Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. März 2006
 

13.1. Migration als Faktor sozio-kultureller Innovationen
Herausgeberin | Editor | Éditeur: Tamara Fesenko (Tambov, Rußland)

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MIGRATION ALS SOZIOKULTURELLES PHÄNOMEN (*)

Tamara Fessenko (Tambover Staatliche Dershavin-Universität, Russland)
[BIO]

 

Abstract

Das Ziel dieses Beitrages ist, den Blick auf einen neuen Aspekt des vieldiskutierten Themas der Migration - und zwar auf die Wechselwirkung der Migration und der Rezipientenkultur - zu richten.

Da der Prozess der Migration heutzutage ein wichtiger Bestandteil der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Wirklichkeit vieler europäischer, asiatischer und amerikanischer Länder darstellt, ist diese Frage im Kontext der modernen europäischen Integrationspolitik von besonderer Bedeutung.

Die Migration übt ihren Einfluss nicht nur auf das soziale Klima und kulturelle Niveau der Gesellschaft aus, sondern auch auf die Bewusstseinsstrukturen, Mentalität und Kulturnormen.

Migration bringt auch innovative Impulse in verschiedenste Bereiche wie etwa in die Literatur, Kunst, Musik, Pädagogik usw. ein. Dieser Vorgang spiegelt sich sowohl in der Sprache als auch in den Kunst-, Musik-, Literaturformen wider, wodurch in einer Gesellschaft Entwicklung oder Stagnation hervorgerufen werden kann.

Im Beitrag werden die soziale Kultur, Persönlichkeitsstrukturen und Meinungsänderungen der "Russland-Deutschen"-Migranten in der Bundesrepublik Deutschland analysiert, ihre konzeptualen und sprachlich-kulturellen Veränderungen erforscht, welche ihre innovativen auch reproduktiven Integrations- und Anpassungsversuche widerspiegeln.

 

In unserem Beitrag sollen folgende wichtige Richtlinien der Migrationsforschung thematisiert und detailliert untersucht werden:

  1. Migration als anthropologischer Strom
  2. Migrationstypologie
  3. Migrationspolitik in Europa und Russland
  4. Innovationseinflüsse der Migration
  5. Diskurshaftes Modell der Russlanddeutschen in der deutschen Soziokultur.

 

1. Relevant für unsere weitere Stoffdarlegung ist, den Begriff der "Migration" exakt zu definieren. In dieser Hinsicht können wir behaupten, dass Migration als Kombination unterschiedlicher Ereignisse zu betrachten ist, die ihre ihnen eigentümlichen Spuren in der Gesellschaft und Kultur hinterlassen. Diese Position lässt uns im Begriff "Migration" vier Hauptkomponenten unterscheiden:

- Migrationsmotivation
- Immigration
- Emigration
- Migrationsauswirkung.

 

2. Im Rahmen unserer Problemstellung sind folgende typologische Merkmale der Migration von Bedeutung:

-Ziel - Zeit/Raum - Menge/Anzahl

Als "Schlüsselmerkmal" gilt normalerweise das Ziel.

Die Zielsetzung kann freiwillig, gewaltsam oder erzwungen/notgedrungen (wie etwa eine Evakuierung aus Regionen aufgrund ethnischer Konflikte oder ausgelöst durch Öko-Katastrophen) sein. Folglich kann die Migration als eine freiwillige, gewaltsame oder erzwungene Migration charakterisiert werden.

Angesichts der Menschenrechtproblematik ist es angebracht auch über den Freiwilligkeitsgrad der Migration zu sprechen.

Unter dem Gesichtspunkt des Faktors "Zeit/Raum" ist es möglich, die Migration als kurzfristige bzw. langfristige und als administrative und soziokulturelle zu bestimmen.

Migration ist ein wichtiger Mechanismus um Anthropoströme und ihre Auswirkungen auf die soziokulturellen Eigenschaften der Grundidentität zu untersuchen.

