Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. März 2006
 

14.3. Die böhmische Identität
Herausgeberin | Editor | Éditeur: Agáta Dinzl-Rybárová (Salzburg/Prag)

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Zur Stellung Mährens innerhalb der unabhängigen Tschechischen Republik

Harald Scheu (Österreichische Botschaft Prag/Karlsuniversität Prag/Wien)
[BIO]

 

1. Einleitung

Der Titel meines Beitrages deutet bereits eine etwas eigenwillige Perspektive auf die Frage nach der böhmischen Identität an. Auf den ersten Blick mag es zweifelhaft erscheinen, welche Relevanz die Stellung Mährens im Hinblick auf die böhmische Identität besitzt. Dennoch denke ich, ist der vorliegende Ansatz zu rechtfertigen.

Ich sollte dabei vorausschicken, dass man als Jurist gewohnt ist, vor allem mit Begriffen und Definitionen zu arbeiten. In Situationen, in denen man Probleme hat alle möglichen Elemente einer positiven Definition zu erfassen, bietet sich ein Rückgriff auf negative Definitionen an. Dabei stellt man in den Mittelpunkt seiner Überlegungen die Frage, was gehört nicht zum Begriff.

In diesem Sinne rief bei mir das Thema der Sektion "Die böhmische Identität" die Frage hervor, was unterscheidet eigentlich Böhmen von Mähren, bzw. wie grenzt man die beiden, die oft als Zwillingspaar "Böhmen und Mähren" in den Sprachgebrauch Eingang finden, von einander ab. In der Zeit, da ich mich als Völkerrechtler intensiv mit der Frage von Minderheiten- und Nationalitätenrechten beschäftigte, gewann ich den Eindruck, dass bei der Definition von Ethnizität die Abgrenzungen gegenüber dem Anderen mindestens ebenso wichtig sind, wie positive Momente der Identitätsfindung.

Bevor ich mit einer kurzen Analyse der Stellung Mährens innerhalb der unabhängigen Tschechischen Republik beginne, ist noch eine zweite Klarstellung notwendig. Im Zusammenhang mit Problemen der Identitätsbildung sind die methodologischen Voraussetzungen eines Juristen nicht gerade die besten. Tatsächlich sind regionale und nationale Identitäten eine äußerst vielschichtige Angelegenheit, die über den Rahmen einer präzisen rechtlichen Regel weit hinausgeht. Man denke dabei an so typische Identitätsmerkmale wie z.B. Kultur, Sprache, Tradition, Brauchtum und das komplexe subjektive Erleben von Identität und Zugehörigkeit.

Im vorliegenden Beitrag werde ich mich dennoch auf die Erfassung Mährens in einem rechtlichen Sinne beschränken. Dabei gehe ich davon aus, dass sich im grundlegenden Verfassungsdokument eines Staates markante Linien des gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurses überschneiden. Dies gilt natürlich auch im Fall der tschechischen Verfassung, die am 16. Dezember 1992 angenommen wurde und mit 1. Jänner 1993 in Kraft trat. Die Annahme der besagten Verfassung war das Ergebnis umfassender Diskussionen zwischen Vertretern verschiedener Fachrichtungen, deren Substrat letztlich in eine juristische Form gegossen wurde.

 

2. Die Stellung Mährens von 1867 bis 1989

Nach diesen einleitenden Bemerkungen wollen wir uns der rechtlichen Stellung Mährens in der Vergangenheit widmen.(1) Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Stellung der Markgrafschaft Mähren im Rahmen der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn staatsrechtlich abgesichert war. Mähren verfügte über einen eigenen Landtag als Organ einer autonomen Landesgesetzgebung. Nach 1905 wurden im Zuge des so genannten "Mährischen Ausgleichs" für den mährischen Landtag eine deutsche und eine tschechische Kurie eingeführt, auch für den Bereich der Landesverwaltung wurde ein deutsch-tschechischer Proporz angenommen. Der "Mährische Ausgleich" selbst war übrigens ein Beispiel für ein mährisches Landesgesetz.

Im Zusammenhang mit der traditionellen Stellung Mährens verwendete Robert Luft vom Collegium Carolinum (München) die interessante Beschreibung " Zentrallandschaft zweiten Grades", und zwar als eine Übergangsregion zwischen politischen Zentren, die aber nie peripher war.(2) Obwohl Mähren als Markgrafschaft laut Luft eine ständische und episkopale Einheit darstellte und die Existenz einer mährischen Sprache und Nationalität im Vormärz eine gängige Annahme war, blieb eine politisch erfolgreiche mährische Bewegung aus. Luft sieht den Grund für diese Entwicklung darin, dass sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die mährische Mehrheitsgesellschaft an der Trennlinie zwischen tschechischem und deutschem Sprachbekenntnis spaltete. Damit dominierte in letzter Folge die nationalpolitische Identifikation über der regionalen.

