f). Dies veranlasst den Kalifen in großen Kummer und Trauer zu verfallen und in Tränen auszubrechen (Ott, 2004, 219). Der Kalif wirkt sehr mitfühlend und sensibel, sehr menschlich. Schon im nächsten Moment jedoch bricht er in furchtbaren Zorn aus. Er wird laut und schreit seinen Wesir furchtbar an (Ott, 2004, 219). Dieses schnelle Umschlagen der Emotionen macht aus ihm einen sehr launischen Kalifen. Kann diese Eigenschaft zu einem Idealbild eines Herrschers passen? Außerdem ist er durch den Mord sehr schnell von der Armut in seinem Kalifat, also dem armen Fischer, abgelenkt. Dies zeugt nicht von Konsequenz und dies scheint ihm nun nicht mehr wichtig zu sein, da er einem einzelnen Fischer geholfen hat und das Thema danach keine Bedeutung mehr für ihn hat und sich seinem Bewusstsein entzieht.

Danach macht er Ğa’afar, den Wesir, dafür verantwortlich, dass in seiner Stadt solch grausame Mörder frei umher laufen (Ott, 2004, 219). Es ist jedoch seine Stadt und seine Verantwortung, die er einfach von sich schiebt. Auch Verantwortungslosigkeit ist keine Eigenschaft eines guten Herrschers. Nach seinem Wutausbruch will er Rache üben, so sagt er "ich werde das Mädchen an demjenigen rächen, der es umgebracht hat" (Ott, 2004, 219). Er übt also Selbstjustiz, weil er den Mörder nicht "bis zum Jüngsten Tag auf meinem (seinem) Gewissen lasten" lassen will (Ott, 2004, 219). Ein paar Zeilen weiter spricht Ğa’afar davon, dass es "keine Kraft und keine Stärke (gibt) außer bei Gott, dem Erhabenen und Mächtigen" (Ott, 2004, 219). Diese Art der Selbstjustiz des Kalifen ist also unislamisch, da Gott am Jüngsten Tag über die Menschen richtet und ansonsten die Qādis, also die Richter, für Rechtssprüche verantwortlich sind, da sie sich mit dem Koran und den Aussprüchen Mohameds, also der Rechtsprechung auskennen. Danach droht der Kalif Ğa’afar den Tod an, sollte er den Mörder nicht finden. Wieder zeigt er sich launisch und beschimpft seinen engsten Vertrauten.

Pinault beschäftigt sich genauer mit der Geschichte und sieht in dem "mood-swing" des Kalifen, der seinen Wesir und engsten Vertrauten stark beschimpft und ihm und seiner Familie den Tod androht eine starke Parallele zu den historischen Begebenheiten, eine Anspielung auf den grausamen Tod des Wesirs und dem Klan der Barmekiden (Pinault, 1992, 92). Historisch also stirbt Ga’afar brutal durch des Kalifen Willen, in den Geschichten von 1001 Nacht jedoch lebt er immer weiter, Geschichte für Geschichte entkommt er den Todesdrohungen des Kalifen. Sein Tod wird in 1001 Nacht nur kurz erwähnt, er war zu der Zeit wohl allseits bekannt und zählte zur Allgemeinbildung. Dass Ga’afar dem Tod immer wieder entkommt, z.T. durch Gegebenheiten der Geschichte, aber auch durch das Erzählen neuer Geschichten, ist eine starke Parallele zur Rahmengeschichte, zu Scheherazād, die Nacht für Nacht dem Tod entkommt (Pinault, 1992, 99).

Der Kalif zeigt sich in seinen Rachevorstellungen auch besonders grausam. So sagt er "den grausamsten Tod werde ich ihn (den Mörder) sterben lassen" (Ott, 2004, 219). Auch als er Ğa’afar das erste Mal dem Henker überlassen will, zeigt er sich besonders grausam, indem er sein Volk dazu einlädt, dem Tod Ğa’afars und zusätzlich 40 seiner Verwandten zuzusehen. Das Volk jammert und weint, was den Kalifen in diesem Moment allerdings gar nicht interessiert.

Nachdem die beiden sich schuldig bekennenden Männer vor den Kalifen treten, sagt dieser zu Ğa’afar lediglich "geh hinunter und hänge sie beide" (Ott, 2004, 221). Ğa’afar muss ihn erst einmal belehren, dass das für einen der beiden auf jeden Fall ungerecht wäre, da einer unschuldig sein muss. Der Kalif ist hier also keineswegs gerecht und auch nicht intelligent, denn er erkennt das Problem überhaupt nicht.