Wir betrachten die Migration als einen Sozioprozess, der die Entwicklung des Soziosystems (der Gesellschaft, der bestimmten Kultur, schließlich - der Welt) bestimmt.

Heutige Migrationsströme unterscheiden sich grundsätzlich von früheren. Das ist erstens dadurch bestimmt, dass die vorigen Migrationsströme vor allem mit dem Zerfall des Reiches verbunden waren, und die heutigen mit der Bildung der neuen Sozialstrukturen oder auch der Sozial-/Konfessionellennetze (von verschiedenen Islamorganisationen bis zu "friedlichen" Nationalgemeinschaften), die mit der Zielkultur nicht korrelieren.

Früher wurde durch die Umverteilung der Menschenressource die Umformatierung/Umgestaltung des politischen Raums bedingt, und jetzt - des ökonomischen und informatorischen Raums.

Neue "Migrationswellen" werden durch neue Ursachen hervorgerufen - im Vergleich zu den alten, die beim Reichszerfall entstanden, doch sie haben mit ihnen eine bestimmte Zusammensetzung und zwar, sie erhalten - unserer Meinung nach - ihre Hauptrichtungen. Wir können drei uns interessierende Richtungsteile hervorheben:

a) GUS (und "Ostnachbarländer") ↔ Russland;
b) Russland ↔ Europa;
c) "Russlanddeutsche" ↔ Deutschland (an diesem Beispiel wird die Einwirkungsspezifik der allgemeinen Migrationsgesetze in bestimmten Lokalräumen verfolgt).

Moderne Migrationsprozesse hängen in erster Linie mit der Entwicklungsungleichmässigkeit in unterschiedliche Räumen zusammen, was hauptsächlich Informationstechnologien betrifft.

Je höher das Entwicklungsniveau dieser Technologien, desto höher ist das Lebensniveau und desto attraktiver (für die Immigranten) erscheint dieses Territorium.

In unserem Beitrag wollen wir detailliert untersuchen, welche Teile der bestehenden Migrationsströme in welchem Masse auf die soziokulturelle Lage der Zielländer einwirken. Strukturell werden von uns auch ähnliche Komponenten in den oben genannten Richtungen gesondert.

Analysiert werden hierbei vor allem Arbeitsmigration, Flüchtlinge und Aussiedler (Russlanddeutsche).

In der Arbeitsmigration kann man ganz deutlich zwei Bestandteile unterscheiden, die diametral entgegengesetzt die Entwicklung des Zielterritoriums beeinflussen.

Einerseits ist für die post/nach-industrielle Entwicklung das Heranziehen intellektueller Ressourcen notwendig, dies ruft aber einen "Gemüterverlust" (seitens des weniger entwickelten Territoriums) hervor.

Andererseits jedoch beschleunigt die "Gemüterkonzentration" die Technologisierung und wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft und verstärkt somit ihre Anziehungskraft.

Dies alles führt zu einer Strömungssteigerung (sprich: Vergrößerung des Anteils) der Gelehrten und hochqualifizierten Fachleute, wodurch aber wiederum eine Erhöhung des Lebensniveaus in diesen Regionen bedingt wird.

Das alles betrifft die legale Migration.

Die Anziehung dieser Territorien vergrößert dennoch auch den illegalen Migrationsstrom, was andererseits zur Wirtschaftsdestabilisierung, Gesellschaftskriminalisierung und schließlich zur Transformation des soziokulturellen Gesellschaftskerns führen kann.

 

3. Die Reaktion in Europa und Russland auf die Migration (aus strategischer Sicht) ist im Prinzip die gleiche: Unterstützung der legalen und Beseitigung der illegalen Migration.

Im Beitrag wird detailliert untersucht, wodurch sich die Migrationspolitik in Europa von der in Russland unterscheidet.

