Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Juni 2006
 

12.1. Reisen und Ortswechsel: Interdisziplinäre Perspektiven
Herausgeber | Editor | Éditeur: Arnold Groh (Technische Universität Berlin)

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Spontane Kartographie und andere Zeichnungen:

Stadien unterschiedlicher Realitätskonstrukte in Neuguinea (West-Papua)

Rosemarie Plarre (Berlin)
[BIO]

 

In der Zeit von November 1978 bis April 1979 hatte ich Gelegenheit, die nachfolgenden Untersuchungen in Eipomek und Kosarek, in Irian Jaya, Indonesien durchzuführen. Im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms "Mensch, Kultur und Umwelt im zentralen Bergland von West-Neuguinea" sollte in einer umfassenden Bestandsaufnahme die Kultur zweier noch steinzeitlich lebenden Stämme der Eipo und der Yalenang erfaßt werden, bevor durch eine verstärkte Missionierung tradierten Formen verlorengingen.

Es war vorgesehen, die Untersuchungen in den folgenden Jahren fortzusetzen, um die bisherigen Ergebnisse zu überprüfen. Wirtschaftliche und politische Gründe machten dies unmöglich. Die vorliegende Arbeit bleibt eine Momentaufnahme.

Rahmenbedingungen

Die Menschen und ihre Lebensweise im Eipomektal sind bis 1976 ausführlich beschrieben worden (Eibl-Eibesfeldt, 1976; Koch, 1984). Die Situation hatte sich 1978/79 infolge zweier schwerer Erdbeben und der damit verbundenen Zerstörungen dahingehend verändert, so daß sich die Bevölkerung zu neuen, kleinen Gemeinschaften zusammenschloß. Zudem war im Tal durch die Anlage eines neuen Airstrips die Missionsstation Eipomek der UFM (United Field Mission, Kanada) ausgebaut worden. Es war höchste Zeit für eine letzte Bestandsaufnahme.

Die Eipo selbst folgten zu der Zeit jedoch weiterhin ihrer herkömmlichen Wirtschaftswiese, auch wenn im Zuge der Missionierung mehr oder weniger zwingend versucht wurde, die Lebensformen der Menschen zu verändern. Sie waren weitgehend ohne Schriftlichkeit. Eine Missionsstation westlich des Eipomektales bemühte sich durch Gründung einer Schule um die Alphabetisierung von einheimischen Jugendlichen mit sehr mäßigem Erfolg.

Die Kommunikation erfolgte über die tradierten Formen. Im Umgang untereinander und im besonderen mit anderssprachigen Menschen unterstrichen die Eipo und die Yalenang ihr Kommunikationsbedürfnis mit einer ausgeprägten Körpersprache. Das Kommunikationsmittel Sprache konnte auch durch Zeichen ersetzt werden. So brachte uns im Eipomektal der junge Mann Tatau als Willkommensgruß eine sorgfältig in Blätter eingewickelte, besonders große Süßkartoffel, was wohl soviel hieß wie: Ihr könnt bleiben (Abb. 1). Denn das Anbieten von Nahrung galt allgemein als starker bindender Appell (Eibl-Eibesfeldt, 1976).

Abb. 1

 

Kosarek war 1978/79 eine Missionsstation der Geridja Kristen Ingil (GKI). Der Einfluß der Kirche auf die Bewohner fand Ausdruck in sonntäglich stattfindenden gottesdienstähnlichen Versammlungen in dazu eigens erstellten Gebäuden. Die Kirche betrieb gezielt ihre Institutionalisierung, Widerstände der Bewohner waren nicht erkennbar. Es existierte ein Schulgebäude, dessen Klassenraum mit Tischen und Bänken eingerichtet war. Die Lehrer der Station Irianesen wechselten häufig, sie konnten sich in der kulturell und psychisch extrem anderen Umwelt und der damit verbundenen Isolation nicht zurechtfinden. Seit Oktober 1978 war die Schule wieder einmal geschlossen. Am 24. 12. 1978 wurde auf Veranlassung des Missionspfarrers ein Krippenspiel aufgeführt. Die Ausstattung der Laienspieler mit Attributen der westlich-europäischen Konsumwelt T-Shirts, Handtücher, Hosen sehr farbenfroh, produzierte in diesem Zusammenhang ganz nebenbei, vielleicht auch vordergründig beabsichtigt, für den einen oder anderen Zuschauer Begehrlichkeiten, die alte Werte verdrängten. Die Weichen zur Akkulturation waren in Kosarek gestellt. (Abb. 2)

