Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. März 2006
 

14.3. Die böhmische Identität
Herausgeberin | Editor | Éditeur: Agáta Dinzl-Rybárová (Salzburg/Prag)

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Die Lage der Juden in der Karpatoukraine der 30er Jahre - nach Quellen der jüdischen Presse

Miroslava Kyselá (Mährisch Ostrau)
[BIO]

 

Die Karpatoukraine war nie ein selbständiges Staatsgebilde. In der Zeit der Donau - Monarchie gehörte dieses Land zu Ungarn. Nach dem Zerfall Österreich-Ungarns haben die nach Amerika emigrierten Ruthenen mit der tschechoslowakischen Regierung um die Eingliederung in die neue Republik verhandelt und dieses Faktum wurde 1919 in dem Abkommen der Friedenskonferenz von Sait-Germain festgelegt.

Damals wurde vereinbart, dass dieser autonome Teil der Tschechoslowakei südlich der Karpaten den Namen Karpatorußland mit der Haupstadt U žhorod tragen wird. Karpatorußland war ein sehr armes Gebiet, die Mehrheit der Einwohner ( 410.000) arbeitete in der Landwirtschaft. Obwohl die Tschechoslowakische Republik bestrebt war, die enormen Unterschiede im Lebensstandard und in der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung zu beseitigen, war dies sehr schwierig. Es wurden mehrere Fabriken, vor allem für Holz- und Nahrungsindustrie, aufgebaut, neue Schulen gegründet, Postämter, Straßen, Eisenbahnen, Telefon- und Telegrafenlinien ausgebaut, aber das Land war in der Zwischenkriegszeit immer zurückgeblieben und galt als das ärmste Gebiet der Tschechoslowakei. In den 30er Jahren war fast die Hälfte der Einwohner Analphabeten. Die hygienischen Bedingungen waren ungenügend und das Land wurde ständig von Epidemien bedroht. Der Alkohol tat ein Übriges und allzuoft wurden die jüdischen Branntweinschänker für das Elend verantwortlich gemacht.

In der Karpatoukraine lebte eine aus unterschiedlichen Nationen bunt zusammengesetzte Einwohnerschaft. Es wohnten dort nach der Volkszählung aus dem Jahre 1931 insgesamt 725.350 Einwohner. Die ursprünglichen Einwohner waren Ruthenen, von denen es 457.260 gab. Zweitgrößte Nationalität waren die Ungarn - 111.400. Die Juden bildeten fast 15 % der Einwohnerschaft, insgesamt 102.000, 36.000 Tschechen und Slowaken waren die kleinste Gruppe. Sie kamen in dieses Land als Lehrer, Staatsbeamte, Militärs und Polizisten. Daneben lebten in der Karpatoukraine 13.000 Rumänen und fast 2.000 Romas. Vor dem Ersten Weltkrieg waren im ganzen Karpatorußland 636 Schulen, davon 634 ungarische. Im Jahre 1931 waren dort schon 872 Schulen, davon 540 ruthenische, 130 ungarische, 30 slowakische, 150 tschechische, 14 deutsche, 7 rumänische und eine hebräische. Der Gründer und Direktor des hebräischen Gymnasiums in Mukatschewo, Chaim Kugel, war Abgeordneter des tschechoslowakischen Parlaments.

Die Einwohner der Karpatoukraine lebten meist in großer Armut. Die Situation verschärfte sich noch in der Zeit der Wirtschaftskrise zu Beginn der 30er Jahre. Die Lage der Juden analysierten verschiedene jüdische Zeitschriften in der Tschechoslowakei, vor allem die Brünner "Jüdische Volksstimme", die Prager "Selbstwehr" mit der Beilage "Blätter für die jüdische Frau" und die Preßburger "Jüdische Volkszeitung".

Die Juden lebten über das ganze Land verstreut und spielten im Wirtschaftsleben des Gebietes eine wesentliche Rolle. Ihre Einwanderung in größerer Anzahl, vor allem aus Polen, erfolgte erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie stellten in der Tschechoslowakei ein staatsbildendes Element dar mit ihrer Politik der Unterstützung und die Regierung kam ihren geschäftlichen Interessen meistens entgegen. Die Karpatoukraine war das einzige Gebiet in der Tschechoslowakei, wo noch Jiddisch gesprochen wurde. Teilweise gehörten die Juden Karpatorußlands zu den wohlhabenden Schichten, die sich mit dem Handel beschäftigten, die meisten aber gehörten zu den hungernden Proletariern.

Die jüdischen Frauen gründeten 1932 in Prag ein Hilfskomitee jüdischer Frauen in der ČSR für Karpatorußland. Sie sprachen die Frauen in anderen Orten an, veröffentlichten Aufrufe in den jüdischen und nichtjüdischen Zeitungen und organisierten verschiedene Hilfsaktionen auf dem ganzen Gebiet der Tschechoslowakei.