Kurz gefasst kann man folgendes dazu sagen: die legale Migration findet ihre Anerkennung als eine der Strukturelemente der Zielgesellschaft schon Anfang der 80er Jahre. In dieser Zeitperiode beginnt sich das gesamte Migrationskontingent in Hinblick auf legale und illegale Migration zu polarisieren.

Anfang der 90er Jahre konnte man beobachten, dass die nationale Immigrationspolitik der europäischen Länder immer härter wurde, weil zu den weltweiten Migrationsprozessen diejenigen der osteuropäischen Länder, Russlands und den ehemaligen Sowjetrepubliken hinzukamen.

 

4. Im modernen Europa sollte Migrationspolitik, unseres Erachtens nach, als Politik der "Zukunft" erfasst werden, wohingegen eigentlich nur eine Politik gegen die illegale Immigration angestrebt wird.

Die BRD, die bis Ende der 90er Jahre über 60% aller Migrationsströme in Empfang genommen hat, besitzt Abkommen mit zahlreichen ost- und mitteleuropäischen Ländern über das Heranziehen von Gelegenheitsarbeitern, hochqualifizierten Facharbeiter sowie ausländischen Studenten .

Dieselbe Situation herrscht auch in England.

Es ist zu betonen, dass die strenge Polarisierung der staatlichen Beziehung zur legalen und illegalen Immigration auch weiterhin fortdauern wird, weil Migration im Grunde genommen für die Entwicklung des wirtschaftlichen Potentials notwendig ist.

Zu den negativen Seiten der Migrationsprozesse kann man die Aufrechterhaltung der ethnokulturellen Eigentümlichkeit der Immigranten, ihr mögliches Dominieren über die Kernbevölkerung des Ziellandes, Geburtenzunahme der Immigranten sowie Geburtenrückgang der Kernbevölkerung zählen.

 

5. Im Beitrag wird auch die Situation der Russlanddeutschen in der BRD im diskurshaften Rahmen und teilweise aus dem Blickwinkel der Zielkultur analysiert.

Das Problem der Kultur und ihrer Realisationseinheiten lässt sich im diskurshaften Rahmen neu erforschen.

In diesem Beitrag wird unsere Aufmerksamkeit sowohl auf die aktuelle, als auch auf die potentielle Kultur gelenkt.

Das System der aktuellen Kultur wird durch die aktualisierten Äusserungen und die in diesem sozialen Raum angewandten Zeichensysteme gebildet.

Das Subsystem der potentiellen Kultur bildet die Gesamtheit aller Äußerungen und Zeichensysteme in dem bestimmten Kulturraum.

Wodurch unterscheiden sich aktuelle und potentielle Kulturen?

Die potentielle Kultur wird im Prinzip von dem System der aktuellen Kultur und der Tradition gebildet. Aber die Tradition zerfällt ihrerseits wiederum in die potentielle und aktuelle (aktualisierte) Tradition. Als potentielle Tradition wird jene bezeichnet, deren Inhalt gespeichert wird, in der aktuellen (gegebenen) Kultur nicht funktioniert, doch immer abrufbar sein kann.

Sicherlich existieren Kulturen (Subkulturen), die entweder nur einen Diskurs, oder auch mehrere Diskurse verwenden.

Im Rahmen unserer Forschung verstehen wir unter Diskurs eine Art und Weise der Kulturäußerung, das heißt, mit Hilfe welcher Zeichen sich eine kulturelle Formation in der Zeichenwelt zu Wort meldet.

"Diskurs ist das systemische Zeichenrepertoire und die es organisierenden Generierungs- wie auch Benutzungsregeln und -normen einer kulturellen Formation, worunter die konkreten gruppenspezifischen Ausprägungen der Bestandteile einer jeden Ebene zu verstehen sind, die die gesellschaftliche und kulturelle Spezifik dieser Formation ausmacht und das sie differenzierende Merkmalsbündel darstellt" (Fleischer 1994 : 137 - 138).

Durch den Diskurs wird die "semiotische Wirklichkeit" einer kulturellen Formation "kreiert".

