TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. Februar 2010

Sektion 1.12. Asien und deutsche sowie österreichische Kunst und Literatur um die Jahrhundertwende: Einflüsse und Bedeutung
Sektionsleiter | Section Chairs: Chin SangBum (Comperative Study of the World Literature in Korea) und Doo Haeng-Sook (Universität Sogang, Seoul)

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Die Chinarezeption bei den deutschen Autoren um die Wende des 20. Jahrhunderts
und deren kulturgeschichtliche Bedeutung im Hinblick auf A. Döblin und F. Kafka

Doo Haeng Sook  (Universität Sogang, Seoul, Korea) [BIO]

Email: dhs2kr@yahool.co.kr / dhs2kr@empal.com

 

I. Die geistige Situation Deutschlands und Österreichs
zu Anfang des 20. Jahrhunderts und Interesse an China

Ich freue mich sehr darüber, dass ich hiermit in der Sektion Asien und Europa über deutsche Literatur referieren zu können. Asien und Europa haben sich seit alters her eine engere Verbindung miteinander gehabt als andere Kontinente, vor allem in dem kulturellen Bereich. Dies zeigte sich insbesondere deutlich darin, dass um die Wende des 20. Jahrhunderts sich nicht wenige deutsche Autoren für China interessierten. Ein großer Einfluss von Chinas zeigt sich z. B. bei den Autoren des Expressionismus wie Alfred Döblin und Franz Kafka. Dies hängt nicht zuletzt mit der politischen, sozialen und geistig unruhigen Situation des damaligen Deutschlands und Österreichs zusammen.

Seit Ende des 19. Jahrhunderts trat ein tiefgreifender politisch-wirtschaftlicher, gesellschaftlicher Umbruch und eine gewaltige Bewußtseinswandlung wie noch nie vorher ein. Einerseits war in Deutschland mit der Herrschaft des Wilhelms II. eine starke Industrialisierung beherrschend, die der deutsche Kaiser bald zum Militarismus führte.(1) Auf der anderen Seite wurde das Mißverständnis zwischen der erreichten ökonomischen Stellung und der politischen-sozialistischen Situation immer größer, wodurch nicht zuletzt sich unter den deutschen Intellutuellen eine pessimistische Geschichtsauffassung eine Art Kulturpessimismus bzw. die Untergangstimmung ausbreitete. Es war auch im damaligen Österreich ähnlich, und zwar sprach man in bezug auf die Österreich-Ungarischen Monarchie der Jahrhundertwende oft von der “Dekadenz” als einem alternativem Ausdruck für den Untergang. Darüber äußert W. Rasch nach dem Worte von Theodor Lipps:

“Dekadenz erklärt er (Lipps, Verf.) für einen 'Krankheitszustand', als dessen Symptome er Zweifelslust, Lust am Zersetzen ansieht, auch den 'Kult des Häßlichen', [...], die 'Wollust der Grausamkeit' als Würze für das 'entschlaffende Ich'”.(2)

Diese Epoche wird auch die Zeit der “Dekadenz”(3) genannt, wie z. B. Nietzsche ihn stimmungsvoll schilderte:

“[D]er Himmel unserer europäischen Kultur, ihr Abend-Himmel, glüht-vielleicht verglüht.”(4)

 

II. Alfred Döblins Chinesischer Roman Die drei Sprünge des Wang-lun

Döblin kommt in der Anfangsphase seiner schriftstellerischen Tätigkeit mit dieser Weltanschauung in Berührung, wobei er jedoch in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der damaligen politisch-gesellschaftlich unsicheren  Situation einen Ausweg aus ihr sucht. Dabei stößt er auf die Lehre des Wu-wei(無爲), eines Kerngedankens des chinesischen Taoismus. Bei der Rezeption der Lehre des Wu-wei spielt der deutsch-jüdische Philosoph M. Buber, der nicht nur vom Judentum, sondern auch von chinesischer Philosophie ausgedehnte Kenntnisse hatte, eine wichtige Rolle. Buber versucht in seinem 1910 veröffentlichten Werk “Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse”, der Lehre des chinesischen Taoismus, einen neuen Sinn des Seins in der Welt zuzuschreiben und dies mit der jüdischen Religion eng zu verbinden. Er bemüht sich vor allem, durch das Verständnis der chinesischen Philosophie sich gleichzeitig von der vom Individualismus geprägten christlich-abendländischen Weltanschauung zu befreien und zum inneren Zentrum des Menschen selbst zurückzukehren. Auf der Suche danach glaubt er, in den chinesischen Weltanschauungen und Lebenshaltungen, vor allem im Taoismus einen rechten Weg gefunden zu haben. Der Taoismus, der im 7. Jahrhundert vor Chr. in China von der legendären Person “Laotse” gegründet worden sein soll, war jedoch ursprünglich wenig religiös. Wie Laotse in seinem hinterlassenen Buch “Tao-Te-King” lehrt, ist der Taoismus im Grunde genommen nur eine Lehre, die die Phänomene des Universums, die Wandlungen der sich darin befindenden Dinge und Menschen erklären und die Menschen auf den richtigen Weg des Lebens, also auf das Tao, verweisen soll. Das Tao bezieht sich dabei auf die “Bahn der Welt”. Etwa 250 Jahre nach Laotse, in einer Periode sozialer Unruhe und politischer Umwälzungen in China, lebte sein Nachfolger Tschuang-Tse (ca. 370-300 vor Chr.) und verbreitete zunehmend diese Lehre im religiösen Sinne.(5) Buber richtet dabei sein Augenmerk auf den Kerngedanken des Taoismus, den Gedanken des Wu-wei. Das Wu-wei bedeutet wörtlich “Nicht-Handeln” oder “Nichtvorhandensein von Tun”.  Buber versucht, diese für Europäer auf den ersten Blick völlig unverständliche, widersprüchliche Idee anschaulich zu machen. Döblin erbat sich von Buber alles verfügbare Material über chinesische Religion, Philosophie, Kulturgeschichte(6) und die gewaltigen politisch-gesellschaftlichen Wandlungen und schrieb in der kulturpessimistisch-ahistorischen Stimmung seinen Roman Die drei Sprünge des Wang-lun(1915), der einen religiös-politischen Aufstand in China als Stoff behandelt.