Im "Selbstwehr" erschien im Februar 1932 folgender Aufruf:

"An die jüdische Oeffentlichkeit! Arbeitslosigkeit und Hungersnot treten im Osten der Republik, ihrem ärmsten und kältesten Teile, als Folgen der allgemeinen Wirtschaftslage mit besonderer Schärfe auf. Tausende jüdische Familien sind auf das härteste betroffen: Sie sind dem Untergange preisgegeben, wenn nicht sofortige Hilfe kommt! War das Elend des jüdischen Proletariats in Karpathorußland in normalen Zeiten groß, so ist es gegenwärtig unerträglich: Kinder frieren in feuchten Kellerlöchern, Eltern haben kein Brot für sie! Hier müssen wir helfen! Rasch und ausgiebig! Helfen aus Menschlichkeit und Nächstenliebe. Helfen aus Solidarität"(1). Dieser Anruf zeigt ganz plastisch die Situation während der Krisenjahren.

Die Reaktionen auf diese und andere Aufrufe waren großzügig: Es wurden verschiedene Hilfsaktionen organisiert. Im März 1932 schrieben "Die Blätter für die jüdische Frau" über folgende Aktionen:

Diese Sammlungen begannen zu Anfang des Jahres 1932 und wurden

offiziell im April beendet. Die Organisation der Verteilung wurde so vorgenommen, dass durch Komitees in den Zentren der Bezirksstädte Vertrauensleute beauftragt wurden, die Waren an die Dörfer abzugeben und deren Verteilung zu kontrollieren. Die Leitung Des Komitees besuchte Karpatorußland und studierte die Lage am Ort, um weitere Hilfsaktionen vorzubereiten.

In der Leitung war Marie Schmolka, die Journalistin der "Blätter für die jüdische Frau". Ihre Arbeit erstreckte sich vor allem auf die karitativen Aktionen. Über ihre Erfahrungen in Karpatorußland berichtete sie dem Minister Krofta, schilderte ihm die Lage der Juden in Karpatorußland und verdeutlichte, dass es von moralischer Bedeutung wäre, wenn neben den staatlichen und halboffiziellen Aktionen, wie denen des Roten Kreuzes und der sozialen Fürsorge, auch spontane Hilfsaktionen pazifistischer und humaner Art von tschechischer Seite kämen, die zu einer Annäherung der Völker beitragen könnten.

Sie unternahm mehrere Reisen nach Karpatorußland, recherchierte zur Lage der dortigen Juden und schrieb zahlreiche Artikel, um die notwendigste Hilfe zu fördern. Sie beschrieb dieses Elend auf folgende Weise:

" Verchovina und Marmarosgebiet. Zwanzig Städtchenund Dörfer, die wir besucht haben, sind Variationen zu dem Thema: unvorstellbares Elend und seelische Versklavung, eine zwanzigfache Bestätigung, daß dieses Unwahrscheinliche wahr ist: ein wertvoller Zweig des jüdischen Volkes, ein Reservoir des unverfälschten Volkstums und Geistigkeit mitsamt seinen Mitbürgern, dem treuherzigen, gutmütigen ruthenischen Bauernvolk, ist einem schleichenden Siechtum preisgegeben."(2)

Das Karpatorußland dieser Zeit besuchten mehrere jüdische Journalisten und sahen in seiner Lage eine große Gefahr für die Jugend, die durch die Armut und den Mangel an Perspektiven der Demoralisierung ausgesetzt wurde. Tausende jüdische Kinder waren Analphabeten, hunderte von Waisen gingen ohne jede Obhut durch das Land von Ort zu Ort und aus Hunger wurden sie Diebe. Tausende junge Leute waren arbeitslos, hatten keinen Beruf, wurden gleichgültig und passiv. Über die Situation der jungen Juden schrieb für "Selbstwehr" der Direktor des Gymnasiums in Mukatschewo Dr. Chaim Kugel folgendes:

"Im Kampf um das nackte Leben greifen sie zu Mitteln, gehen sie Wege, die wir nicht gutheißen können: Auf der einen Seite der unbegrenzte Einfluß des Wunderrabi, finsterste Aberglaube, das fatalistische Warten auf ein Wunder, auf anderen der Einbruch der billigen Lösungen der Gasse, die auch anderswo gangbare Münze sind, in den Bereich des jüdischen Lebens, und wieder ein fatalistisches Warten. Diese Jugend muß gerettet werden. Arbeit, Aufklärung, Erziehung, Fachausbildung, Heranbildung nützlicher Menschen der Gesellschaft tut not!(3)

Chaim Kugel behauptete, dass man in der gegebenen Lage auf karitative Arbeit nicht verzichten kann, aber die Arbeit mit den jungen Leuten planmäßig und permanent sein muss und vom Staat gründlich organisiert. Da sei um so wichtiger, da die jüdischen Familien in Karpatorußland kinderreich sind.