Im Oktober 1918 wurde Mähren zu einem Teil der neu gegründeten Tschechoslowakischen Republik Der mährische Landtag wurde aufgelöst und die mährische Selbstverwaltung in der Folge eingeschränkt. In der Literatur wird betont, dass die tschechoslowakische Führung nach 1918 eine zentralistische Politik verfolgte. 1927 wurde ein neues Gesetz zur Verwaltungsorganisation(3) angenommen, welches die Einteilung der Tschechoslowakei in 4 Selbstverwaltungseinheiten, die so genannten Länder, vorsah. Jene vier Länder waren Böhmen, Mähren-Schlesien ("moravsko-slezská země"), Slowakei und Ruthenien ("Podkarpatská Rus"). Die ursprünglich getrennten Entitäten Mähren und Schlesien wurden vor allem deshalb zusammengeschlossen, weil Schlesien (gemeint ist natürlich das Gebiet, das bis 1918 Österreichisch Schlesien und danach Mährisch Schlesien genannt wurde) für eine selbständige Verwaltungseinheit als zu klein angesehen wurde. Abgesehen davon respektierte die Einteilung nach 1927 die historischen Grenzen Mährens.

Nach dem Ende der nationalsozialistischen Okkupation der tschechischen Gebiete und der Auflösung des Protektorats Böhmen und Mähren wurde 1945 wieder auf die ursprüngliche Einteilung in Länder zurückgegangen, allerdings mit der nicht unwesentlichen Änderung, dass Ruthenien an die Sowjetunion abgetreten wurde.

Eine wesentliche Neuordnung der Verwaltungsstruktur wurde nach dem kommunistischen Umsturz vom Feber 1948 geschaffen. Die Länderstruktur wurde aufgehoben und die Tschechoslowakei in Kreise unterteilt. Jene neue Aufteilung respektierte die historischen Grenzen Böhmens und Mährens nur zum Teil, denn der Kreis Iglau/Jihlava umfasste sowohl böhmische, als auch mährische Gebiete. Auch die Bezeichnung Mähren bzw. mährisch verschwand aus der offiziellen Diktion, die offizielle Bezeichnung der mährischen Kreise richtete sich nach den Städten Olmütz/Olomouc, Ostrau/Ostrava, Brünn/Brno, Iglau/Jihlava und Gottwaldov (seit Juni 1990: Zlín). Bereits damals wurde mancherorts kritisiert, dass die neue Einteilung die Bedürfnisse der Bevölkerung nicht respektierte. Jedenfalls verschwand Mähren als territoriale und rechtliche Einheit von der politischen Landkarte.

Ein Schlüsselmoment für die weitere Entwicklung war die Schaffung der tschechoslowakischen Föderation im Jahr 1968. Im Zuge der Verfassungsdiskussion war es letztlich vor allem die slowakische Seite, die eine Aufwertung Mährens im Rahmen der Föderation verhinderte. Durch eine Unterteilung der Föderation in Böhmen, Mähren und die Slowakei wären laut den Slowaken das Slowakische zu einer Regionalkultur entwertet worden. Zwar wurde in der kurzen Zeit des so genannten Prager Frühlings eine weit reichende Reform auf der Grundlage einer Erneuerung der historischen Einheit Mährens diskutiert doch die Okkupation der Tschechoslowakei bedeutete das Ende jener Reformpläne.

 

3. Mähren aus der Sicht des geltenden tschechischen Rechts

Nach den politischen Veränderungen des Jahres 1989 schien sich die mährische Regionalbewegung für kurze Zeit in einem Aufwind zu befinden. Immerhin nahm das föderale Parlament der Tschechoslowakei am 9. Mai 1990 einen Beschluss an, in welchem das Parlament die Auflösung des Landes Mähren-Schlesien(4) nach dem 1. Jänner 1949 ausdrücklich als einen ungerechten Akt und einen Akt, der im Widerspruch zu den Prinzipien der Demokratie und Selbstverwaltung stand, bezeichnete. Noch im selben Jahr, 1990, wurden 22 Abgeordnete der Bewegung für die Selbstverwaltung Mährens und Schlesiens(5) in das tschechische Parlament, d.h. den Tschechischen Nationalrat, gewählt. Sie setzten sich in der Folge intensiv für die Erneuerung des Landes Mähren-Schlesien ein. Die Bemühungen der mährischen Abgeordneten waren aber letztlich genauso erfolglos wie eine Petition, die von mehr als 630.000 Bürgern unterzeichnet wurde. Die verschiedenen Gesetzesvorschläge für eine Einteilung der Tschechischen Republik in drei Länder entsprechend der historischen Grenzen wurden vom Parlament allesamt abgelehnt.

