Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. April 2006
 

14.3. Die böhmische Identität
Herausgeberin | Editor | Éditeur: Agáta Dinzl-Rybárová (Salzburg/Prag)

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Multinationale Kultur in der Region Mährisch-Ostrau der Zwischenkriegszeit

Miroslava Kyselá (Mährisch Ostrau)
[BIO]

 

Die nordmährische Stadt Mährisch-Ostrau, jetzt Ostrava, wurde seit dem 19. Jahrhundert intensiv industrialisiert. Als bedeutende wirtschaftliche Faktoren erwiesen sich neben dem Kohlebergbau der Maschinenbau, die Eisen- und Chemie-Industrie sowie der Eisenbahnverkehr.

In der Ersten Tschechoslowakischen Republik gehörte diese Stadt zu den reichsten Städten des neuen Staates. Im Jahre 1930 lebten hier in Mährisch-Ostrau in einer sehr gemischten Nationalstruktur 125 000 und im Ballungsraum 220 000 Einwohner. Davon bekannten sich 79 % der Ostrauer Bürger zur tschechoslowakischen Nationalität, die deutsche Nationalität war mit 18, 4 % vertreten, die jüdische mit 2% (die meisten Juden bekannten sich zur deutschen Nationalität) und 0, 4 % waren Polen.

Unter diesen Nationalitäten herrschte einerseits eine gute Zusammenarbeit, aber es gab andererseits verschiedene Animositäten. Das war besonders auf dem Gebiet der Politik und vor den kommunalen Wahlen zu verzeichnen. Dann beschuldigten die tschechischen Zeitungen die Deutschen der Germanisierung, die deutschen Zeitungen die Tschechen der nationalen Unterdrückung.

Die Entwicklung der Stadt Mährisch-Ostrau vollzog sich zunächst nur auf der wirtschaftlichen Ebene, erst später, zum Ende des 19. Jahrhunderts, wurde auch die Kultur aus ihrer langen Beschaulichkeit geweckt, und bald wurde die Stadt zum Zentrum der nordmährischen Kultur.

Auf diesem Gebiet kam es in Mährisch-Ostrau zu einer guten Zusammenarbeit zwischen den Nationalitäten. So wurden hier in den 30- Jahren 105 verschiedene Verlage tätig, die deutsche, tschechische und anderssprachige Bücher und Presseerzeugnisse herausgaben. In der Ersten Tschechoslowakischen Republik erschienen in Mährisch-Ostrau fast 60 deutsche Zeitungen und Zeitschriften, genauso viele tschechische, drei slowakische und elf polnische. Diese regionale Publizistik spiegelte die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ereignisse der ganzen Region wider.

Besonders in der Ersten Republik erlebte die Presse in Mährisch -Ostrau einen erheblichen Aufschwung. Sie konzentrierte sich auf regionale Probleme und Erfolge in Politik, Kultur und Wirtschaft und verdeutlichte die Interessen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Es erschienen elf tschechische, drei deutsche und eine polnische Tagezeitung. Kurzlebig waren deutsch - jüdische Zeitschriften: 1919 das "Jüdische Volksblatt" und 1933 "Hechaluz".

Selbstverständlich waren in diesem Industriegebiet viele Periodika auf die Interessen der Industrie, des Handels und verschiedener Berufsgruppen ausgerichtet. Verschiedene Sportklubs hatten eine eigene Presse, in tschechischer und deutscher Sprache erschien so seit 1931 die Monatsschrift "Moto - Auto - Sport". Bemerkenswert war im Jahre 1928 der Versuch, einen dreisprachigen Kalender zu publizieren. Unter dem Titel "Gewerkschaftliches Jahrbuch" erschien im Verlag E. Riedel dieses in deutscher, polnischer und tschechischer Sprache, ergänzend hierzu erschien das "Arbeiter Liederbuch - Spiewnik Robotniczy - Dělnický zpěvník".

1929 wurde der Ostrauer Rundfunk mit tschechischen und deutschen Abteilungen gegründet. Beliebt waren literarische Relationen: für die tschechischen wurden regionale deutsche Autoren übersetzt und umgekehrt.

Vorbildlich war die Zusammenarbeit des tschechischen und deutschen Theaters. Das Mährisch-schlesische Theater wurde 1894 gegründet, das Deutsche Theater ein Jahr später. Beide erlebten einen glänzenden Aufschwung, aber auch finanzielle und künstlerische Krisen. Die beste Zusammenarbeit gab es in den 30er Jahren als Rudolf Zeisel der Direktor des Deutschen Theaters war und Jan Škoda der des tschechischen. Beide Theater wurden im demokratischen und humanistischen Sinn geführt und gewannen überregionale Bedeutung, das deutsche Theater wurde sogar ab 1933 zu einem der bedeutendsten Exiltheater in Europa.

