Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. August 2006
 

9.5. Recycling Culture. Ancient and Sacral Texts in (Post)Modern Literature and Art
Herausgeberin | Editor | Éditeur: Gabriella Hima (Budapest)

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Gyula Krúdy und Sindbad, der Schiffer - aus den Märchen aus Tausendundeiner Nacht

Der strahlende Aufstand von Gyula Krúdy

Zoltán Jánosi (Pädagogische Hochschule, Nyíregyháza)
[BIO]

 

Die ungarische Revolution von 1848 und 1849 und die darauffolgende Vergeltung erschütterten nicht nur die bisherige Ordnung Europas - auch wenn sie niedergeschlagen wurde -, sondern trieb zehntausende Familien auf vorher nicht geahnte Wege. Manche wurden gehängt, manche erschossen, manche gelangten nur nach Kufstein, manche - als Verbannte - auf türkischen, amerikanischen, französischen Boden: ungarische Honvedoffiziere dienten in zahlreichen Armeen der Welt - sie wurden häufig zum Opfer. Einige kamen nach Nyíregyháza. Denn es gab welche, die anstatt in fremde Länder auf eigenem Boden herumgetrieben wurden, zwar mit Amnestie, aber verzweifelt, und in ihren Herzen die Trauer über Világos(1), Branyiszkó(2) und Isaszeg(3) verbergend. Und da es hier nicht mehr möglich war, für die Heimat mit dem Schwert in der Hand zu sterben - wenn es auch möglich war, dann sinnlos - baute man die unzerstörbare das Nichtaufgeben der Hoffnung auf ein neues, unlängst erträumtes Ungarn, in die Gründung einer neuen Familie ein. Während vor den geistigen Augen von Paskiewitsch, der den Empfang des Zaren Nikolaus, dessen Hand der junge Franz Joseph küsste, eilig verließ, noch jahrelang ungarische Studentenhonveds marschierten, die - als Vorbild der Heldenhaftigkeit - vor seinem Heer geführt wurden.

Auf diese Weise, im Wirbelwind der Geschichte geriet der älteste Gyula Krúdy aus Oberungarn, der als Adjutant von György Klapka das berühmte Komárom bis zum letzten Moment des sinnvollen Kampfes verteidigt hatte und dessen Bruder, Kálmán Krúdy, die Waffen nie niedergelegt hatte, zuerst nach Kálló, dann nach Nyíregyháza. Der Leiter der Freischar wird erst lange nach Világos im Wald von Vadkert von Verrätern niedergeschossen. Der Honvedhauptmann, den man wegen seiner Ähnlichkeit mit Széchenyi nur den "Grafen" nannte, und später Kommandant des Honvedvereins, dann Kommandant des Pester Honvedversorgungshauses wurde - in seiner Blütezeit war er Komitatsoberstaatsanwalt -, wählte auch seine Lebensgefährtin aus dem kämpfenden Volk von 1848. Und dank seines Sohnes Gyula, dessen Mutter zur Zeit der Revolution Dienstmädchen war, und eines mörteltragenden Mädchens, Julianna Csákányi, versetzte sein unehelicher Enkel, der jüngste Gyula Krúdy dem Tor Fußtritte, und versuchte sich vorübergehend auf den Turngeräten, die im Garten des Großvaters aufgestellt waren - anstatt an den der Husaren abgenommenen Schwerter und ihrer zerschnittenen Ohren. Der spätere Schriftsteller, einer der größten und anerkanntesten geistigen Riesen des Komitats Szabolcs.