Ein Aufschwung des mährischen regionalen Bewusstseins ist auch aus der 1991 durchgeführten Volkszählung ablesbar. In der Tschechischen Republik bekannten sich dabei 1.356.605 Personen zur mährischen Nationalität. Diese große Zahl wirft natürlich einige Fragen auf, insbesondere angesichts der Tatsache, dass sich mehr als 8 Millionen Personen im Zuge der Volkszählung zu Angehörigen der tschechischen Nationalität erklärten. Es ist leider nicht möglich, das Ergebnis der Zählung eindeutig ins Deutsche zu übersetzen. Hinter dem Bekenntnis zur Nationalität Tschechisch (d.h. " Česká") kann sich nämlich zweierlei verbergen, einerseits ein Bekenntnis zur regionalen böhmischen Identität, andererseits auch zur nationalen tschechischen Identität. Auch im Fall der mehr als 1.300.000 Mährer, welche die mährische Nationalität ankreuzten, ist nicht wirklich klar, ob sie damit eine regionale oder eine nationale mährische Identität im Sinn hatten.

1992 ließ sich der Parlamentsabgeordnete Jiri Bílek von der Mährischen Nationalpartei ("Moravská národní strana"), wahrscheinlich unter dem Eindruck der großen Anzahl bekennender Mährer, zu einer Aussage hinreisen, in welcher er davor warnte, dass Mähren für die Tschechische Republik zu einem Nordirland werden könnte. Diese Assoziation zum Terrorismus hat der mährischen Bewegung in der Öffentlichkeit jedenfalls sehr geschadet.(6)

Trotzdem erscheint es erstaunlich, dass das beeindruckende Ergebnis der Volkszählung 1991 keine greifbaren politischen Erfolge für die mährische Bewegung brachte. Dabei bot die mit 1. Jänner 1993 in Kraft getretene Verfassung der Tschechischen Republik Raum für konstruktive Diskussionen. In Artikel 99 der Verfassung wurde ein neues System der Selbstverwaltung eingerichtet. Neben den Gemeinden sollten regionale Selbstverwaltungseinheiten geschaffen werden, wobei Artikel 99 der Verfassung die endgültige Bezeichnung jener Einheiten als Länder oder Kreise offen ließ. Die nähere Ausgestaltung der Anzahl und der Kompetenzen der zukünftigen regionalen Selbstverwaltungseinheiten sollte erst durch ein späteres Verfassungsgesetz erfolgen.

Daneben nimmt die tschechische Verfassung der Tschechischen Republik auf Mähren lediglich in der feierlichen Präambel Bezug. Laut besagter Präambel wurde die tschechische Verfassung durch die Staatsbürger der Tschechischen Republik in Böhmen, Mähren und Schlesien angenommen.

Was die Konzeption von Ländern oder Kreisen als Selbstverwaltungseinheiten betrifft, so ging die Diskussion nach 1993 weiter. Die Abgeordneten der so genannten Böhmisch-mährischen Partei der Mitte ("Českomoravské strany středu") brachten 1995 im Parlament einen Vorschlag ein, der von 5 Selbstverwaltungseinheiten, d.h. 5 Ländern, ausging. Abgesehen von der Hauptstadt Prag als eigenständiger Einheit waren im Projekt 2 böhmische Länder (mit den Hauptstädten Pilsen/Plzeň und Königgrätz/Hradec Králové) vorgesehen. Auf die Respektierung der historischen Grenzen wurde Wert gelegt. Der Vorschlag wurde jedoch im Parlament abgelehnt.

Die tschechische Regierung, die nach 1993 eine eher zentralistische Konzeption des Staates vertrat, hatte andere Pläne. In einem Beschluss vom 20. August 1997 stellte sie erstmals einen konkreten Zeitplan für die Umsetzung der Verwaltungsreform vor und ging dabei von einer Aufteilung der Verwaltungsstruktur in kleinere Einheiten, d.h. Kreise aus. Das Verfassungsgesetz, welches die endgültige Anzahl der regionalen Selbstverwaltungseinheiten festlegte, wurde am 3. Dezember 1997 durch das Parlament angenommen.(7) Nach langwierigen Verhandlungen beschlossen die Abgeordneten die Bildung von 14 Kreisen. Neben der Hauptstadt Prag wurden die übrigen 13 Kreise durch die Zusammenlegung der bis dahin bestehenden Bezirke geschaffen.