Ähnlich schnell wie er sich durch den Mord vom armen Fischer und dem Problem der Armut ablenken lässt, lässt er sich im weitern Verlauf der Geschichte auch wieder vom Mord ablenken. Als Ğa’afar ihm vorschlägt, eine noch interessantere Geschichte zu erzählen, ist der Kalif ganz eingenommen von der neuen Geschichte, so heißt es: "und schon hatte sich der Kalif mit seinem ganzen Herzen an diese neue Geschichte gekettet" (Ott, 2004, 226). Er will sie um jeden Preis hören und verspricht, sollte diese Geschichte noch interessanter sein, das Leben des angeklagten Sklaven zu verschonen. Er wirkt sehr kindlich und unseriös. Er verfolgt nicht mehr ernsthaft den Mordfall und die Suche nach Gerechtigkeit, sondern lässt sich wie ein Kind schnell durch eine neue, spannendere Geschichte ablenken. Gehört diese Eigenschaft zu einem idealen Herrscher? Er wird in dieser Situation sehr herrisch und befiehlt "her mit der Geschichte" (Ott, 2004, 226). Wenn nun die neue Geschichte spannender ist als die vorherige und er aus diesem Grund den Sklaven, der für einen Mord in seinem Reich verantwortlich ist (weswegen er schon Trauer und Wut gezeigt hat), verschont bleiben würde, wie gerecht wäre das? Das wäre ein Beispiel, welches gegen die große Gerechtigkeit des Kalifen sprechen würde.

Pinault weist in dieser Geschichte auf eine gewisse Kontinuität von mittelalterlichen, historischen Anekdoten zu den Erzählungen der 1001 Nacht des Kalifen, seinem Wesir und Gefolge hin. Der Kalif als launisch, der zwischen Großzügigkeit und Gewalt pendelt, der Wesir als treuer Untertan, der aber dem Fatalismus ergeben ist . Diese Kontinuität führt er auf zwei Gründe zurück. Einmal waren diese Leute wahrhafte, historische Figuren, die bis zu einem gewissen Grad portraitiert wurden. Zum anderen führt er dies auf die Tradition des Geschichtenerzählens zurück, sowohl die mündliche Tradition als auch die schriftlichen, historischen Quellen (Pinault, 1992, 82).

Harūn al-Raschīd wird in dieser Geschichte also zunächst als gerecht gegenüber seinem Volk dargestellt, im Laufe der Geschichte wird jedoch deutlich, dass er nicht so gerecht ist, wie es zunächst scheint. Er kümmert sich zwar zunächst um sein Volk und zeigt großes Mitleid, lässt sich aber auch schnell ablenken und kommt nicht einmal auf die Idee, über die Gesamtsituation in seinem Kalifat nachzudenken und was er daran ändern könnte. Der "Beherrscher der Gläubigen", dem durch diesen Ausspruch sicherlich viel Respekt erwiesen wird (z.B. Ott, 2004, 226), wirkt trotz mehrerer Anspielungen auf den Islam in dieser Geschichte ("Jüngster Tag" , 219; "es gibt keine Kraft und Stärke außer bei Gott, dem Erhabenen und Mächtigen", 219) eher unislamisch in seinen Rachegedanken und seiner autokratischen Selbstjustiz.

Er wirkt in dieser Geschichte außerdem launisch, grausam, dumm und unseriös. Sein Wesir Ğa’afar scheint viel intelligenter und gerechter. Dies bestätigt auch Walther, die den Wesir dem Kalifen als geistig überlegen beschreibt und Macht und sozialen Rang nicht auf Intelligenz festlegt, sondern als vorgegeben bestimmt (Walther, 1987, 76). Außer Ğa’afar werden auch der Qādi Abu Yusuf und der Dichter Abū Nuwwās als intelligenter dargestellt als der Kalif. So heißt es bei Littmann (Littmann III, 163): "denn sie (die Geschichte) enthält treffliche Lehren, wie ... die Weisheit des Kalifen und die noch größere Weißheit des Qādis". Dass der Qādi dem Kalifen geistig überlegen ist, scheint vielleicht noch plausibel, zumindest in Rechtsangelegenheiten, in denen er hoch gebildet ist. In einer Anekdote bei Palmer jedoch (Palmer, 1881, 150-151) wird der Dichter Abū Nuwwās nicht nur als intelligenter, sondern auch noch als besserer Kenner des Korans dargestellt, der sich clever der Strafe des Kalifen entzieht. Abū Nuwwās spielt in dieser Anekdote sichtlich mit dem Kalifen, der am Ende keinen Rat mehr weiß und regelrecht ausgetrickst wird. Auch hier wird ein Bild des Kalifen gezeichnet, das ihn nicht als idealen Herrscher kennzeichnet.