Das größte Erbe dieses Schriftstellers, der in den Herbstwind, auf den Meeresspiegel, auf wegrollende Blätter schreibt, ist die Familientradition von 1848, die sie in ihren muskulösen Körpern, ihren starken Knochen und ihren entschlossenen Blicken überliefert hat. Der junge Krúdy nahm die ihm auferlegte Zeit und "die ungarische Hölle" mit diesem Trotz an. Sein Leben ist ganz Revolte: er wurde in Nyíregyháza, als Mitglied der ungarischen Gentry und Künstler geboren, und ist zu einem großen Entlarver von Weltniveau, zum Asketen des Fleißes geworden, besonders wegen der um seine Person entstandenen Legenden. Als Motto und Mahnung schreibt er ans Tor zum 20. Jahrhundert, als noch wenige ahnen, welche Schicksalsprüfungen Europa vor sich hat: "Jeder Mensch muss sein Leben von vorne anfangen, nackt. Vielleicht um sich nicht darüber zu ängstigen, was einem noch bevorsteht."

Der von Szatmár, Nyíregyháza, Podolin, Debrecen, Großwardein geprägte Mann, der die Zeichensprache der Stille der Nyírgegend, der Herren auf der Hetzjagd, der Haine und der Schilfdickichte so sensibel wahrnimmt, kommt gerade im Jahr des Millenniums, 1896, nach Budapest. Er nahm die Romane von Boccaccio, Dickens, Victor Hugo, Walter Scott, Byron, Thackeray, Puschkin, Zola, Maupassant, Turgeniew, Mark Twain und Jack London nicht in seiner Reisetasche mit, sondern in seiner Erinnerung. Auch das Erbe der großen Ungarn der Jahrhundertwende: Jókai, Mikszáth, Reviczky, Bródy, Lovik, Petelei, Thury und Gozsdu, außerdem mehrere hundert eigene Artikel und Feuilletons, aber all das reicht nicht aus. Auch der hartnäckige Trotz des Erbes von 1848 ist notwendig dafür, dass ihn die Weltstadt, die triumphal über das ganze Land wie ein Drachen wuchs und von den weiten Ecken des Landes, Szabolcs und Szatmár, Lichtjahre entfernt prunkte, nicht verschlingt, wie hunderttausend andere.

Aber die Zeit ist mit ihm an den rechten Mann gekommen. Obwohl um Krúdy der Klang von Pferderennen, Kartenspielen, Duellen ertönt, und die Girlanden und Tänzerinnen der Festsäle der Hotels Meteor, Astoria und Royal ihn umgeben, schreibt er auch an seinen diamantenen Erzählungen und an seinen Romanen, und bald verfasst er die Geschichte der Stadt! Nach einigen Jahren sprechen Buda und Pest über ihn und weben Legenden um seine Person. Diese "großen Märchen" über die stänkernden, den Mann in seinem schriftstellerischen Sein kränkenden, zerschnittenen Husarenoffiziere, über die im Joch der Kutsche scheuenden Pferde lassen seinen schriftstellerischen Rang noch nicht erkennen, aber schon im Voraus polieren und verzieren sie ihn. Und ab 1910 überragen die Werte der ungewöhnlichen künstlerischen Qualität die Person von Krúdy, dem Duellanten und dem Liebhaber. Und mit Recht: was die oberflächliche Welt nicht sehen konnte - er arbeitete zwölf Stunden pro Tag. Es ist bis heute noch ein Geheimnis, wann er Zeit für seine lilafarbige Perlschrift aus seinem turbulenten Leben erübrigte, um wie viele Stunden er den Tag verlängerte.