Anhand der durchgeführten Diskursanalysen lässt sich eine wichtige Eigenschaft von Diskursen beobachten, und zwar - ihre kulturelle Stabilität: trotz aller historischen und gesellschaftlichen Veränderungen weist die "Diskurslandschaft" kaum große Veränderungen auf.

Sind Diskurse stabiler als gesellschaftliche Formationen? Wir glauben, schon, sie verändern sich viel langsamer als diese Formationen und haben im Vergleich mit ihnen eine höhere funktionelle Belastung.

Diskurserforscher betonen mit vollem Recht, dass bei der Diskurslandschaftsanalyse zwei wichtige Bereiche zu unterscheiden sind: a) der unbewusste und b) der bewusste diskurshafte Bereich, diese beiden werden wir jetzt zu klären versuchen.

Der unbewusste (nicht direkt thematisierte) diskurshafte Bereich bezieht sich auf diejenigen Äußerungen, die markante Bestandteile (zum Beispiel, Kollektivsymbole) eines konkreten Diskurses, aber auch nur eine indirekt thematisierte Werte- und Normenhierarchie enthalten. Durch diese Diskursbestandteile lässt sich auch die Subkultur der Äußerungsautoren ermitteln.

Als Illustrationsmuster kann der folgende Text dienen:

Emigranten mit gehobenem Status

Selten nur fährt Rita am Wochenende nach Kehl. Jedes Mal wirken die Eltern ganz furchtbar angespannt. Eines Sonntags bemerkt sie erschrocken: Das dichte dunkle Haar ihres Vaters ist beinahe grau. Dabei gibt es keine akuten Existenznöte oder dergleichen, Heinrich Pauls hat auf eigene Faust Arbeit gesucht und gefunden, seit April 1990 ist er Gabelstaplerfahrer bei einer Baufirma, für den Kranführer eine Degradierung, doch mehr, als er erwarten konnte. Obwohl unterfordert, fürchtet er zu versagen, er fühlt sich beobachtet, unter lauter Rivalen, nichts von der schönen gewohnten Karagandiner Kollegialität. Dort war er ein Mann in den "besten Jahren", hier ist er mit seinen fünfzig "altes Eisen". Hätte das Leben für ihn und Tossja in Deutschland nicht noch einmal weit werden können? Es scheint, der grosse Akt des Fortgehens wird nur den Kindern Gewinn bringen (Lachauer 2003: 251 - 252).

Das Beispiel "Das dichte dunkle Haar ihres Vaters ist beinahe grau" gehört zum Feld der Kollektivsymbole und spiegelt tiefe (meistens schwierige und unangenehme) Seelenzustände dieser Person wider, was im kollektiven Unterbewusstsein als Klischee geprägt ist.

Also, Werte- und Normen-Hierarchien sind in der Kulturgruppe der Russlanddeutschen verschieden; auf ihre indirekte Thematisierung weist auch folgendes Beispiel hin: "...seit April 1990 ist er Gabelstaplerfahrer bei einer Baufirma, für den Kranführer eine Degradierung...".

Degradierung markiert im kollektiven Unterbewusstsein eine negative Bewertung (des Lebens, der Tätigkeit usw.) und illustriert das Vorhandensein unterschiedlicher Werte-Hierarchisierungsprinzipien in der deutschen National- und Subkultur.

Im bewussten diskurshaften Bereich wird ein konkretes Thema, ein gegebener Problembereich usw. direkt thematisiert.

Hier geht es um eine intentionale Anwendung eines bestimmten Diskurses, um (aus dieser Perspektive) über eine benutzende Subkultur zu berichten. Das für diese Subkultur spezifische Bedeutungs-Repertoire kann anhand der expliziten Aussagen (Äußerungen) rekonstruiert werden.