 a. Der Held Wang-lun als Vertreter des Wu-wei und sein Widerspruch als ein Mensch der Tat

Im Mittelpunkt des Wang-lun-Romans steht diese Lehre, die die Handlungen der Figuren beeinflußt, sie auseinanderbringt und schließlich ihr Schicksal, -den Untergang- bestimmt. Das Wu-wei zeigt sich schon am Anfang des Romans als ein Ausgangspunkt der geistigen Problematik. Es beginnt mit der Bewegung einer Sekte -der “Wahrhaft Schwachen”-, welche die Lehre des Wu-wei als ihr Lebensprinzip verkünden und deren Haupt Wang-lun heißt:

“Ein leiser Schauer ging durch das Land, wie die Wahrhaft Schwachen erschienen. Ihr Name Wu-wei ist seit Monaten wieder in allen Mündern. Sie hatten keine Wohnstätten; [...] Sie predigten nicht, suchten niemanden zu bekehren.”(WL,11)(7)

Die Hauptfigur “Wang-lun” ist ein chinesischer Gauner, der zunächst Tempel bestiehlt, dann einen kaiserlichen Offizier ermordet, sich danach zum Führer einer Sekte, der “Wahrhaft Schwachen”, und schließlich zum Führer der gesamten Geheimsekte, des “Weißen Lotus”, macht.(8) Nachdem Wang-lun anfangs zufällig auf einer Straße Zeuge des Mordes eines kaiserlichen Offiziers an einem armen chinesischen Mann wird und aus dem “überwältigenden Druck des Leidens, im Hinterkopf, auf der Zunge, in der Höhlung der Brust” (WL,43) diesen Offizier ermordet(WL,44), beginnt seine Flucht und damit sein schicksalhaftes Leben, und unterwegs hört er zum ersten Mal von der Wu-wei-Lehre:

“Die Welt erobern wollen durch Handeln, mißlingt. Die Welt ist von geistiger Art, man soll nicht an ihr rühren. Wer handelt, verliert sie; wer festhält, verliert sie.”(WL,48)

Er lernt dabei einen Mönch und Einsiedler Ma-noh auf eine Pilgerfahrt seiner religiösen Weltanschauung kennen und hört auch zum ersten Mal in seinem Leben durch diesen, dass man - nach der Lehre des Buddhismus - keinen Menschen töten darf.(WL,50) Wang-lun, der bisher nur in einem konfuzianischen Milieu aufgewachsen ist, stößt damit auf eine andere Lehre, den Gedanken des Nicht-Handelns, und gleichzeitig auf eine Religion, die von nun an seine Weltanschauung stark prägen und seine Seele beunruhigen wird. Außerdem begegnet er im Buddhismus auch eine personifizierte Milde und Zärtlichkeit, die er früher nicht kannte: die entzückende Statue der Göttin “Kuan-yin”:

“Aus Bergkristall stand sie inmitten der anderen, mit unzähligen Armen, die sich wie Schlangen aus den Schultern rangen, und einem Mund, der sich so zart verzog, wie wenn ein leichter Wind über eine Weidenpflanzung fegt.”(WL,50)

Durch sie wird Wang-lun seelisch sowohl von der taoistischen Weisheit als auch von der buddhistischen Lehre berührt. Diese Begegnungen stillen jedoch seine von Kindheit an unruhige Seele nicht; seine Wut durch sinnloses Leiden wird größer, bleibt aber noch unterdrückt. Als sich eine Masse armer Menschen um ihn sammelt, erweckt das Aussehen des sich meist finster zurückziehenden, die Gesellschaft meidenden Wang-lun ein Gefühl von Ehrfurcht. Er steigt auf zum Führer dieser Menschen und als er aus diesen verachteten Außenseitern, die die herrschenden Mandschus hassen (WL,77), eine Gruppe gründet, verkündet er die Lehre des Wu-wei:

“Man hat nicht gut an uns getan: das ist das Schicksal. Man wird nicht gut an uns tun: das ist das Schicksal. Ich habe es auf allen Wegen [...] gehört, dass nur eins hilft gegen das Schicksal: nicht widerstreben. Ich glaube, [...] dass der allmächtige Weltenlauf starr, unbeugsam ist, und nicht von seiner Richtung abweicht. Wenn ihr kämpfen wollt, so mögt ihr es tun. Ihr werdet nichts ändern, ich werde euch nicht helfen können. [...] ihr Schicksal wird von außen bestimmt. Ich muß den Tod über mich ergehen lassen und das Leben über mich ergehen lassen und beides unwichtig nehmen, nicht zögern, nicht hasten. [...] Wenn wir so schwach sind, sind wir doch stärker als alle anderen.”(WL,79f)

Obwohl Wang-lun eine Zeitlang hinter dem Schleier des Glaubens durch Selbstverzicht sich aufzulösen sucht, entwickelt er sich als ursprünglich von keinen Sittenregeln stark beeinflußter naturhafter Mensch allmählich zu einem Menschen, der sich stark mit der Welt auseinandersetzt. Als Wang-lun nach Schan-tung aufbricht, um dort “den Schutz der Brüder von der Weißen Lilie” zu erbitten (WL,81), gerät die Masse schnell in die “Ratlosigkeit”, ihnen kommt Wang-luns Plan des Nicht-Handelns wie “ein Rausch” vor (WL,83); sie wollen doch - “durch den anderen” geschützt - durch die Provinz wandern, betteln und arbeiten, sie wollen sich nicht lange an einem Ort aufhalten. Sie wollen der buddhistischen Lehre folgen und keinen Menschen töten, jedoch das Nicht-Handeln langweilt und beunruhigt sie.(WL,83) Diese Reaktion der Masse wächst unter dem Einfluß Ma-nohs. Im Gegensatz zu Wang-lun kann Ma-noh als buddhistischer Mönch die Lehre des Wu-wei, die für ihn eine fremde Weltanschauung ist, nicht akzeptieren. In der Abwesenheit Wang-luns weicht die Masse von dieser Lehre ab, sie schlägt in das Gegenteil um zu dem, was Wang-lun gepredigt hat. Während Wang-lun seine Sekte Ma-noh überläßt und in einer anderen Gegend seine Einflußsphäre ausweitet, verrät dieser seinen Meister, um selber Haupt dieser Sekte zu werden.(WL,146f,151ff u. 160f) Wang-lun erfährt dies und vergiftet deshalb heimlich einen Brunnen, um Ma-noh und seine Anhänger zu töten.(WL,251ff)

In der folgenden Auseinandersetzung eskalieren zwei verschiedene Konzepte des Wu-wei-Gedankens. Wang-lun lehnt die “Tat” ab und verlangt von seinen Anhängern eine vollkommene Ergebenheit in das Nichts-Tun. Gleichzeitig bricht er aber selber dieses Dogma: Er verläßt seine Anhänger und macht sich eilig Tage und Nächte auf die Suche nach der Hilfe von der Sekte “Weiße Wasserlilie”.

In bezug auf das Wu-wei lassen sich die Figuren Wang-lun und Ma-noh in ihren Gegensätzen am deutlichsten darstellen. Der Gedanke des Wu-wei beherrscht zwar die Helden und ihre Anhänger und weist ihnen den Weg des Einsiedlerlebens, wird aber von ihnen unterschiedlich interpretiert und dient gelegentlich zur Rechtfertigung der Gewalttätigkeit. Das Wu-wei bleibt damit ein an der Oberfläche des Bewußtseins der Helden schwebender Gedanke. Das wichtigste ist jedoch kein “Nicht-Handeln”, sondern der Drang zum Handeln, der latent in den Helden vorhanden ist und schließlich ausbricht.  Wang-lun will nicht handeln, handelt aber gleichzeitig, wenn eine Tat für ihn nötig wird, indem er einfach Gewalt anwendet, ohne darüber nachzudenken. In den Handlungsentwicklungen Wang-luns gibt es keine rationalen Zusammenhänge: Die meisten Ereignisse geschehen unerwartet, ungeplant; in ihm kann der Tatendrang - trotz des schon in ihm verinnerlichten Gedankens des Wu-wei- ungestört ausbrechen. Er ist von niemandem gefesselt, nicht einmal von sich selbst. Wenn seine Seele ausbricht, wandelt er sich jederzeit unbemerkt in die Gestalt, die sich die Sektierer wünschen, obwohl er auch Angst vor seiner großen Verantwortung spürt.(WL,73) Durch Wang-luns Wendung zum Willen aktiven Widerstands wird seine Sekte in die verheerenden, fatalen Kämpfe mit den kaiserlichen Truppen hineingezogen. Nach der letzten gewaltigen Niederwerfung der rebellierenden Sektierer und dem Tode Wang-luns stößt eine Frau in seiner Sekte verzweifelt einen Schrei aus: eine Frage nach dem Sinn des Nicht-Handelns. Die Frage, die sich Wang-lun sicherlich hätte stellen können:

“Stille sein, nicht widerstreben, kann ich es denn?”(WL,480)

Die Frage des Handelns und Nciht-Handelns wird bei Döblin zwar unter der gleichen Problematik gesehen wie bei seinen Vorläufern wie z.B. Spengler. Döblin versucht, durch das Beispiel des Helden Wang-lun den Konflikt zwischen dem Prinzip, das Schicksal, also die Welt mit Ergebung zu tragen, und dem Willen zur Tat zu erläutern. Als europäischer Schriftsteller erfaßt Döblin in seinem Helden ein europäisches Problem: der Mensch im Konflikt zwischen Ergebung und Handeln, wobei die Antwort schon als Tat, Handeln gegeben ist. Döblin stellt hier schließlich eine Figur dar, deren inneres Gefühl ständig vom Drang zur Entscheidung, zur Tat bestimmt wird. Das ist eine europäische mythische Figur, die durch ihre Tat ihre Tragödie selbst am besten vorführt: eine Figur mit der Tatkraft, die bei Spengler hervorgehoben wird. Auch wenn Wang-lun, so Ribbat, ein vermeintlicher Held sein mag,(9) der an diesem Kampf scheitert, wird er trotzdem hier als ein Mensch der Tat, als ein vom inneren Kampf geprägter Held mythisiert, nicht im Sinne eines echten Verwirklichers des Wu-wei.

 b. Die Ironisierung des Kaisertums durch die Figur des chinesischen Kaisers

Döblin war zeitlebens ein Gegner des Kaisertums. Und er stellt also hier dem chinesischen Kaisertum die “Geheimbünde” gegenüber, die “Kaiser stürzten und furchtlos das notwendige Gleichmaß wiederherstellten”, dem großen Kung-fu-tse, dem “Wiederhersteller der alten Ordnung”, der “stählerne[n] Mittelsäule des Staatsgebäudes” gleich und rechtfertigt diese Bünde, indem er ihre Kampfbereitschaft, Elastizität, Ausdauer und Einflüsse auf das Volk lobt.(WL,88f) Im dritten Buch des Romans, in “Der Herr der Gelben Erde”, wird der Charakter des Kaisers Khien-lung in der Art dargestellt, dass sich die Realität seiner langjährigen Herrschaft und die Atmosphäre am Hof entlarven, die zur Schwäche des abgeschwächten Kaiserreiches, das 1912 zugrunde ging, geführt haben. Dies wird hier insbesondere in einer Person, in der Figur des Kaisers symbolisiert, der seinerseits wiederum mit einer alten Schildkröte verglichen wird:

“Und dann kam aus dem Gehäuse das graue hornige Haupt, das wunderliche leidenschaftslose Haupt an einem faltigen Hals, [...] wie eine Königsmumie: der lang sich reckende verwelkte Hals, in spöttischer Ruhe den dreieckigen Schädel wendend. [...] Langsam hebt sich das Schild von einer Seite auf, senkt sich, schiebt sich vor. Es ist der mühselige Gang eines behenden, doch gichtischen uralten Mannes [...]. Der Kaiser [...] suchte der Schildkröte nachzukommen, ihr nachzuahmen”.(WL,276)

Die Figur des Kaisers zeigt sich jedoch im Roman nicht konstant und beständig, sondern in unterschiedlichen Ausprägungen: Er ist einerseits ein alter Mann, ist körperlich nicht mehr so stark wie früher, als er ein mächtiger Kaiser war, der “selbst viele Völker eroberte und dessen Ohr früher der Todessturz ganzer Völker nicht erreichte“; jetzt genügt aber schon “das Schreien und Sterben einiger tausend Menschen”, um ihn schlaflos zu machen.(WL,275 u. 305) Seine Untertanen wissen auch schon um die “Zustände schwerer Versunkenheit und Erschlaffung” des Kaisers, jetzt muß man für ihn, der sonst “energisch” und ganz “beherrschend” war, alles tun, ihn führen, setzen usw.(WL,277) Das ironisch-negative Bild des Kaisers hält sich fast durch das ganze Buch hindurch. Der Widerspruch der kaiserlichen Herrschaft und der Leiden der Menschen wird immer wieder hervorgehoben. Der auch geistig schwach gewordene Kaiser reagiert ohnmächtig, “verblüfft” und sogar “weinend und fassungslos” auf die Nachricht der Aufstände der Wu-wei-Sekte.(WL,286f)