 

Die Schulkinder sprachen sowohl in Eipomek als auch in Kosarek ein gebrochenes, grammatikalisch vernachlässigtes Indonesisch, die in den Staats- und mittlerweile auch in den Missionsschulen gelehrte offizielle Landessprache. Sie waren dennoch weiterhin ohne Schriftlichkeit.

Ist keine Schriftsprache in Form von Geschriebenem vorhanden, so übernehmen die verschiedensten Zeichen die Konservierung menschlicher Erfahrung. Damit bedient man sich eines Mechanismus, bei dem alle Teilnehmer an der Sprachkonvention die gleiche Ebene einnehmen. Die Ritzornamente (eipo: lirwe) auf Ohrpflöcken (Koch, 1984, S.32), das bemalte Gesicht des Mannes aus Eipomek (Abb. 3) und die Körperbemalungen der Frauen aus Kosarek (Abb.4) sind gleichermaßen Faktoren mit Information wie die eingangs erwähnte in Blätter gewickelte Süßkartoffel. Diese Zeichen besitzen ein hohes Maß an Abstraktion. Der Abstraktionsgrad wird deutlich, wenn ein Außenstehender versucht, den realen Inhalt der Zeichen zu entschlüsseln.


Abb. 4

Abb. 3

 

Über diese Zeichen hinaus, waren zeichnerische Darstellungen mit inhaltlich verschiedenen Realitätskonstrukten im Sinne des Materials, bis zum Kontakt mit den Feldforschern des Schwerpunktprogramms in Eipomek und zum Teil auch in Kosarek von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen nicht angefertigt worden.

Das Herstellen von zeichnerischen Darstellungen blieb also bis dahin an die provokanten Fremdmaterialien, Papier und Stift, eng gebunden.

Die freien Zeichnungen, die Briefe und die gezielten Mitteilungen als neue Faktoren der Information wurden schnell entdeckt, akzeptiert und produziert.

Der Umgang mit dem Material Papier und farbige Filzstifte und seine Handhabung bereiteten keine Schwierigkeiten (Abb. 5 und Abb. 6).

 

Die zeichnerischen Darstellungen: Einordnungskategorien

Bei den nachfolgenden Betrachtungen werden die Darstellungen nach Startzeichnungen und Aufbauzeichnungen geordnet.

Geht man davon aus, daß sich beim Herstellen der Konstrukte Nicht-Beschulte und Beschulte beteiligten, so sollen die zeichnerischen Darstellungen der Nicht-Beschulten Startzeichnungen heißen, weil diese noch weitgehend ohne fremde Anleitung am Beginn einer speziellen psychischen Entwicklung der Informanten und ihrer technischen Organisation mit Papier und Stift stehen. Die Aufbauzeichnungen dagegen können bereits Ausdruck einer fortschreitenden Organisation von Gedächtnis- und Wahrnehmungsschemata durch einen ein- oder mehrjährigen Schulbesuch sein und durch den damit verbundenen Kontakt zu Papier, Stift, Fibeln und nicht zuletzt zum Lehrer mit seiner individuellen Prägung.

Die methodischen Abgrenzungen erfuhren in zweifacher Hinsicht eine Lenkung.

Die Farbauswahl trafen die Informanten ganz für dich selbst, individuell. Jeder konnte etwas aus dem Gedächtnis zeichnen, etwas gerade Gesehenes nachahmen, wie z.B. die Aufzeichnungen der Feldforscher. Die Ausnutzung des Zeichenblattes wurde ebenso nicht beeinflußt. Es wurde lediglich eine Nachfrage vorgenommen, um Aufschluß über die Inhalte der abgebildeten Konstrukte zu erhalten, die eigenen Vorstellungen zu kontrollieren, zu korrigieren und damit Fehlinterpretationen soweit nur irgend möglich auszuschließen.