In den dreißiger Jahren wurde der "Club tschechischer und deutschsprachiger Bühnenkünstler" gegründet, in dem zwischen den Darstellern des deutschen und tschechischen Theaters bestes kollegiales Einvernehmen herrschte. Manche Schauspieler waren zweisprachig und spielten in beiden Theatern.

Dazu erschien in der "Ostrauer Zeitung" das Gespräch mit Direktor Rudolf Zeisel. Er drückte sich folgendermaßen aus:

Es ist unserer Öffentlichkeit bekannt, daß beide Theater durch den Masaryk- Industrie-Fonds materiell gestützt werden, daß die Gemeinde Mährisch-Ostrau beiden Bühnen ihren Dekorations- und Kostümfundus zur Verfügung stellt. Ob über diese wirtschaftlichen Zusammenhänge auch ein künstlerisches Zusammenarbeiten möglich wäre? In erster Linie dadurch, daß das Deutsche Theater jene tschechischen Autoren spielt, die Anspruch erheben können, künstlerisch Wertvolles zu leisten. Unsere Bühne hat Werke von Franti šek Langer, Karel Čapek, und Vilém Werner gespielt, das tschechische Theater hat im Goethe -Jahr eine würdige Aufführung von "Faust" veranstaltet und auch sonst wesentliche Aufführungen deutscher Autoren gebracht. Diese Bemühungen der Annäherung beider Nationen auf künstlerischem Gebiet sind durchaus auf der Linie der kulturellen Aufgabe des Theaters gelegen: Einführung in die fremde Volkspsyche, Völkerversöhnung durch gegenseitiges Verständnis anzubahnen.(1)

Man muss auch festhalten, dass die Übersetzungen tschechischer Autoren wie z. B. die von Max Brod von hoher Qualität waren.

Ebenso organisierte Rudolf Zeisel eine feierliche Vorstellung zum Geburtstag des Präsidenten T. G. Masaryk. Ein interessantes künstlerisches Ereignis war 1937 die gemeinsame tschechisch-deutsche Aufführung des Schauspiels von Jan Nepomuk Štěpánek "Der Tscheche und der Deutsche", an der sowohl deutsche wie auch tschechische Schauspieler teilnahmen.

Unter den Künstlern des Theaters befanden sich viele Juden. Sie spielten an beiden Theatern und begannen dort glänzende Karrieren, so z. B. Stella Kadmon, die nach ihrem Ostrauer Engagement in Wien das politische Kabarett "Der liebe Augustin" gründete. Aus Deutschland kam der berühmte Regisseur, Schauspieler und Dramatiker Richard Duschinsky. Das Deutsche Theater erlebte die Weltaufführungen seiner Schauspiele "Anny" und "Die blaue Universität". Besonders nach 1933 fanden in Mährisch-Ostrau viele jüdische Künstler Arbeit und eine neue Heimat.

Tschechische und deutsche Zeitungen brachten Rezensionen zu den Prämieren beider Bühnen heraus. Über die deutschen Vorstellungen schrieb für "Moravskoslezský den" der Literaturwissenschaftler und berühmteste Ostrauer Schriftsteller Vojtěch Martínek, auch die "Ostrauer Zeitung" hatte eine regelmäßige Rubrik "Tschechisches Theater".

Eine gute Zusammenarbeit herrschte auch unter den bildenden Künstlern. Im März 1932 organisierte z. B. der deutsche "Ostrauer Kunstverein" die Ausstellung "Ostrauer Landschaft" mit Bildern und graphischen Blättern, an der deutsche und tschechische Künstler teilnahmen. Es war eine der erfolgreichsten Ausstellungen der Zeit, die Bilder vereinigten den imposanten Anblick der Industrieempore mit dem Reiz der Beskidenwelt.

Jede Nationalität hatte in der Stadt auch ein eigenes gesellschaftliches Zentrum: Die Tschechen das "Národní dům", 1884 erbaut, die Deutschen seit 1885 das "Deutsche Haus" und die Polen seit 1900 das "Dom polski", wo zahlreiche Vereine eine reiche kulturelle Tätigkeit organisierten.