Aber die Blätter wurden immer mehr. Zuerst kamen die Gentrys und die Fräulein, und wie Krúdy den Gentry betrachtet, ist grotesk und dunkle Ernüchterung zugleich. "Wäre das die berühmte ungarische Mittelklasse, die ich retten möchte? Diese Erzhalunken?" Der besessene Eduárd Alvinczi, der am Ende seiner Fahrt in der Postkutsche in die nach Eremiten riechenden Gärten der Nyírgegend kommt, stellt sich die Frage. "Wo sind jene Männer, in deren Grabstein man einmeißeln wird: alles ist verloren, nur die Ehre ist geblieben?" "Sie sind schon längst nach Amerika geflohen" - unterbrach ihn der verkommene Herr, der Alvinczis Ausbrüche hörte." Danach kamen die alltäglichen Helden, die Verstoßenen und die Hochstapler der Stadt: die Hausmeisterinnen, die Waschfrauen, die Sekundanten, die Kassiererinnen, die Pferdehändler, die Lohnkutscher, die Briefträger, die Offiziersburschen, die Miedermacherinnen, die Kartenlegerinnen, die Falschmünzer, die Teufelsaustreiber und die Leichenwäscher, lauter schwindelnde, wunderliche, seltsame, schrullige Figuren: das ganze kränkelnde Ungarn. Dann kam Kázmér Rezeda und Zathureczky, dann Titusz Széplaki, Herr Palaczky und Ligetsarki und Karolin Turf (das Blumenmädchen), Graf Pincsi und Toronygombi, Lajos Podolini und Guszti Szomjas, Herr Józsiás und Aladár Zérus, dann János Czifra, der Bestatter. Die meisten sind "besessen, extrem dargestellte Karikaturen einer untergehenden Zeit, einer zerfallenen Gesellschaft", schreibt Béla Katona, einer der besten Krúdy-Forscher des Komitats Szabolcs. Aber nicht nur über die Gentry, sondern auch über den Bürger und über die kleinen Leute ist das Bild deprimierend: das trifft auch auf das Bild der Empfindlichkeit des Zeitalters gegenüber der Kunst zu: "Die Fleischerfrau nahm einen Gedichtband hervor, aus dem sie ein paar Blätter herausriss, um daraus Tüten zu machen - für die Speckgrieben."

Diese lebendigen, menschliche Schicksale tragenden Namen sind aber auch Gesichter und Augen. Auch Bekleidung, Trachten - rauschende Röcke, Hüte, Schals. Und den Gesetzen "der Dichtung der Namen" sogar Musikinstrumente! Kontrabässe, Geigen, Kirchenorgeln oder quietschende Ziehharmoniken an der Straßenecke. Diese Namen sind auch Landschaften. Im Sonnenschein funkelnde Berghänge, sich aus den Karpaten schlängelnde Flüsse, Hügelhänge mit Weintrauben, Wege im Sand. Diese Namen bedeuten: Ungarn. Nicht nur das krankhafte, das morsche, sondern auch das in den Träumen dieser Unglücklichen erschienene Ungarn; was es in der Geschichte hätte sein können. Jenes Gesicht, das nur glückliche Länder tragen, und das wir auch hätten tragen können, wenn - wie es István Örkény kurz und bündig formulierte - "wir bei Világos gesiegt hätten, und Paskiewitsch mit blutendem Kopf geflohen wäre."

Aber der verbitterte Krúdy sieht tiefer. Er vernimmt die Agonie des Landes bereits zu dem Zeitpunkt, wo der Gentry, der Magnat und der Kleinbürger den Walzer in Wien zusammen spielen lässt, und in der Nacht, vor der Burg, vor dem Fenster von Franz Joseph, der wegen Arad(4) immer noch unruhig schläft, zusammen das Lied brüllen, "Ungarn, du bist schön, wunderschön". Und Illyés, der zu dieser Zeit noch als Kind sein Buch "Das Volk der Pussta" in seinen Knochen erlebt, dieses dunkelste Dokument des inneren Kolonialismus.

"Wir haben im Leben schon genug Komödien gesehen, Majmunchen", flüstert Sindbad in die Ohren seiner schon alternder Geliebten, und weiterhin sucht er den zerzausten Traum des Menschen, auch des Ungarntums, noch lieber in den schmalen Gehwegen der Kleinstädte und in den schneebedeckten Wäldern. Den keine inneren Spannungen, keine scharfen und schnellen Messer der Kriege, kein grausamer Wille der Großmächte mehr quälen. Der in seinen Helden dargestellte Mensch aufersteht in seinen Werken als morgendlicher Nebel von traurigen Wäldern.