 

Umfang des Materials

Im Februar 1979 entstanden auf diese Weise in Eipomek 68 zeichnerische Darstellungen mit unterschiedlichen Realitätskonstrukten; 55 freie Zeichnungen, 9 Briefe und 4 gezielte Mittelungen. Daran waren 17 Informanten beteiligt, 13 männliche und 4 weibliche. Im Dezember 1978 entstanden in Kosarek 9 Arbeiten, im März 1979 weitere 53, insgesamt 62 freie Zeichnungen.

Die Inhalte in den freien Zeichnungen beziehen sich auf Informationen über die Umwelt, die Dinge des täglichen Lebens, die Menschen. - Das Niederschreiben gesammelter Daten durch die Feldforscher rief eine starke Nachahmungstendenz hervor: Die Informanten wollten nun ihrerseits Briefe mit wichtigen Inhalten schreiben , um eben Gedachtes und Gesagtes auf dem Papier festzuhalten. - Die gezielten Mitteilungen sind insofern von den Briefen unterschieden, als sie sich auf nachprüfbare kartographische und demographische Mitteilungen hier aus dem Eipomektal beziehen.

 

Interpretation ausgewählter Beispiele von Start- und Aufbauzeichnungen

Der Versuch, das gesammelte Material zu interpretieren und auf seinen Realitätsbezug hin zu überprüfen, geht nach der vorbeschriebenen Einteilung

  1. freie Zeichnungen

  2. Briefe

  3. gezielte Mitteilungen

vor und verwendet zur weiteren Differenzierung die Einordnung nach

und orientiert sich schließlich am Stufenfolgemodell nach Piaget & Inhelder (1973).

a) Freie Zeichnungen

Lingdebum
(m., ca. 8 Jahre alt, Eipo)

zeichnet eine Natter (eipo: kwatema) oder einen Regenwurm. Das Kopfende wird durch einen dicken Punkt hervorgehoben. Der schlangenartige Körper hat eine dichte Querstreifung, die im mittleren, breiteren Teil durch den Bogenschwung der Linien eine leicht räumliche Wirkung vortäuscht. Der Fisch (indonesisch: ikan) erhält rundum wuchtige Flossen, während der Kopf und das Schwanzende nur angedeutet sind. Die Frau neben dem Fisch ist ausgewiesen durch ihre Grasschamschürze, einem wesentlichen Bestandteil ihrer traditionellen Kleidung. Die schematisierte Darstellung erhält dadurch eine geschlossene Kontur. Finger und Zehen der Frau sind mit Ausnahme der Finger an der rechten Hand Striche in beliebiger Anzahl. Der Kopf der Frau besteht aus mehreren dicken Punkten; so ist eine genauere Differenzierung nicht möglich. Zwischen einzelnen Figuren wird der Fluß Eipomek abgebildet (Startzeichnung, Abb. 7).

 

 

 

Melingde
(m., ca. 10 Jahre alt, Eipo)

zeichnet den Weiler Dingerkon als spiralförmige Figur, wie sie auch durch Tarikna zur Kennzeichnung eines Weilers benutzt wird. Die baum- und strauchumstandene Umgebung des Weilers deutet er durch verschiedenartige Kritzel an, Kritzel, in denen nicht nur überwiegend Bögen und Schleifen erscheinen, sondern auch Ecken und Winkel. Quer über das Blatt fließt mit bewegtem Wasser der Eipomek. Melingde zeichnet den Menschen noch als Kopffüßler. Der Kopf ist durch die Andeutung von Haaren betont, die Augen und der Mund oder die Nase beleben die Figur. Arme und Beine enden mit denen als Kreuze angedeuteten Händen und Füßen. Was die Kritzel außerhalb der Flußbegrenzung abbilden sollen, ist nicht bekannt (Startzeichnung, Abb. 8).