Als Beleg dafür kann der folgende Text dienen:

Verlängerte Jugend

Anders als ihre Cousinen und Cousins, die Vorkenntnisse aus dem Elternhaus haben, versteht Rita anfangs rein gar nichts. Eine klare Situation, sie lernt Deutsch als Fremdsprache. Und hat Glück, ihrem Antrag bei der Otto-Benecke-Stiftung für einen abiturvorbereitenden Kurs in Frankenthal wird stattgegeben. Bis zu dessen Beginn jobbt sie in einem Kehler Kaufhaus als Eisverkäuferin. Unwirklich schnell wird es nach dem milden oberrheinischen Winter Frühling. An einem der ersten lauen Tage erlebt sie etwas, das ihr Verhältnis zu Deutschland bis heute prägt. Ihre deutsche Kollegin, mit der sie den Dienst teilt, bittet Rita, die Nachmittagsschicht mit zu übernehmen, weil ihr Kind krank sei. Unterwegs in die Mittagspause entdeckt Rita per Zufall Mutter und Kind fröhlich am Rhein promenierend. "Warum hast du mich belogen?", fragt sie.

Mitten im Wortwechsel schreit die Kollegin plötzlich: "Du russisches Schwein!" Völlig verstört findet sich Rita wieder am Eisstand ein. Zwei junge Männer, ein Deutscher und ein Franzose, bestellen etwas, sie gibt das Falsche, dann noch mal das Falsche. "Was ist los?", erkundigen sich die beiden freundlich, da heult sie los. Die Männer verschwinden, weniger später kommen sie zurück mit zwei großen, bestickten Taschentüchern. Daraufhin weint sie noch mehr: "Weil das Leben so schön ist. Beinahe hätte dieser Tag meinen Glauben an Deutschland zerstört." (Lachauer 2003:245)

Dieses Beispiel ("Du russisches Schwein!") kann auf das Feld des kollektiven Bewusstseins und Unterbewusstseins hinweisen: diese Äußerung markiert bestimmte Diskurse der deutschen Subkultur und wird von den deutschen Kulturträgern manchmal als sprachliches Klischee benutzt. Dieser markante Diskurs-Bestandteil kann als Kollektivsymbol betrachtet werden: in jeder Kultur besteht ein Konsensbereich, der nicht mehr argumentativ begründet und benutzt werden soll.

Die Erforscher der Diskursprobleme betonen, dass Kollektivsymbole die Hierarchisierungsprinzipien und die Hierarchien selbst von Sub- oder Nationalkulturen widerspiegeln.

Diskurse der Subkultur der Russlanddeutschen spiegeln solche markante Bestandteile wider, die eigentlich auf eine bestimmte Erstarrung der Wertebestimmungen in der deutschen Kultur hinweisen.

Unter den Russlanddeutschen sind bestimmt ganz andere Normen- und Werte-Hierarchien vorhanden, deswegen fühlt sich diese junge Vertreterin der Kulturgruppe Russlanddeutsche beleidigt und enttäuscht. Es ist in diesem Zusammenhang zu bemerken, dass die Prinzipien, nach denen die Hierarchisierungen der Normen und Werte (von Subkulturen oder Kulturgruppen) vorgenommen werden, voneinander verschieden sein können. Das heißt, es existiert keine alle Kulturträger bindende und allgemeingültige Hierarchie. In jeder Kulturgruppe, Subkultur oder Kulturformation sind eigene, die Hierarchisierungsart bestimmende Prinzipien vorhanden, die markant für diese Kultureinheiten sind.

Die Untersuchungen der Kulturtypen ermöglichen uns festzustellen, dass die moderne deutsche Kultur, die für die Russlanddeutschen als Basiskultur dient, metaphorisch "Korrelationskultur" genannt werden kann, weil hier alle bekannten Stratifikationsebenen der modernen Kultur (kulturelle Gruppen, Subkulturen, Nationalkulturen und Interkultur) nach dem Korrelationsprinzip generiert ist.