Ab 1910 sieht er voraus, und nach Trianon wird ihm gewiss, welche Perspektiven Ungarn in einem in Interessenzonen zerschnittenen Europa erwarten kann. Und wenn es ihm von der Monarchie übel wurde, sah er nun an Stelle des süßen Verfalls nur dürre Zukunftslosigkeit und die barbarischen Verheißungen der Zukunft. Er kämpft nicht, wie Móricz oder Ady. Die "dumpfe Unwissenheit" von László Németh empfindet er als "schreckliche Aussichtslosigkeit", wo die Geschichte nur noch nach oben, in Richtung des Himmels, der oberen Räume offen ist.

"Ich mag diese heutige Welt nicht", schreibt er. "Man sagt, es sind Übergangszeiten. Ich will aber keinesfalls in einer Übergangszeit leben. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass ich jemals forderte, auf die Welt zu kommen. Ich will auch nicht mehr wissen, worüber man sich freuen kann, wenn man Ungar ist." Er beschäftigt sich also nicht mit den großen Fragen der Geschichte, sondern mit Problemen wie zum Beispiel: "Wird noch im Blauen Fass Erdbeerschnaps getrunken?" Er verbirgt sich hinter Geschmäcken, Flügeln, Gerüchen und Frauen.

Anstatt der großen Zentren, der starken Burgen, der Hörner, der Versprechungen herumschreienden Kehle lässt Krúdy die bisher stumme Welt sprechen: die der Details, der Grenzzonen, der kleinen Vollkommenheiten, der Stimmungen, des vielfarbigen Strahlens der Lichter. Auf dem Strom dieser Kraft, die den Stil und die Komposition bestimmt, segelt er in das Meer der Weltliteratur. Er will uns keine Ideen, keine Aufgaben aufzwingen, sondern spornt uns zum ständigen Denken an, und erhebt kontinuierlich die winzigen Werte des Lebens vor uns. Die Zeit leuchtet manchmal am Ende einer Zigarre auf, die die finsteren Ecken des Alls erhellt, oder die Seele blitzt von den seidenen Strümpfen einer Dame in den Kosmos. Die Zeit kratzt manchmal auf dem Ton der säuselnden Blätter ein Zeichen in die zeitlosen Winde, oder sie sendet mit den schneebedeckten Flügelfedern der Tauben oder mit der Erinnerung an einen vergangenen Fliederduft Botschaft, und sie singt die aus den Schrotmühlen der Geschichte geretteten Menschen aus den Winkeln krummer Gassen hervor.

Krúdy ist Genie. Etwa fünfzig Jahre vor den totzitierten westlichen Philosophen stellte er fest, dass dieses Sein kein Zentrum hat. Oder wenn es schon einen solchen Mittelpunkt gibt, dann gibt es mehrere zugleich, gleichgestellt und mit wechselnder Kraft und mit wechselnden Rollen. Dies entdeckend - gegen die Jahrhundertwende nahezu einzigartig in der ungarischen, aber auch in der Weltliteratur - verschiebt er das Zentrum der Prosa von den kreischenden Wendepunkten der Geschichte und des Privatlebens, von den "schwierigen" Feldern des nationalen und des individuellen Schicksals, von dem ständigen Rebellieren der auf sich gestellten Bauern und der Arbeiter, von den Herrenschlösschen des Adels, von den bürgerlichen Häusern, von den staatlichen Ämtern, von den Kasinos unter die Umhängetücher und Röcke der Frauen, in die Kneipen von Óbuda, in die Weingläser, oder als wandernder Brennpunkt - sogar ins Innere einer einzigen Postkutsche. Warum nicht? Nirgends auf der Welt gibt es einen sicheren Punkt, nur vielleicht noch die Persönlichkeit selbst. "Als würde ich mir selbst in der Abenddämmerung folgen", schreibt er. "Die Zeit vermischt sich wie Sand."