Enge Kontakte pflegten auch die Ostrauer Schriftsteller. Sie hatten gemeinsame Vorlesungen, Rundfunkrelationen und Debatten, schrieben einander Rezensionen und übersetzten gegenseitig ihre Werke.

Die berühmteste deutsche Schriftstellerin dieser Zeit in Mährisch-Ostrau war Maria Stona. Sie war auch Mäzenin begabter junger Künstler, für sie war es gleich, welcher Nationalität sie waren. Auf diese Weise unterstützte sie z. B. den tschechischen Knaben Ilja Hurník, der später ein weltberühmter Pianist wurde. Die Aristokratin Maria Stona, geborene Stonawski (1885 - 1944), lebte im Schloss Strzebowitz bei Mährisch-Ostrau und veröffentlichte in Ostrau, Wien, Berlin u. a. ihre Prosa und Gedichte. Zu ihren bekanntesten Werken gehörten die Gedichtsammlungen "Eines Traumes Welt", "Der Liebe Gewalt", "Buch der Liebe", sie schuf aber auch die Reisebeschreibung "Eine Fahrt nach Karpathorußland" und die Gesellschaftsromane "Vor dem Sturz", "Der Rabenschrei" u. a. Ihre Werke erschienen auch in tschechischer Sprache, sie wurden von der Ostrauer Schriftstellerin, Folkloristin und Malerin Helena Salichová übersetzt.

Viele Ostrauer Juden bekannten sich zur deutschen Nationalität und hielten das Deutsch für ihre Muttersprache. Die bekanntesten jüdischen Schriftsteller aus Mährisch-Ostrau, Ilse Weber und Josef Wechsberg, schrieben deutsch.

Ilse Weber (1903 - 1944), geb. Herlinger, arbeitete am Ostrauer Rundfunk. Sie bereitete Programme für Kinder vor, übersetzte Gedichte tschechischer Autoren und komponierte zahlreiche Lieder. Sie hat im Jahre 1927 auch "Jüdische Kindermärchen" in Mährisch-Ostrau herausgegeben. In Theresienstadt schrieb sie Gedichte, die nach dem Krieg veröffentlicht wurden. Sie selbst wurde in Auschwitz ermordet.

Josef Wechsberg begann seine wechselvolle Laufbahn in Mährisch-Ostrau, wo er 1907 geboren wurde. Nach der Matura am Ostrauer Gymnasium studierte er zuerst am Wiener Konservatorium Musik, anschließend in Paris Rechtswissenschaften. Sein Staatsexamen bestand er an der Karlsuniversität in Prag. Während des Studiums in Wien verdiente er nebenbei als Claqueur in der Wiener Oper, als Jurastudent arbeitete er als Croupier in verschiedenen Casinos und als Schiffsmusiker. Als Violinist der Bordkapelle bei der Compagnie Gènèral Transatlantique besuchte er den Orient, Nordafrika, Süd- und Nordamerika.

Diese Studien bildeten die Grundlage für seine journalistische und schriftstellerische Arbeit. Die Vorkriegsjahre verbrachte er als Redakteur des "Prager Tagblatts". Von 1938 an lebte er in den USA und seit dem Holocaust schrieb er nur noch in englischer Sprache. In der Zwischenkriegszeit veröffentlichte er in Kittls Verlag in Mährisch-Ostrau drei seiner Bücher.

Das Leben in Mährisch-Ostrau beschrieb er in zahlreichen Feuilletons, geblieben ist ihm für immer die nostalgische Neigung und Liebe für diese schwarze Stadt. Manche seine Feuilletons würdigen die kleinen Leute in seiner Heimatstadt in brillantem Stil und mit viel Charme.

Eine prominente Persönlichkeit der literarischen Welt war in Mährisch-Ostrau auch Vojtěch Martínek (1887 - 1969), tschechischer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler mit tiefem Interesse für die gesamte Kultur. Seine Trilogie "Schwarzes Land" beschrieb die Veränderungen der landwirtschaftlichen Region in eine industrialisierte, und parallel damit die Veränderungen in Lebensstil und Verhalten der Einwohner. Er schrieb literarische und Theaterrezensionen zur regionalen deutschen und tschechischen Literatur und über beide Ostrauer Theater. Er gründete in Mährisch-Ostrau die Filiale der Prager Literaturhistorischen Gesellschaft und organisierte Sonntagsmatineen im Kunsthaus, wo bekannte Schriftsteller verschiedener Nationalitäten aus eigenen Werken oder aus Büchern anderer Autoren lasen.