Mit seinem Artikel hatte Chaim Kugel wirklich großen Einfluß auf das Hilfskomitee, das eine zweite Runde der Hilfsaktionen für das Jahr 1933 vorbereitete. Sie beinhaltete in erster Linie Kleidersammlungen und Lebensmittel für die Kinder. Noch zum Ende des Jahres 1932 konnte man an 2000 Kinder Hilfsgüter verteilen und vor Ort wurde für weitere Monate die Versorgung mit Milch, Suppe und Brot organisiert. Das hebräische Gymnasium in Mukatschewo erhielt 15.000 K č für die Speisung von Schülern.

Auch die Gesundheitsfürsorge mußte 1932 vom Staat sehr schnell aufgebaut werden, denn es brachen Scharlach- und Diphtherieepidemie aus. Es wurden neue Ambulatorien gegründet, der Rote Kreuz baute Barracken für kranke Kinder und sorgte für Seren und Medikamente. Die Masarykova Liga stattete viele Ambulanzen aus und ihre Pflegerinnen besuchten die Hütten und informierten die Menschen. Die staatliche Pflege war für alle Einwohner vorgesehen, das jüdische Hilfskomitee half den Juden mit der Sammlung von Medikamenten.

In Karpatorußland kam es seit dem 19. Jahrhundert schon zu mehreren Auswanderungswellen, vor allem in die USA. Ende der 20er Jahre und Anfang der 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gingen viele Juden, aber auch Ruthenen u. a. nach Argentinien und andere südamerikanische Staaten, Dorfjuden besonders wanderten auch nach Palästina aus.

Die kulturelle Rückständigkeit der karpatorussischen Juden bedrückte die Juden in Tschechien und in der Slowakei sehr. In Böhmen und Mähren gehörten die Juden zu den Leuten mit der höchsten Ausbildung. Nur 1,5% der Gesamtbevölkerung waren Juden, aber an der Karsuniversität studierten in der 30er Jahren 18,5% jüdische Studenten, an den Brünner Hochschulen über 20% und viele studierten im Ausland. Viele berühmte Schriftsteller, Dichter, Maler, Bildhauer, Architekten, Schauspieler, Regisseure und Filmkünstler waren jüdischer Herkunft. Die Lage in Karpatorußland war diametral unterschiedlich - tiefstehend und zurückgeblieben. Das Judentum lebte dort von der Kulturwelt abgeschnitten wie auf einer entlegenen Insel. Die politisierende Orthodoxie zwang die Juden in die konservativste Form des Lebens. Aberglaube, Unwissenheit und der Kampf gegen alles Weltliche beherrschten das jüdische Leben. Die fanatischen und ungebildeten Massen folgten dort dem Wunderrabbi blind. Es fehlte eine eigene Intelligenz, die die Masse durch Aufklärungsarbeit wecken konnte. Obwohl die tschechoslowakische Regierung viele Schulen aufbaute, gab es in Karpatorußland keine Hochschule und auch Berufsschulen fehlten. Das Hilfskomitee organisierte einige Berufskurse und Vorlesungsaktionen, um die kulturelle Not zu mindest ein wenig zu mildern.

Die Situation verbesserte sich nach der Krise zwar ein wenig, aber es gelang nicht, die Rückständigkeit des ganzen Gebietes zu beseitigen - dazu hatte die Tschechoslowakische Republik zu wenig Zeit.

Seit 1939 gehörte die Karpatoukraine wieder zu Ungarn und die Juden erlebten dort die tragischste Zeit in ihrer Geschichte. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte das Land dann zur Sowjetunion. Viele der Überlebenden des Weltkrieges und der Nazizeit emigrierten damals in die Tschechoslowakei. Obwohl die Tschechoslowakei bis zum 2. Weltkrieg trotz großer Bemühungen das Elend in Karpatorußland nicht beseitigen konnte, blieb diese Republik paradoxerweise in angenehmer Erinnerung der damaligen Bewohner.

© Miroslava Kyselá (Mährisch Ostrau)


ANMERKUNGEN

(1) Selbstwehr, XXVI. Jahrgang, Nr. 8, S.3

(2) Blätter für die jüdische Frau, VI. Jahrg., Nr.5, S.1

(3) Selbstwehr, XXVI Jahrg., Nr. 48, S. 2


QUELLEN

Blätter für die jüdische Frau. Verbandsorgan der Landesorganisationen jüdischer Frauen in der Tschechoslowakei - WIZO. Prag, 1930 - 1935, Jhrg. III. - VII.

Jüdische Volksstimme. Brünn,1930 - 1934, Jhrg. XXX. - XXXIV.

Selbstwehr. Jüdisches Volksblatt. Prag 1930 - 1935, Jhrg. XXIV. - XXVII.


14.3. Die böhmische Identität

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For quotation purposes:
Miroslava Kyselá (Mährisch Ostrau): Die Lage der Juden in der Karpatoukraine der 30er Jahre - nach Quellen der jüdischen Presse. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/14_3/kysela16.htm

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