Deshalb wird neben Budapest auch Podolin, neben Wien auch die Nyírgegend, die letzte Bank der letzten oberungarischen Pfarrkirche zum Zuhause seiner Helden, und gleichrangig mit den Boulevards der Großstadt. Móricz, Pál Szabó, Péter Veres, Kodolányi legen diesen Brennpunkt in die Bauernhöfe, Tersánszky in die Hütte des Landstreichers, László Németh ins Eigenschaftsideal der intellektuellen Existenz, Lajos Nagy, Attila József an die Peripherie der Stadt, Babits in die "heiligen" westlichen Ideale. Krúdy, als hätte er die langen Schatten der europäischen Geschichte vorausgesehen, wirft den Brennpunkt von den nach Knochen und Salpeter riechenden Schlachtfeldern in "die guten Gaststätten", in die Kneipen, und natürlich in die Reihen des schöneren Geschlechtes, also auch ins öffentliche Haus. Wo noch Reste der Freude übriggeblieben sind, und die Fräulein sowieso Puschkin-Zitate an ihren Strumpfhaltern tragen. Wie es einer seiner schlauen Helden sagt: "In unserer Zeit, wo die edlen Gefühle: die Frömmigkeit, die Treue, die Ehre, die Freundschaft, der Patriotismus aus der Welt allmählich aussterben, kann nur die Liebe die Illusion der längst vergangenen Zeiten zurückzaubern. Nur die Frauen können die zum Tier gewordenen Männer verbessern. Und den Frauen muss man jede Gelegenheit geben, die Arbeit an der Verbesserung der Männer auszuführen."

"Es gibt Momente, die aus der Zeit heraushängen." Diese glänzend-schmerzenden Worte hat Sándor Weöres in eines seiner Gedichte hineingewoben. Krúdy scheint lauter solche Momente ergriffen zu haben. Die sprachliche Erfassung der Peripherien des Seins bewegt auch seine sprachlichen Neuerungen. Sein Lebenswerk wird auf diese Weise zur großen Ausdehnung der Sensibilität und der Tapferkeit der ungarischen Sprache, zum Verstärker ihrer Auffassungs- und Ausdrucksfähigkeit. Er schafft keine neuen Wörter, sondern er stellt sie in radikal neue Beziehungen, die sowohl die kleinen Regungen als auch den weiten Horizont der Welt ausdrücken können. Die innersten Gesetze seiner Redefiguren werden von diesen beiden einzigartig aufeinander abgestimmten doppelten Wünschen gesteuert.

Wie sich seine Augen in die Pester Nacht vertiefen, und darüber hinaus in die Erinnerungen an Podolin, und noch darüber hinaus in die sommerliche Stille mit dem Schnaufen der Windhunde, tritt plötzlich Sindbad, der Schiffer, aus den Märchen aus Tausendundeiner Nacht hervor. Wo man nicht einmal zum Schatten der reinsten Ideen werden kann, denn das Land mit eingestürzter Zukunft kracht nur in der Dunkelheit, wie ein menschenleeres Deck, kann nur die Heimatlosigkeit ihren Helden schaffen. In so einer Gegend kann nur die Heimatlosigkeit zum Erlebnis gemacht werden, und darin die Nostalgie der ehemaligen und in der Zukunft noch möglichen Heimat.

Während Krúdy die Lichter des Jugendstils, der Postromantik, des Impressionismus, des Surrealismus und der Groteske in seiner Figur vermischt, läuft der ungreifbare, aber überall - auch in diesem Raum - anwesende Sindbad in seinem schwarzen Überzieher in den Raum vor den die Menschen quälenden Gerichten hinaus. In seinen Beinen nur mit der Verheißung der Heimat, denn die Heimat ist in der Wanderung. Sindbad ist die in den Menschen hinübergerettete Lebensfreude, die aus der wilden Geschichte, aus der Zeit herausgehobene Hoffnung in einer stolperigen, bitteren Zeit. Der im Menschen wohnende lebendige Vogel, seinen eigenen Ängsten gegenüber. Die einzige Treue und der einzige Überrest der Heimat. Sindbad symbolisiert das Beileid für den Menschen: den Geschmack der Geburt, das Licht der sich entfaltenden Worte.