 

Tarikna
(w., ca. 10 Jahre alt, Eipo)

bei ihr treten ebenfalls Kreiskritzel auf, die sie zur Andeutung von Tieren und Pflanzen einsetzt. Sie zeichnet das vom Eipomek durchflossene Tal mit Stegen, den Weilern, den Menschen. Der Fluß trennt und verbindet zugleich; denn über die Stege kann man von einer Seite zur anderen gelangen. Feine Querstriche deuten an, daß dies an mehreren Stellen möglich ist. Der lange Weg vom Weiler Londini am unteren Bildrand durch eine größere spiralförmige Figur hervorgehoben zum Gartenland wird auf der ganzen Länge des Blattes linksseitig durch einen, nur einmal unterbrochenen Strich von unten nach oben und weiter abgeknickt am oberen Bildrand beschrieben. Tarikna führt den Stift behutsam. Nur wenige Kreiskritzel treten durch einen energischen Stifteinsatz hervor. Die zur Verfügung stehende Blattfläche nutzt sie voll aus (Startzeichnung, Abb. 9).

Feiku
(w., ca. 12 Jahre alt, Eipo)

gibt in ihren zeichnerischen Darstellungen schon wichtige Merkmale zur Kennzeichnung eines Objektes wieder. Die Eidechse (eipo: bal), in Aufsicht gesehen, ist untergliedert in Kopf, Rumpf, Gliedmaßen. Am Kopf treten die beiden seitwärts neben den Kopfumriß gesetzten Augen hervor. Die Untergliederung von Kopf und Rumpf wird durch den Ansatz der Vordergliedmaßen im Nackenbereich erreicht; sie enden in den vier Fingern. Die Hintergliedmaßen sind am Rumpfende angesetzt; sie enden in drei Zehen. Das Schwanzende der Eidechse ist schließlich mit Strichen aufgefächert. Der Rumpf des Tieres erhält eine Strukturierung durch eine rasch vom Kopf zum Körperende hin und hergeführte Längsstrichelung. Die beiden Strichmännchen wirken neben der Darstellung der Eidechse eher flüchtig, flach, fremd. Betrachtet man ihre Beine, ihre Hände, ihren Schulterschwung, so sind sie in der Strichführung von großer Übereinstimmung. Ihre Körper haben Gesichter Nase, Augen und sind deutlich vom Köper abgehoben, an der Längsachse angesetzt. Andere Zeichner, z.B. Lingdebum, konnten die Strichmännchen Feikus als Abbildung eines Menschen identifizieren (ninye: Mensch, Leute; Abb. 10).

Feiku zeichnet auf einem weiteren Zeichenblatt aber auch eine andere Variante der menschlichen Figur: die Frau wird versehen mit den weiblichen Merkmalen, der Mammae, neben die Körperlängsachse eingezeichnet. Die Körperbegrenzung ist durch zwei seitlich daneben gezogene Längsstriche angedeutet. Am Kopf ist der Umriß vernachlässigt, obwohl Augen, Mund und Nase wiedergegeben werden. Die Arme der Frau gehen über in die dreifingerigen Hände. Die Frau selbst befindet sich zwischen zwei Häusern (eipo: aik/asik) im Weiler Londini. Aus der Vogelperspektive schaut man auf die Dächer der Häuser mit ihrem Blattwerk, und an diese angesetzt, werden die Häuserwände strahlenförmig nach außen geklappt. Ein Hubschrauber (eipo: [me]kwen: fliegen) wird ebenfalls von Feiku in das Bild eingefügt. Kreise, lange Striche, geschlagene Punkte sind phantasievoll in den einzelnen Konstrukten zusammengefügt (Startzeichnung, Abb. 11).

Kwengkweng
(m., ca. 15 Jahre alt, Eipo)

Seine Aufbauzeichnungen gehen einen Schritt weiter in dem Bemühen, realitätsgenähert Konstrukte der beliebig ausgewählten Objekte herzustellen. Es ist anzunehmen, daß er im Rahmen eines Alphabetisierungsversuches auf einer der Missionsstationen der UFM vielfach Gelegenheit hatte, mit bis dahin nicht verfügbaren Fremdmaterialien Stiften, Papier, Abbildungen in Lesebüchern - in Berührung zu kommen und damit umzugehen. Er zeichnet die Winkelkopfagame mit Kehlkopf und Stachelreihe korrekt, desgleichen die überlangen Zehen an die paarig angesetzten Beine des Tieres (Abb. 12).