In dem Roman ist jedoch die Kaiserherrschaft mit der Schwäche eines alten Kaisers nicht abgeschlossen. Das Reich geht nicht unter, sondern wird fortgesetzt durch das Erscheinen des Sohnes, Kia-King. Dieser Prinz, der sich oft mit seinem Vater auseinandersetzt, zeigt sich manchmal grausam, aber auch nicht unmenschlich (WL,289), vertritt zum großen Teil die Macht seines Vaters. Er will den Aufstand der Sekten niederwerfen und den Prinzipien der Dynastie, die seine Ahnen errichtet haben, treu bleiben.(WL,359 f) Der des Lebens müde Kaiser gibt allmählich nach. Er ist zwar mißtrauisch, folgt aber schließlich der Meinung seines Sohnes, ist sogar heimlich erfreut über dessen Kraft.(WL,361) Die Figur des Kaisers Khien-lung wird sehr ironisch, aber auch menschlich geschildert. Der hochbetagte lebenserfahrene Kaiser zeigt sich auch als im Konflikt von “Nicht-Handeln” und “Handeln” befindlich. Der Autor stellt ihn auch in die Mitte dieses Problems und verfolgt experimentell, wie er von diesem Konflikt gequält wird und sich schließlich für “Handeln” entscheidet.

Seitdem China den Europäern bekannt geworden wart, hat sich das Bild dieses Landes oft gewandelt, was jedoch auch Mißverständnisse nicht ausschloß. China galt in der Zeit der Aufklärung den Europäern nicht zuletzt wegen der stark organisierten Staatsformals als Maßstab bzw. Repräsentativ der gesamten materialistischen und geistigen Welt des Fernen Ostens. Voltaire und Leibniz z.B. betrachteten China als einen Idealstaat, eine “aufgeklärte” Monarchie, in der jede Adelswirtschaft und Priesterhierarchie fehlten und “die Leitung des Volkes in den Händen der geistigen Elite, der Gelehrten liege.”(10)  Die lange konstante Geschichte Chinas wurde nicht zuletzt mit der gesamten europäischen Geschichte verglichen. Im Laufe der Zeit verfiel hingegen in den Augen der europäischen Staaten dieses Bild zu dem eines mythisch-unorganisierten Königreiches. Deutsche Romantiker bezeichneten z.B. die chinesische Kultur als “eine mumienhaft erstarrte“:(11) ein Bild, das Döblin auf den chinesischen Kaiser anwendet. Seit der Jahrhundertwende hat sich infolge der Erweiterung der Weltanschauung der Deutschen zwar ein wachsendes Interesse für China gezeigt, aber das Bild dieses Landes blieb, insbesondere im Hinblick auf sein Staatssystem, eigentlich negativ.

Die historischen Fakten liefern jedoch eine andere Interpretation der Figur des Kaisers Khien-lung. Die “Tai-tsing-Dynastie” mit der Bedeutung der “Großen Reinen Dynastie”, die 1636 von einem Herrscher der Mandschus, eines ursprünglich nördlich von China ansässigen fremden Stammes, gegründet wurde, genoß ihre höchste Blütezeit unter der Herrschaft des Kaisers Kanghsi (Regierungsjahre: 1661-1722) und dessen Enkelsohn Khien-lung (1736-1796). Khien-lung, der sechste Kaiser der Dynastie, unternahm während seiner Herrschaft etwa zehn erfolgreiche Feldzüge und schuf damals das größte und mächtigste Reich in der ganzen chinesischen Geschichte. Wie sein Name “Khien-lung”, der “Gesundes Gedeihen” bedeutet und eigentlich als die Bezeichnung seiner Regierungsjahre gegeben worden ist, andeutet, erlebte das Reich unter seiner Herrschaft lange Zeit inneren Frieden, große äußere Machtentfaltung und die höchste Blütezeit der Kunst und Literatur. Es ist nicht unbegründet, dass die europäischen Missionare, die damals China besuchten, im Vergleich zu der damaligen Situation Europas diesen Kaiser lobten.(12)  Er dankte jedoch nach sechzigjähriger Herrschaft ab, um die Regierungsdauer seines Großvaters nicht zu überschreiten. Andererseits dachte er an seinen Sohn.

Die Darstellung eines ostasiatischen Kaisers in seinem inneren Konflikt wurde in der deutschen Literatur zum ersten Mal von Döblin durchgeführt; bisher wurde nur noch ein anderer Kaiser aus dem chinesischen Kulturkreis überhaupt betrachtet: nämlich “Qin-Schi-Huang-Di”, der Vereiniger Chinas und Errichter der Chinesischen Mauer, der fast immer nur als brutaler Eroberer und barbarischer Tyrannen geschildert wurde.(13)  Döblin überwindet aber in seinem Roman ein solches Bild und stellt die Persönlichkeit und seelische Entwicklung des Kaisers sehr ausführlich dar. Dennoch ist diese Schilderung auf ein negatives Bild des Kaisers beschränkt. Dadurch versucht er seine antiaristokratische Einstellung deutlich zum Ausdruck zu bringen, obwohl andererseits hier die kaiserliche Herrschaft nicht ganz abgelehnt wird, wie es im Text die Häupter der Sekten selbst zugeben:

“Die Regierung Khien-lungs dauerte lange. Der Kaiser hatte eine harte, nicht ungerechte Hand.”(WL,96) 

 

III. Franz Kafkas Erzählung Beim Bau der chinesischen Mauer

Unter den Romanen und den zahlreichen Erzählungen F. Kafkas ist die Erzählung Beim Bau der chinesischen Mauer das einzige Stück, in das der Autor einen chinesischen Stoff - oder einen ostasiatischen überhaupt - einführt. Diese Erzählung soll aus den Jahren 1918-1919 geschrieben sein. Zu seinen Lebzeiten wurde sie aber weder veröffentlicht noch hatte sie einen Titel bekommen. Ein Teil dieser Erzählung wurde doch von Kakfa selbst 1919 unter dem Titel ‘Eine kaiserliche Botschaft’ in einem Erzählband Ein Landarzt veröffentlicht.(14)  Erst nach seinem Tode hat sein Freund Max Brod 1931 zum ersten Mal diese Erzählung zusammen mit anseren in einem Band veröffentlicht.

Merkwürdigerweise stimmt die Darstellung der Schwäche eines Kaisers und die Unübermittelbarkeit seiner Botschaft in der Erzählung in gewisser Hinsicht mit einigen Charakterzügen des Kaisers im dritten Buch des Romans Die Drei Sprünge des Wang-lun überein. Es ist doch zu vermuten, dass Kakfa schon, bevor er diese Erzählung niederschrieb, den Wang-lunßRoman von Döblin gelesen und sich davon beeinflussen lassen.(15) Das Motiv ‘Kaiser von China’ z. B. bietet erstaunlicherweise in den Werken beider Autoren ein ganz ähnliches Bild, obwohl sie jeweis ein unterschiedliches Thema bilden. In seine späten Lebensjahren wurde auch Kakfa auch  von der chinesischen Kultur einigermaßen beeinflußt. Im Taoismus interessierte sich Kafka besonders  -im Vergleich zu Döblins Interesse für die Wu-wei-Lehre- für die Anschauung über Leben, Tod, Wandel usw. als religiöse Ansätze. Kafka brachte grundsätzlich nicht irgendwelche konkrete historische Fakten als Stoff in sein Werk, sondern es ging ihm fast immer um die Darstellung seines inneren Lebens.(16) Deswegen kann die Erzählung Beim Bau der chinesischen Mauer bei ihm als eine Ausnahme gelten.

a. Der Stoff der chinesischen Mauer und die Infragestellung des Kaisertums

Über die Chinesische Mauer, die heute noch existiert, wurde viel geredet und geschrieben. Besonders für Europäer war diese Mauer durch ihre Größe und Länge einerseits bewundert, andererseits galt sie für sie jedoch als ein Symbol der Rätselhaftigkeit und Verschlossenheit. In der abendländische Literatur wurde diese Mauer sehr häufig in Gleichnissen erwähnt, um China als eine stille, abgeschlossene Welt zu beschreiben.(17) Zugleich wurde aber auch der Kaiser Quin-Schi-Huang-Di, der den Bau dieser Mauer befahl, in vielen Fällen nur als eine rätselhafte oder tyranische Person angesehen. Insbesondere neigte die moderne Literatur dazu, vom Standpunkt des modernen europäischen Bewußtseins aus diese Person meistens negative zu interpretieren und darzustellen,(18) obwohl dieser in der Sicht der Historiker  sehr unterschiedliche Charakterzüge darbietet. Dieser Kaiser war eigentlich der hervorragendeste Mann in der chinesischen Geschichte. Nachdem der ununterbrochenen Kriegsführung gegen andere Lehnsstatten zwischen 230 und 222 vor Chr., vereingte er diese schließlich im Jahr 221 vor Chr. und wurde der erste Kaiser des veeinigten Kaiserreiches “Quin”. Damals war er erst neununddreißig Jahre alt. Zu seiner Zeit bildete sich jedoch an der nördlichen Grenze ein nichtchinesischer Staat, der militärisch gut organisiert war. Dabei ließ der Chinesische Kaiser einerseits eine große Armee an der nördlichen Grenze entgegenstellen, und andererseits befahl er, die Grenzmauern, die schon von früher her in den nördlichen Bergen stückweise gebuat waren, zu restaurieren und zu einer großen Kette zu vereinigen. Auf diese Weise entstand ca. 214 vor Chr. die berühmte Chinesische Mauer. Umgekhrt war der Kaiser jedoch gerade wegen dieses Baus berüchtigt.