Sindbad ist die geflohene Menschheit, die die Geschichte anschreit, dass die Menschlichkeit den Menschen verlässt. Sindbad zeigt die verlorene Perspektive der Dinge. Er lässt die Musik des Flüsterns, den Zauber in der weiblichen Bewegung wieder erkennen. In der Zeit, die den Menschen sowieso zu Staub mahlt, lässt er uns noch einmal sehen, warum es sich lohnt zu leben. Sindbad ist die fliehende Menschheit. Er verkörpert die menschliche Grundsituation des 20. Jahrhunderts: den Zustand des gehetzten, fliehenden, auf die Straße gezwungenen Menschen. Sindbad ist der erste Emigrant, dem später Hunderttausende folgen, aus ihrer Heimat und aus ihrem Sein gehetzt, getrieben, hinausgestoßen, in der europäischen und in der ungarischen Geschichte. Wer nach Ozean, nach Salz und nach Freiheit riecht, und vor Träumen, vor billigem Wein, vor Müdigkeit wegen der Frauen schwankt, als ginge er immer auf dem Deck der ewig unsicheren, mitteleuropäischen Stille spazieren. Denn von hier sind sie emporgekommen. Er ist also die Heimatlosigkeit in der Höhe. Aber auch ein souveränes und bewahrendes Reich, weil er frei geblieben ist, frei mit dem Blinken seiner Augen, mit der barbarischen Kraft der Farben, mit den Lichtern der Röcke, mit dem Geschmack des Rindergulasch und der Frühlingszwiebel.

Weil Sindbad nicht deportiert werden konnte. Er konnte nicht zum Arbeitsdienst getrieben werden wie Radnóti, Antal Szerb, Gelléri, Rejtő und Béla Pásztor. Sindbád konnte nicht erschossen und in die Donau geworfen werden. Er konnte auch nicht zur "Malenkij robot" geschleppt werden. Und schon in Szolyva verhungert sein oder in der Taiga erfrieren. Er konnte auch nicht interniert werden. Er konnte nicht über der Maros, der Latorca und der Donau übersiedelt werden. Ihm konnten die Nägel nicht herausgerissen werden. Er konnte nicht dazu gezwungen werden, nicht begangene Taten zu gestehen. Auf seine gegen die Tyrannei demonstrierende Person in der Masse konnte kein Salvenfeuer eröffnet werden. Auch unter die Kadaver im Zoo konnte sein zusammengedrahteter Körper nicht begraben werden. Sindbad ist geflohen.

Alf laila wa-laila: er wurde aus der Tausendundeinsten Nacht geschickt, aber dieser Held indischer Herkunft mit arabischem oder persischem Namen ist vielleicht der am meisten enttäuschte Europäer, und vielleicht der traurigste Ungar. Diese Prosa wuchs zu einem großen dichterischen Lebenswerk an, mit dem riesigen Drama der ungarischen Existenz darin. "Multikulturalität, Intertextualität", könnten wir die postmoderne Lektion zitieren. Aber wie wenig ist das, wenn es um Krúdy geht! Sindbad ist das Große Licht - der sich in Sándor Márai, Zoltán Huszárik, Zoltán Latinovits, Iván Mándy, Miklós Mészöly und noch in Hunderten und in Tausenden fortsetzt. Sindbad ist die aus dem Grab herausflatternde Menschheit. Eine bittere mitteleuropäische Erfahrung. An seinen Haaren die Hoffnung der Menschen, in seinem Glas der Funken sprühende Wein der Zukunft, unter seinen Füßen nur Zeit anstatt Boden, in seinen Augen die Menschheit, die seinem Schicksal den Rücken kehrt.