Ein zweites von ihm gestaltetes Blatt unterstreicht sein Bemühen. Der Schäferhund des Missionars erhält als besonders auffallendes Merkmal die über den Kopfumriß gezeichneten Augen. Die Pfoten des Tieres sind durch eine Anzahl von geschlossenen Kreisen betont. Der Vogel, das Huhn, der Krebs, die Süßkartoffel haben die ihnen gemäßen Umrisse. Kwengkweng arbeitet mit feinen Strichen, g eschlagenen Punkten die typischen Merkmale der Dinge heraus. Die Schriftzüge ETOTmeik, NALCA zeigen die Schwächen auf dem Weg zur Schriftfähigkeit. Die neuen Dimensionen Lesen und Schreiben sind in seiner tradierten Gesellschaft ohne Anbindung und damit bedeutungslos (Abb. 13).

Musa
(m., ca. 16 Jahre alt, Yalenang)

Musa fertigt eine ähnlich differenzierte Zeichnung wie Kwengkweng an. Er hatte bis Anfang 1979 bereits 1 ½ Jahre lang die Missionsschule mit Unterbrechungen in Kosarek besucht. Sein Bemühen, etwas realistisch darzustellen, ist ebenso unverkennbar und gelingt im Rahmen des intellektuellen Realismus:

So erhält der Baum durch schwungvoll eingesetzte Striche Geäst und Blätter, das Haus des Missionspfarrers hat Eingangstür und Fenster, die Fische gehören offensichtlich einer Spezies an, Rückenflossen und Schwanzflossen sind deutlich herausgearbeitet. Der Mensch und das Schwein fallen sofort auf. Er bemüht sich hier, eine Teilbewegung darzustellen; beim Menschen fallen die links angesetzten Doppellinien an Rumpf und Beinen auf, die Stellung der Füße in die gleiche Richtung und das Hervorheben der Ellenbogen und Kniegelenke verstärken die Teilbewegung. Musa geht den entscheidenden Schritt von der Schema(zeichen)sprache zum Zeichenbild, auch wenn die Teilbewegung zunächst isoliert innerhalb einer stereotypen Gesamthaltung der Figuren steht. Im Schriftbild vermischen sich, ähnlich wie bei Kwengkweng aus Eipomek, Schreibschrift und Druckschrift miteinander (Aufbauzeichnung, Abb. 14).

Willem
(m., ca. 22 Jahre alt, Yalenang)

Willem hatte mehrere Jahre eine Missionsschule besucht. So besitzt er einige Schreib- und Lesfertigkeiten und beschriftet die Objekte seiner Zeichnung selbst. In seiner Zeichnung wird die Hinwendung zum visuellen Realismus erkennbar; sie berücksichtigt schon die Anordnung nach einem Gesamtplan. Alles wird von Willem in eine Bildkomposition von der Missionsstation eingefügt. Dabei kommt es zu Vermischungen von Sehwinkeln und Pseudoumlegungen. Dargestellt werden: Blumen, Bäume, Sträucher, Pfarr-, Schul-, Kranken- und Besucherhaus der Missionsstation.

Die Arbeit wurde ohne Unterbrechung an einem Nachmittag in einer Sitzungsdauer von ca. 2 Stunden gefertigt. Die Malfreude, die Freude am Effekt kommt hier besonders zum Ausdruck (Aufbauzeichnung, Abb. 15).

Briefe

Kinder und Jugendliche, gelegentlich auch Erwachsene Eipo und Yalenang fanden Gefallen daran, so zu schreiben wie die Feldforscher, die ständig die Seiten in ihren Notizbüchern mit bedeutungsvollen Zeichen füllten. Die in Eipomek und Kosarek von Kindern unternommenen Schreibversuche unterscheiden sich in nichts von denen schriftunkundiger Kinder unseres Kulturkreises. Die Schriftbilder bauen sich bis hin zum Buchstabenbild in ihren einzelnen Differenzierungsstufen in gleicher Weise auf, wenn sie sich aus einer Nachahmungstendenz ableiten. Dies zeigen die Beispiele von Komurban und Deke.