Sein streng religiöses Image wird auch durch den oft erwähnten Weingenuss, der in 1001 Nacht eine große Rolle spielt und in heutiger Zeit zumindest stark unislamisch wirkt (zum Wein und Weinkonsum siehe Heine, 1977), ein wenig beeinträchtigt. Vielleicht muss man da jedoch den Kontext der Zeit des Entstehens der Geschichten mit betrachten, in denen Weinkonsum regelmäßiger Bestandteil höfischen Lebens war.

 

Schluss

Nachdem wir nun das legendäre Image des Kalifen Harūn al-Raschīd in 1001 Nacht betrachtet haben, wird deutlich, dass er durchaus eine Legende war. Dass er zum Mythos wurde. Dies zeigt allein schon die Anzahl der Geschichten, in denen er eine Rolle spielt, sowie die "Umdichtung" von Geschichten auf seine Person (es gibt keinen anderen Kalifen, der in so vielen Geschichten auftaucht). Außerdem stellt er ein wichtiges "setting" für viele Geschichten von 1001 Nacht dar, was darauf hinweist, dass seine Herrschaft und seine Zeit, das Hofleben Bagdads und die Umstände des Kalifats, ein goldenes Zeitalter darstellen. Geschichte und Fiktion wurden verwoben. Historische Anekdoten der Idealisierung wegen ausgeschmückt und transformiert. Es bestand und besteht mit Sicherheit der Wunsch eines perfekten Herrschers und im Nachhinein, im Vergleich zu Zeiten nach ihm, war seine Zeit unvergleichlich glanzvoll. Ich stimme also mit der Sekundärliteratur und den gängigen Meinungen darin überein, dass es sich beim Kalifen Harūn al-Raschīd in 1001 Nacht um eine mythische Legende handelt, meine aber, dass viele seiner Eigenschaften des idealen, des idealisierten Herrschers in den Geschichten konkret widerlegt werden können, so in der Geschichte "Die drei Äpfel". Sein religiöses Bild, seine große Gerechtigkeit und Großzügigkeit sowie seine Klugheit werden hier klar in Frage gestellt. Harūn al-Raschīd entspricht also in seinen Eigenschaften nicht umfassend dem idealen Bild eines Herrschers, wird aber als solcher gesehen und dargestellt, da ein Wunsch danach besteht und er im Nachhinein verehrt wird und sein Bild als ideal konstruiert wird.

Nicht zu vergessen sind Eigenschaften, die durchaus in der Sekundärliteratur erwähnt werden, wie z.B. launenhaft (Walther, 1987, 77) oder blutrünstig und verwöhnt (Palmer, 1881, 223). Diese Eigenschaften werden erkannt, tragen aber nicht dazu bei, den Kalifen vom Sockel des idealen Herrschers zu stürzen, obwohl diese Eigenschaften ihn wahrlich nicht sympathisch machen oder als ideal charakterisieren. Harūn al-Raschīd, legendärer Kalif aus 1001 Nacht, erscheint also mit ambivalentem Charakter, der durch die Idealisierung der Hörer und heutigen Rezipienten zum Idealbild eines Herrschers wird.

© Lilli Kobler (FU Berlin)


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Walther, Wiebke (1987) Tausendundeine Nacht. Eine Einführung, München, Zürich: Artemis.


7.4. Tradition und Innovation. Die Anwendung von 1001 Nacht als Medium der politischen und sozialen Kritik in der europäischen und der arabischen Literatur / Tradition and Innovation. Applying the stories of 1001 Nights as a medium for political and social criticism in European and Arab literature

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For quotation purposes:
Lilli Kobler (FU Berlin): Das Herrscherbild Harūn al-Raschīds in 1001 Nacht. Herrscherideal oder ambivalenter Charakter?. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/07_1/kobler16.htm

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