Der seine Heimat immer öfter aufsuchende Schriftsteller kommt am Ende seines Lebens noch zweimal nach Nyíregyháza - beides Mal in der Luft. Zuerst macht er eine wirkliche Flugreise, auf der im Jahre 1931 eröffneten Flugroute zwischen Budapest und Nyíregyháza. Zwei Jahre vor seinem Tod macht er aus der Höhe noch Notizen. Von den Wolken herunterblickend sieht er folgendes: "Mit einer zweirädrigen Kutsche, mit einem unbändigen Zugpferd, mit einem am Schwanz des Pferdes sitzenden Kutscherjungen bin ich aus Nyíregyháza weggegangen. ... Jetzt komme ich in die Nyírgegend mit dem ersten Flugzeug zurück." "Eine Stunde von der Hauptstadt entfernt ist nun eine Robinsonsche Gegend zu sehen." Das zweite, das längere, das "himmlische" Heimkehren findet nach dem Tode des Schriftstellers statt, in den Regionen des Geistes, und dauert mehrere Jahrzehnte. Es manifestiert sich vor allem in den sechziger Jahren an immer mehr Gedenkzeichen: an Gedenktafeln, an Statuen, an der Benennung von Bühnen, Straßen, eines Gymnasiums, eines Kinos, eines Hotels und der Redoute, an einer ständigen Museumsausstellung und an einer Reihe von Konferenzen und Büchern. Während dieser zweiten, himmlischen Fahrt nimmt er in seiner Heimatstadt immer mehr Platz ein, und zeichnet seine Züge auf den Stadtplan immer deutlicher ein. Wer das heutige Nyíregyháza besucht, wird von vielen Seiten - am kathartischsten in der Nähe der neuen Statue von Imre Varga - vom bekannten Klang des Cellos angesprochen.

Wie Sindbád und die anderen Helden von Krúdy immer unvergänglicher in die Weltliteratur hineinwuchsen, wurde der alternde, lebende Schriftsteller von der Zeit und der Geschichte mit immer größeren Stößen aus dem Sein ausgestoßen. Er hat Probleme mit seinen Lungen, mit seinem Herzen, mit seinem Magen und mit seinen Beinen, darüber hinaus bekommt er eine halbseitige Gehirnblutung, seine Wohnung wird gekündigt. Es gibt Lexikons, die ihn bereits im Jahr 1931 verewigen. 1932 musste dieser Schriftsteller, der ein Lebenswerk von Balsacscher Größe hinterließ, den Eid ablegen, dass er kein Vermögen hat.

Als die Beamten nach seinem Tode sein Erbe inventarisierten, zählten sie die folgenden Güter als irdischen Besitz des Schriftstellers, der hundertdreißig Bände verfasste, zusammen: zwei gestreifte Hosen, einen schwarzen Anzug, einen braunen Pullover, acht Hemden, einen grauen Überzieher, zwei Hosenträger, einen grünen und einen grauen Hut. Aber zu dieser Zeit passte unter den grauen Hut ganz Europa hinein.

Worüber mag Krúdy zum letzten Mal, bevor er die Welt in einem sindbadlosen Zittern endgültig verlassen hat, geträumt haben? Über die Bäume in Sóstó, über das unkeusche Schilfdickicht, über die mit seinen bunten Blicken auch unruhige Stille der Nyírgegend, oder über den Großvater aus dem berühmten Komárom? Kaum. Er muss von einer Frau geträumt haben, denn er schrieb kurz davor, dass "der Tod die enttäuschten Männer gerade in der Gestalt einer Frau aufzusuchen pflegt". Aber diesmal war diese Frau sicherlich der Engel der Freiheit - in der Gestalt des kleinen Blumenmädchens - und anstatt ihres Körpers hat sie die Finsternis mit Blumen bestreut.