Geht man nun auf die Erzählung Beim Bau der chinesischen Mauer zurück, so merkt man gleich, dass die Figur des Kaisers in den Hintergrund gedrängt wird. Scheinbar wird er nicht als so wichtig angesehen wie die Mauer selbst. In der Erzählung wird z. B. weder sein Name noch sein Alter angedeutet, sondern der Kaiser wird nur als ein kranker, sterbender Mann dargestellt, was natürlich nicht den historischen Tatsachen entspricht. Die Hauptstadt des “Quin”-Reiches war damals auch nicht Peking, sondern “Ham-Yang”, die Tausende Kilometer westlich von Peking entfernt war. Außerdem läßt sich in der Erzählung merkwürdigerweise nirgendwo der Einfluß irgendeines chinesischen Gedankens auf den Autor spüren. Es ist daher eigentlich nicht genau festzustellen, wie gut Kafka über die historischen Fakten des Kaisers “Quin-Schi-Huang-Di” und der Chinesischen Mauer wußte und inwieweit er sich von diesen Stoffen zur Abfassung seiner Erzählung motivieren ließ. Es zeigt sich aber deutlich, dass Kafka diese Fakten -auch wenn er schon davon gewußt hätte- in der Absicht mißachtete, durch Abschaffung der historischen Konsequenz den mythischen Aspekt hervorzuheben. Betrachtet man trotzdem diese Erzählung genauer, so kann man feststellen, dass es sich hier nicht nur um eine exotische Geschichte Chinas - nämlich um die Errichtung der Chinesischen Mauer - handelt, sondern auch um eine religiöse Problematik, mit der sich Kafka lebenslang auseinandersetzte. In der Erzählung taucht nämlich neben der “Mauer” als einem chinesischen Problem noch ein anderes problematisches Element, d.h. der “Turm zu Babel” aus dem jüdischen Kulturkreis auf. Die beiden grundverschiedenen Elemente vermischen sich hier und daraus entsteht eine neue Problematik. Um dies zu verstehen, ist auch das Verständnis des inneres Zustandes Kafkas wichtig. Er war einerseits vom Zionismus beeinflußt, aber sein Interesse für das Judentum war nicht so sehr etwas Zukunftweisendes. Vielmehr ließ er seine Lebensangt in seinem Judentum wurzeln.(19) Die Vorstellung des altbiblischen Judentums wirkte lebendiger auf ihn und damit blieb immer noch die alte Problematik des Judentums, nämlich die Auseinandersetzung mit Gott, dem richtenden und strafenden, aufbewahrt. Eine Problematisierung eines Mythos in der jüdischen Vergangenheit wird dadurch in dieser Erzählung zu einer gegenwärtigen Problematik, indem sie das  eigentich historisch verankerte Stoff des Baus der chinesischen Mauer selbst auch ins Ahistorische verwandelt. Der Turmbaru zu Babel wird dort der Großen Mauer gegenübergestellt, die zunächst als Symbol der kaiserlichen Macht verstanden wird. Durch die Parallelstellung dieser beiden, ursprünglich kulturell, zeitlich und motivistisch ganz unterschiedlichen Bauwerke scheint die Problematik, die Kafka in der Erzählung bietet, noch kompliziert zu werden. Die ‘Überzeitlichkeit’ der Chinesichen Mauer wird nämlich betont, und durch diese Mysthisierung entspricht der so dem Bild des Turmbaus zu Babel. Dieser Turmbau-Mythos beschäftigt Kafka einerseits ununterbrochen, wie er oft darüber sprach und schrieb.(20) Dies erweist sich noch deutlicher dadurch, dass in dieser Erzählung das Geschichtsbewußtsein des Erzählers  schwach ist. Im Vergleich zu Döblins Roman taucht dort nicht einmal der Name des Kaisers auf. Alles, was in der Erzählung geschieht, ist etwas Unrealistisches, Überzeitliches, obwohl ein gegenwärtiges Problem behandelt wird. Im Grunde spielt sich dort eine chinesische Geschichte vor dem Hintergrund eines jüdischen Mythos ab, der tief im Bewußtsein des Autors lag.

Wie in den andernen Werken Kafka häufig der Fall ist, ist in dieser Erzählung die  “Herrschaft(Macht)” ein sehr wichtiges Thema. In China, das in der Vorstellung des Erzählers “Ich” als eine zeitlich und räumlich unermeßliche Kontinuität vorkommt, ist der Kaiser selbst als eine Person scheinbar unwichtig. Er wird in den Hintergrund gedrängt und isoliert, obwohl ein Kaiser eines Reiches gewöhnlich als Vertreter seiner Epochen gelten und für das Schicksal seines Volkes verantwortlich sein soll, zumal es hier in der Erzählung um das “Kaisertum” geht. Statt dessen tritt zunächst die “Führerschaft”, die das Kaisertum vertreten soll, in den Vordergrund. Hier wird nämlich zwischen “Kaisertum” und “Führerschaft” unterschieden. Der Erzähler kommt darauf zu sprechen und stellt sich die Frage nach der Zweckmäßigkeit des Mauerbaus in bezug auf dessen Befehlshaber, die Führerschaft.