Komurban
(m., ca. 12 Jahre alt, Eipo)

schreibt in durchgehenden Zeilen, erkennt keine einzelnen Wortkonstrukte. Deutlich ist seine Absicht, einzelne buchstabenartige Figuren, Schleifen und Kreuze herauszuarbeiten. (Bei Vernon (1974) werden buchstabenartige Figuren für Nachahmungs- und Genauigkeitstests bei Kindern beschrieben.) Komurban unterbricht seine Schreibbemühungen und fügt Tausendfüßler und Menschen als Gedächtnisparameter ein, ehe er die Zeilen mit stärker rechtwinkeligen Formen wieder aufnimmt (Startzeichnung, Abb. 16).

 

 

Deke
(m., ca. 16 Jahre alt, Eipo)

fügt, sehr dekorativ wirkend, genau wie Komurban freie zeichnerische Elemente und Schriftkritzel zusammen. Die drei unteren Zeilen gehen dadurch über in die Konstruktion der Hauswand, um sich weiter bis hin zum rechten Blattrand fortzusetzen. Die kürzeren Kritzel in der Mitte zeigen den Eipomek. Aus der Vogelperspektive sieht man die Häuser von Londini als Innenpunkt mit Kreis dargestellt. Dieser Innenpunkt gibt die markante Spitze der Runddächer an. Deke hebt auch in der Aufrißzeichnung seiner Häuser diese Spitze stets hervor. Kreiselement mit Innenpunkt heißt bei Deke wie auch bei anderen Informanten: Haus! (Startzeichnung, Abb. 17)

Unbekannter Informant

Der in Abb. 18 gezeigte Schreibversuch ist besonders bemerkenswert, denn er zeigt spiegelbildartig wiedergegebene Schriftzüge. Dieses Phänomen, spiegelbildartig zu schreiben, findet man auch zuweilen bei uns unter Schreibunkundigen, nicht selten auch bei Schreibanfängern.

Abb. 18

 

 

 

Gezielte Mitteilungen

Die gezielten Mitteilungen mit kartographischem und demographischem Inhalt sind insofern von großem Interesse, als sich an ihnen aus der Beschränkung auf einen Ausschnitt der gegebenen Sachumwelt die Übereinstimung von Realität und Aussage einfach erkennen läßt. Vom Standpunkt des Informanten aus gesehen, verlangte das, was man unter einer gezielten Mitteilung versteht, einen konvergenten Denkvorgang. Denn nur eine Lösung der selbst vorgegebenen Aufgabe konnte richtig sein.

Der Arbeitsanstoß erfolgte auch hier ohne besondere Aufforderung. Er ergab sich eben aus der an Ort und Stelle zur Sicherung von Daten praktizierte Gepflogenheit der Feldforscher, mündliche Mitteilungen schriftlich, bisweilen zeichnerisch-skizzenhaft in einfachen Handzeichnungen festzuhalten. So entstanden Wegepläne von Dorfschaften, Baulichkeiten, Nachbarschaften.

 

 

Buryan und Fereto

Die von Buryan (m., ca. 8 Jahre alt, Eipo) gefertigte Skizze vom Weiler Londini weicht bei der Zuordnung der Häuser in ihrer Lage zueinander von der Realität ab (Abb. 19). Die Anzahl der Häuser neun Familienhäuser und ein Männerhaus ist korrekt. Dem Weiler vorgelagert gibt es jedoch nur zwei Baulichkeiten. Ein Weg verbindet Weiler und Randgebiet. Es stimmt, daß der Weiler von Bananenstauden umstanden ist, und daß an den einzelnen Häusern Tabak angebaut wird. Die Familienhäuser werden auch bei ihm als Kreis mit Innenpunkt hervorgehoben. Der größere Kreis ohne Innenpunkt in der Mitte des Weilers soll der Männerversammlungsplatz sein. Das abseits des Weilers gelegene Frauenhaus wird von Buryan nicht eingezeichnet; es ist für männliche Mitglieder der Gemeinschaft tabu.