Der Schriftsteller Milan Rusinský (1909 - 1987), einer der ersten Mitarbeiter des Ostrauer Rundfunks, war einer der Begründer des Slowakischen Klubs. Er studierte an der Karlsuniversität Slawistik und Germanistik und übersetzte literarische Werke aus der deutschen, polnischen und serbischen Sprache. Im Rundfunk bereitete er literarische Programme über die gesamte regionale Literatur vor. Sein Interesse gehörte der regionalen Kultur und vor allem der Literatur. 1931 und 1933 hat er über regionale deutsche Schriftsteller des 17. bis 20. Jahrhunderts im Schlesischen Jahrbuch in Troppau Beiträge unter dem Titel "Deutsche Schlesier" veröffentlicht.

Diese fruchtbare Zusammenarbeit zwischen den Künstlern Mährisch-Ostraus wurde jedoch mit der Abtretung der Sudeten an Deutschland gelähmt und im Jahre 1939 mit der Entstehung des "Protektorats Böhmen und Mähren" unter dem nazistischen Regime im Jahre 1939 völlig beseitigt. Jüdische Mitarbeiter mussten das Deutsche Theater verlassen und hatten keine Ausstellungs- und Publikationsmöglichkeiten mehr. An der Kultur nahmen praktisch nur noch die Tschechen teil, die mit den Nationalsozialisten kollaborierten. Das tschechische Ensemble wurde aus dem Stadttheater vertrieben.

Es wurde aber auch die deutsche Kultur in Mährisch-Ostrau in Mitleidenschaft gezogen. Liberale Tagezeitungen wie die "Ostrauer Zeitung" und die "Morgenzeitung und Handelsblatt" wurden eingestellt. Seit den 40er Jahren erschien nur noch die "Mährisch-schlesische Landeszeitung", die durch die nationalsozialistische Ideologie geprägt war. Das Deutsche Theater hatte Glück, dass an dessen Spitze in den Kriegsjahren der erfahrene Intendant Kurt Lawat stand. Er befand sich in einer prekären Situation: In seinem Repertoire musste er auf beliebte Autoren verzichten. Dafür spielte er die Klassiker und inszenierte viele Lustspiele, Operetten und Ballettabende und wehrte sich, wo immer es ging, Propagandastücke aufzuführen. So konnten die Ostrauer in schweren Zeiten im Theater für kurze Zeit die Schrecken des Alltags vergessen.

Die nationale Konkurrenz und eine exzellente Zusammenarbeit wirkte sich Niveau steigernd auf die Kultur der ganzen Region aus. Die politischen und Kriegswirren unterbrachen diese kulturelle Symbiose. Die Deutschen wurden nach dem Krieg ausgewiesen, von 10 000 Ostrauer Juden kehrten aus den Konzentrationslagern 2 000 zurück, 1948 und 1968 emigrierten davon die meisten. Die heutige Jüdische Gemeinde zählt nur 98 Mitglieder. Trotzdem blieb Ostrava multinational. Kurz nach dem Krieg kamen viele Slowaken, Polen und Romas, Ende der 40er Jahre Griechen, in den 50er Jahren Bulgaren. Sie bildeten leider keine eigenen kulturellen Strukturen und haben sich der tschechischen Kultur angepasst.

© Miroslava Kyselá (Mährisch Ostrau)


ANMERKUNG

(1) Ostrauer Zeitung, Jhrg. 43, 24. 12. 1932, S. 2, Mährisch-Ostrau


QUELLEN

Moravskoslezský den, Jhrg. 28 - 38, Moravská Ostrava 1927 - 37

Morgenzeitung und Handelsblatt, Jhrg. 24 - 34, Mährisch-Ostrau 1927 - 37

Ostrauer Zeitung, Jhrg. 38 - 48, Mährisch-Ostrau 1927 - 37

LITERATUR

Haider - Pregler, H.: Die Geschichte des deutschsprachigen Theaters in Mährisch - Ostrau, Dissertation, Wien 1966

Jiřík, K. (Hrsg.): Dějiny Ostravy, Ostrava 1993

Kyselá, Miroslava: Aus Mährisch-Ostrau bis ans Ende der Welt - Josef Wechsberg. In: Zblizenia - Annäherungen, Pismo Uniwerzitetu Wroclawskiego, Nr. 2 -3, S. 161 - 66, Wroclaw 2004


14.3. Die böhmische Identität

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For quotation purposes:
Miroslava Kyselá (Mährisch Ostrau): Multinationale Kultur in der Region Mährisch-Ostrau der Zwischenkriegszeit. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/14_3/kysela_2_16.htm

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