Das Problem des vorliegenden Modells der 14 Kreise bestand darin, dass es nicht natürlich gewachsen war. Die Integrationskraft der Selbstverwaltungseinheiten war unter der Bevölkerung gering. Als Paradebeispiel kann der Kreis Iglau/Jihlava (seit Mai 2001: Kreis "Vysočina") dienen, welcher böhmische und mährische Bezirke vereint. Die historischen Grenzen wurden hier anscheinend ganz bewusst verwischt, um die alte Integrationsfigur Mähren aufzulösen.

 

4. Die Konsequenzen

Als Ergebnis der Entwicklung kann zusammengefasst werden, dass Mähren als Rechtsbegriff in der heutigen Tschechischen Republik praktisch nicht mehr existiert. Der mährischen Regionalbewegung ist es nach 1990 nicht gelungen, eine politische Autonomie für Mähren durchzusetzen. Die zentralistische Staatskonzeption der Regierung in Prag behielt letztlich die Oberhand. Wenn man für die Zwecke der Diskussion von einer negativen Definition der böhmischen Identität ausgehen will, ist es also wichtig festzustellen, dass eine Abgrenzung zwischen böhmischer und mährischen Identität heute äußerst problematisch ist.

Das hat auch konkrete praktische Auswirkungen. Wenn man z.B. von Prag nach Brünn fährt, wird man an der Strasse keinen Hinweis auf Mähren finden. Ebenso vergeblich wird man die böhmisch-mährische Grenze auf einer gängigen tschechischen Landkarte suchen. In Mährens historischer Hauptstadt Brünn gibt es heute kein offizielles politisches Organ, welches die Interessen Mährens und seiner Bevölkerung gezielt vertreten würde.

Ganz im Einklang mit dieser Entwicklung steht das Ergebnis der Volkszählung von 2001. Die Zahl der bekennenden Mährer ist gegenüber 1991 von 1.356.605 auf 380.474 zurückgegangen.

Der Begriff Mähren hat also - abgesehen von seiner geographischen Implikation - heute keinen konkreten rechtlichen und politischen Stellenwert. Er lebt weiter im Zwillingspaar "Böhmen und Mähren" bzw. "böhmisch-mährisch" fort, wie z.B. im derzeit sehr erfolgreichen Böhmisch-mährischen Fußballverband, der weniger erfolgreichen Kommunistischen Partei Böhmens und Mährens, dem böhmisch-mährischen Gewerkschaftsbund, sowie einer ganzen Reihe weiterer privater und kommerzieller Einrichtungen.

Wenn sich der Begriff Mähren nicht zum Abgrenzen der böhmischen Identität verwenden lässt, bleibt eigentlich nur zu fragen, ob das Böhmische vielleicht nur im Doppelpack des Böhmisch-mährischen richtig verstanden und erfasst werden kann.

© Harald Scheu (Österreichische Botschaft Prag/Karlsuniversität Prag/Wien)


ANMERKUNGEN

(1) Wenn man von Mähren im historischen Sinn spricht, meint man in der Regel die Markgrafschaft, die seit 1019 die Geschichte Böhmens teilt. Für die Zwecke der vorliegenden Ausführungen ist der geschichtliche Exkurs jedoch eingeschränkt .

(2) Robert Luft, Die Spaltung einer Region? Tschechischer und deutscher Nationalismus in Mähren 1848 - 1918.

(3) Zákon č. 125/1927 Sb. o organizaci politické správy.

(4) "Země moravskoslezská".

(5) "Hnutí samosprávné demokracie -Společnost pro Moravu a Slezsko".

(6) Jiri Bílek ist aber anscheinend unbelehrbar, denn 2004 warnte er auf einer Konferenz erneut davor, dass Mähren den nordirischen Weg einschlagen könnte.

(7) Verfassungsgesetz Nr. 347/1997 Sb. (Gesetzessammlung) über die Bildung höherer Selbstverwaltungseinheiten.


14.3. Die böhmische Identität

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For quotation purposes:
Harald Scheu (Österreichische Botschaft Prag/Karlsuniversität Prag/Wien): Zur Stellung Mährens innerhalb der unabhängigen Tschechischen Republik. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/14_3/scheu16.htm

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