Buryan versucht in einer zweiten Skizze, das Gebiet des oberen Eipomektales   darzustellen   (Abb. 20). Die zentrale geographische Markierung ist der Eipomek, den man überqueren   muß, wenn man südlich die Dorfschaft Malingdam erreichen will. Als geographische   Orientierungspunkte bietet Buryan noch die im westsüdwestlichen Areal durch das Erdbeben von 1976 entstandene   kahle Gebirgsformation an (motokwe:   Berg), das im Osten befindliche Gartenland (wawiwe) und einen im Norden vorhandenen   Graben oder schwer begehbaren Weg (bisik: Weg, Richtung). Die Familienhäuser sind selbstverständlich auch in dieser Skizze durch einen Kreis mit Innenpunkt kenntlich gemacht. Die anderen im Gelände angegebenen rechteckigen Konstrukte stellen Häuser mit Satteldächern dar, wie sie häufig im Gartenland errichtet werden (Startzeichnungen).

Abb. 20

 

Abb. 19

 

Fereto
(w., ca. 20 Jahre alt, Eipo)

Fereto kam täglich nach ihrer Gartenarbeit zum Gespräch an unserem Zelt vorbei, und so war ein reger Gedankenaustausch von sachlichen Daten und persönlichen Begebenheiten möglich, dessen Anknüpfungspunkte die eigene und die fremde Welt waren. Fereto hatte im Februar 1979 eine kleine Tochter, Tonye.

Aus der erwähnten Kommunikationsebe ne heraus, etwas zeichnerisch-skizzenhaft und sprachlich zu formulieren, fertigt Fereto eine Mitteilung zur Wegeführung vom Weiler Londini zum Weiler Serabum mit seinen Häusern im oberen Eipomektal an. Obwohl Tonye sie dabei stört, folgt Fereto konsequent und konzentriert ihrer Strategie. Sie zeichnet zunächst den Pfad von Londini nach Serabum. Am unteren Blattrand links angesetzt, beginnt die gefährliche Wegstrecke. Die unwegsamen Stellen werden in engen Kritzeln angegeben. Unterwegs findet man auch Eßbares, Eidechsen, Engerlinge. Angekommen, unterscheidet Fereto 19 Familienhäuser und weist besonders auf das Frauenhaus hin. Das Frauenhaus hat im Leben der Eipo-Frauen wichtige Funktionen. Zu Zeiten der Menstruation, auch anläßlich der Geburten halten sie sich dort auf und werden von anderen Frauen versorgt. Für Eipo-Männer ist es tabu. Das Männerhaus des Weilers für Frauen tabu wird von Fereto nicht erwähnt (Abb. 21 und 22).

Fereto möchte in ihrer Mitteilung auch Situationsbezüge aufzeigen, Gedanken zu bestimmten Begebenheiten einbeziehen. Bedenkt man, daß Fereto am Anfang zeichnerischer, vielleicht schriftlicher Ausdrucksformen steht, so ist interessant, die von ihr gewählten Mittel einfache, schematisierte Formen zu entwickeln in die Reihe ähnlicher Abläufe anderer Ethnien zu stellen. Sucht man nach Erklärungen und zieht man Vergleiche mit althergebrachten Schriftsystemen, etwa mit jenem, das von der Urbevölkerung der Osterinsel stammt, so finden wir auch dort ein System von Schriftzeichen, deren Bedeutung ganze Handlungsabläufe bargen und die z.B. als Gedächtnisstütze bei der Rezitation auswendig gelernter Gesangstexte dienten.

Fereto erläutert an weiteren Tagen ihre Skizze in gleicher Weise (Startzeichnung).

Abb. 22

 

 

 

Schlußbetrachtung

Als den Eipo und den Yalenang erstmals Gelegenheit geboten wird, mit Papier und Stift freie zeichnerische Darstellungen zu fertigen, entsprechen die Entwicklungsstufen vom einfachen Kritzel bis hin zur Bildkomposition dem Stufenmodell von Piaget & Inhelder (1973). Das ist auch dann der Fall, wenn ihr Start nicht im Kleinkindalter, sondern erst in einem späteren Lebensabschnitt erfolgt. Die Aufbauzeichnungen zeigen, daß Defizite von Gestaltungsgliederungsmustern aufgearbeitet werden, wenn die psychische Bereitschaft vorhanden ist, in weitere spontane zeichnerische Erkundungen einzutreten.