Außer der Aufstellung von Gedenkzeichen hat die Stadt Nyíregyháza und das Komitat in den letzten Jahrzehnten auch mit Dutzenden von Büchern und Essays dazu beigetragen, dass das Krúdy-Verständis sein heutiges Niveau erreicht hat, dass das weltliterarische Niveau seines Lebenswerkes anerkannt wird. Mit seinem 1931 - zwei Jahre vor Hitlers Machtantritt - geschriebenen Roman (Eszter Solymosi aus Tiszaeszlár), dessen Thema der 1883 in diesem Raum geführte Tiszaeszlárer Blutanklage-Prozess ist, warnte er die Menschheit vor den ideologisch trüben Absichten, vor den Vorurteilen und vor der die Menschen in den Abgrund reißenden Hysterie; zwei Jahre bevor Thomas Mann seinen Roman Joseph und seine Brüder, der die Prinzipien der Nazis und die jüdischen Mythen miteinander konfrontiert, in Druck gab, wo die Gefahren der aus den Gräbern hervorschleichenden Schatten nur noch wenige wahrnahmen. Heute ist in diesem Raum - neben den Porträts von Eduárd Alvinczi, Kázmér Rezeda und Sindbad - ist auch Gyula Krúdy anwesend. Ein durch seine durchbrochenen Sätze "den ins Schöne gewobenen Glauben des Menschen" schützender, nach vorne sehender, tapferer Mann. Die nüchterne Seele über das sich verwirrende Europa. In diesem Raum leuchtet auch dieses Gesicht von Krúdy.

Dabei leuchtete, als er starb, nur noch sein in den Büchern schwebender Geist. Der Strom war bei ihm schon abgeschaltet, weil er sie nicht mehr bezahlen konnte, und auch um seine Leiche loderten nur Kerzen. Einige Straßen von seinem Geburtshaus entfernt, in der Nähe seines ehemaligen Geburtsbettes leuchtet diese Kerze heute hier wieder auf. Und diese kleine Kerze hat einen riesigen Mondhof. Der ab heute seinen Namen tragende Saal - im Herzen seiner Heimatstadt - kündet nicht nur dem Lande, sondern auch dem unter seinen Kaninhut gesteckten Europa davon, dass der Enkel des an der Revolution im Jahre 1848 beteiligten Honvedoffiziers und der Marketenderin, Gyula Krúdy, ungarischer Schriftsteller - auf seiner Sindbadschen Reise - zu Hause angekommen ist.

(Der Text wurde am 21. Oktober 2003 an der feierlichen Hauptversammlung der Stadtvertretung der Stadt Nyíregyháza vorgetragen, als zum 125. Jubiläum der Geburt von Gyula Krúdy der Festsaal des Stadthauses den Namen des Schriftstellers bekommen hat.)

(Die wichtigsten Quellen des Textes sind Czine, Mihály: Gyula Krúdy. In: Geschichte der ungarischen Literatur von 1905 bis 1919. Hrsg. Miklós Szabolcsi. Budapest: Akadémiai Kiadó, 1965. S 370-389); Katona, Béla: Der lebende Krúdy. Artikel und Essays über das Lebenswerk von Gyula Krúdy. Selektiert und herausgegeben von Zoltán Jánosi. Nyíregyháza: Direktorat der Museen des Komitats Szabolcs-Szatmár-Bereg, 2003; Romane und Erzählungen von Gyula Krúdy bzw. Texte aus dem Film Szindbád von Zoltán Huszárik und Sándor Sára.)

© Zoltán Jánosi (Pädagogische Hochschule, Nyíregyháza)


ANMERKUNGEN

(1) Am 13. 8. 1849 legt die ungarische Armee die Waffen in Világos nieder.

(2) Am 5. 2. 1848 brechen die ungarischen Truppen am Branyiszkó-Engpass durch.

(3) Am 6. 4. 1849 schlägt die ungarische Armee die Österreicher in der Schlacht von Isaszeg.

(4) Am 6. 10. 1849 wurden in Arad 13 Generäle der Revolution hingerichtet.


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Zoltán Jánosi (Pädagogische Hochschule, Nyíregyháza): Gyula Krúdy und Sindbad, der Schiffer - aus den Märchen aus Tausendundeiner Nacht. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: ../../../index.htmtrans/16Nr/09_5/janosi16.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 14.8.2006     INST