In der deutschen Kultur funktionieren ganz unterschiedliche Werte und Normen, sowohl aktuelle (jetzt aktualisierte), als auch traditionelle, die in einem Komplex integriert sind, der doch in jeder kulturellen Formation unterschiedlich hierarchisiert werden kann. Beim Korrelationsprinzip ist also vertretbar, dass auf unterschiedlichen Stratifikationsebenen der Kultur verschiedene Werte- und Normen-Hierarchien gleichzeitig funktionieren, die von der Kulturgruppe, Subkultur oder Nationalkultur generiert sind (und von ihnen auch getragen werden); das heißt, innerhalb der modernen deutschen Kultur sind gleichzeitig gruppenspezifische, subkulturelle und nationalkulturelle Werte- und Normen- Hierarchien vorhanden.

Die durchgeführte Diskursanalyse lässt zusammenfassen, dass kein kultureller Zwang besteht eine allgemein bindende Hierarchisierung anerkennen zu müssen. Innerhalb der deutschen Subkultur, sogar innerhalb der Russlanddeutschen Kulturgruppe existieren unterschiedliche Werte-Hierarchisierungsprinzipien. Es ist zu betonen, dass in der modernen deutschen Kultur die Freiheit besteht, eine beliebige gruppenspezifische Hierarchisierung anzunehmen und dazu dementsprechende Prinzipien anzuwenden.

Die durchgeführte Stoffanalyse lässt folgende beobachtete Eigenschaften des modernen deutschen Kulturaufbaus anführen:

  1. Das gleichzeitige Fungieren unterschiedlicher Hierarchisierungsprinzipien, wodurch eigentlich das Vorhandensein unterschiedlicher hierarchisierten Werte- und Normenkomplexen im gesellschaftlichen Raum bestimmt wird;
  2. Das Fehlen einer allgemein bindenden Hierarchie der Normen und Werte;
  3. Das Fehlen des kulturellen Zwangs, eine obligatorische und allgemein bindende Hierarchisierung anerkennen zu müssen;
  4. Das Fehlen einer singulären Bewertungsgrundlage und das Vorhandensein mehrerer Bewertungsgrundlagen. Es handelt sich dabei um funktionale Bewertungen.

Es ist dabei zu betonen, dass in der modernen deutschen Kultur diverse Hierarchisierungen feststellbar sind, Hierarchie setzt im Prinzip immer eine Bewertung voraus. In dieser Hinsicht ist zu bemerken, dass Gruppen (oder Subkulturen), die aus der Hierarchie herausfallen (also die negativen Variante realisieren), aus dem Bereich der Kultur in solchen Fällen generell herausfallen: Sie werden von der Kultur abgelehnt und als "Nicht-Kultur" dargestellt. Das erleben auch Russlanddeutsche: in solchen Fällen wird ihnen die Existenzgrundlage kultureller Art entzogen und ihre Mitgliedschaft in der deutschen Kultur abgebrochen.

© Tamara Fessenko (Tambover Staatliche Dershavin-Universität, Russland)


(*) Die Untersuchung wurde mit finanzieller Unterstützung des RGNF im Rahmen des wissenschaftlichen Forschungsprojekts (RGNF) "Migration als soziokulturelle Realität" № 05-06-06232 а durchgeführt.


LITERATURVERZEICHNIS

1. Fleischer M . Die Wirklichkeit der Zeichen. Bochum: Brockmeyer, 1994. 479 S.

2. Lachauer U . Ritas Leute. Eine deutsch-russische Familiengeschichte. Hamburg: Verlag Reinbek, 2003. 430 S.

3. Fesenko T. A. Spezifika des nationalen Kulturraums im Spiegel der Translation. Tambov: TGU, 2002. 247 S.


13.1. Migration als Faktor sozio-kultureller Innovationen

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Tamara Fesenko (Tambover Staatliche Dershavin-Universität, Russland): MIGRATION ALS SOZIOKULTURELLES PHÄNOMEN. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: ../../../index.htmtrans/16Nr/13_1/fessenko16.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 3.3.2006     INST