Die anregende Provokation durch neue Bilder im Rahmen von Alphabetisierungsversuchen werden die traditionellen Kommunikationsmittel beeinflussen.

Die als Briefe/Schreibversuche bezeichneten Darstellungen unterscheiden sich in ihrer Anlage und Differenzierung nicht von denen schriftunkundiger Kinder in unserem Kulturkreis, sofern sie aus der Nachahmungstendenz heraus entstehen: Die durchlaufende Zeile differenziert sich in die Aneinanderreihung einzelner Wortkonstrukte, Buchstabengruppen bis hin zu einzelnen Buchstaben.

Die gezielten Mitteilungen kartographischen und demographischen Bezuges lassen kulturspezifisch eingepaßte Ansätze im Hinblick auf Entwicklung von Schriftfähigkeit erkennen. Dabei werden Konstrukte wie Wohnhaus als Kreis mit Innenpunkt, Weiler als Spirale, Tiere und Menschen in schematisierten Strichzeichnungen als Gedächtnisparameter entwickelt und genutzt. Diese Konstrukte gewinnen öffentliche Bedeutung und werden zum Kommunikationsmittel, wenn die Beteiligten an der Sprachkonvention die neu entwickelten Zeichen erfassen und diese schriftlichen Formulierungen ihrerseits auch verwenden. Am Beispiel Fereto wird das Phantasiepotential in Abstimmung mit der gegeben Sachumwelt bei der Abfassung gezielter schriftlicher Mitteilungen deutlich.

Die Informanten hatten die Möglichkeit, zwölf verschiedenfarbige Filzstifte zum Zeichnen zu benutzen. Bei den Eipo ist die Bevorzugung der Farben Grün (fast 50%) und Schwarz (fast 44%) in ihren zeichnerischen Darstellungen besonders auffallend. Diese Farbpräferenz, so möchte man annehmen, steht in Einklang mit ihrem Lebensraum und ihrer 1979 noch traditionell gelebten Kultur. Die Yalenang bevorzugten dagegen ein erweitertes Farbenspektrum, so daß eindeutige Farbpräferenzen in ihren zeichnerischen Darstellungen nicht zum Ausdruck kommen. Welche Akkulturationserscheinungen (Schule, Missionierung) die Yalenang bei der Auswahl der farbigen Filzstifte zusätzlich beeinflußten, wäre zu diskutieren.

© Rosemarie Plarre (Berlin)


ANMERKUNG

(1) Vgl. Plarre (2005).


LITERATUR

Eibl-Eibesfeldt, Irenäus: Menschenforschung auf neuen Wegen. Wien, München, Zürich, 1976.

Koch, Gerd; Malingdam - Ethnographische Notizen über einen Siedlungsbereich im oberen Eipomek-Tal, zentrales Bergland von Irian Jaya / West-Neuguinea, Indonesien. Berlin, 1984

Piaget, Jean: La construction du réel chez l'enfant. Neuchâtel, 1963
ibid: La naissance de l'intelligence chez l'enfant. Neuchâtel, 1963

Piaget, Jean & Inhelder B.: Die Psychologie des Kindes. Studienausgabe, 2.Aufl., Olten, Freiburg i. Br., 1973

Plarre, Rosemarie: Wegskizzen und andere Mitteilungen. Zeichnungen und spontane Kartographie in Neuguinea. In: Groh, Arnold (Hrsg.): beWEGung. Akademische Perspektiven auf Reisen und Ortswechsel. Berlin: Weidler, 2005, 173-208

Vernon, M.D.: Wahrnehmung und Erfahrung. Köln, 1974


12.1. Reisen und Ortswechsel: Interdisziplinäre Perspektiven

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Rosemarie Plarre (Berlin): Spontane Kartographie und andere Zeichnungen: Stadien unterschiedlicher Realitätskonstrukte in Neuguinea (West-Papua). In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: ../../../index.htmtrans/16Nr/12_1/plarre16.htm

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