“In der Stube der Führerschaft - wo sie war und wer dort saß, weiß und wußte niemand, [...] kreisten wohl alle menschlichen Gedanken und Wünsche und in Gegenkreisen alle menschlichen Ziele und Erfüllungen. /[...] Bleibt also nur die Folgerung, dass die Führerschaft den Teilbau beabsichtigte. Aber der Teilbau war nur ein Notbehelf und unzweckmäßig. Bleibt die Folgerung, dass die Führerschaft etwas Unzweckmäßiges wollte.”(BB, 292f) (21)

Damit wird die Gerechtigkeit dieser Führerschaft in Frage gestellt. Ihre Unvollständigkeit deutest sogar ein negatives Bild an, aber der Erzähler versucht, aufzuhören, weiter darüber nachzudenken, denn man sollte wissen, dass diese Führerschaft trotz aller positiven oder negativen IUrteile über sie besteht und dass ihre Existenz nicht aufgehoben wird.

“so muß ich sagen, meiner Meinung nach bestand die Führerschaft schon früher, kam nicht zusammen, wie etwa hohe Mandarinen, durch einen schönen Morgentraum angeregt, eiligst eine Sitzung einberufen, [...]. Vielmehr bestand die Führerschaft wohl seit jeher und der Beschluß des Mauerbaues gleichfalls.(BB, 294)

Die Führer sind nicht einzeln darzustellen, sie sind unsichtbar und raumlos. Diese Führerschaft repräsentiert also nur die Totalität menschlicher Vorstellungen und bleibt damit alles, sowohl der Ursprung der Führerschaft als auch der Beschluß des Mauerbaus, zeitlos. Die Herrschaft über das Land, die eigentlich dem Kaiser gehören soll, scheint also hiermit in die Hände der Führerschaft übergegangen, und der Kaiser aus dieser Führerschaft ausgeschlossen zu sein:

“unschuldiger Kaiser, der glaubte, er hätte ihn angeordnet. Wir vom Mauerbau wissen es anders und schweigen.”(BB, 294)

Der Kaiser wird somit als ein schwacher, sterbender, alter Mensch, der in “seinem Sterbebett” liegt, bezeichnet.(BB, 296) Also bietet hier anscheinend ein chinesischer Kaiser ein ähnliches Bild wie der Kaiser

“Khien-lung” in Döblins Roman. Gleichzeitig spielen das Kaiserbild und das Kaisertum auf das Bild der schwachen Österreich-Ungarischen Monarchie und deren schwachen Kaisertums von damals. Durch eine Mischung von Ironie und Übertreibung wird der Kaiser jedoch zugleich als ein “diktatorischer, massenentfremdeter Mensch”(22)betrachtet, während er von dem Volk andererseits nur wie durch einen Schleicher betrachtet wird:

„Genau so, so hoffnungslos und hoffnungsvoll, sieht unser Volk den Kaiser. Es weiß nicht, welcher Kaiser regiert, und selbst über den Namen der Dynastie bestehen Zweifel. In der Schule wird vieles dergleichen der Reihe nach gelernt, aber die allgemeine Unsicherheit in dieser Hinsicht ist so groß, dass auch der beste Schüler mit in sie gezogen wird. Längst verstorbene Kaiser werden in unseren Dörfern auf den Thron gesetzt, und der nur noch im Liede lebt, hat vor kurzem eine Bekanntmachung erlassen, die der Priester vor dem Altare verliest. ”(BB, 296)

Aber das eigentliche Problem, das sich um den Kaiser herum entwickelt, liegt viel tiefer. Die Grundbeziehung zwischen dem Kaisertum und dem Volk besteht darin, dass das Volk immerhin an das Kaisertum glaubt:

“Gerade über das Kaisertum aber sollte man meiner Meinung nach das Volk befragen, da doch das Kaisertum seine letzten Stützen dort hat.”(BB, 295)

In Wirklichkeit shlägt in der Erzählung das Kaiserbild in das Gottesbild um, mit dem sich der Autor schon längst tiefernst auseinansersetzte, denn das Kaisertum ohne einen Kaiser wäre ansonsten auf der Erde nichz denkbar. Seitdem Nietzsche am Ende des 19. Jahrhunderts “Gott ist tot” erklärte,(23) ist der Gott zwar tot, aber sein Abglanz, das Kaisertum immer noch existiert:

“Durch das Fenster aber fiel der Abglanz der göttlichen Welten auf die Pläne zeichnenden Hände der Führerschaft.”(BB, 295)

Der chinesische Kaiser, der den gewaltigen Mauerbau befahl und zu seinen Lebzeiten eine unvergleichbare Macht ausübte und sein sehr weites Reich endgültig vereinigte, verwandelt somit hier vollkommen in eine unnahbare, unpersönliche, ohnmächtige Gottesfigur. Der Zweck des Mauerbaus soll auch dann für den Kaiser oder seine Führerschaft nicht der Schutz gegen dei Nomaden, sondern der Sinn des Mauerbaus besteht darin, einen Abglanz der göttlichen Welten auf Erden zu schaffen. Oder der zusammenhanglose, unzweckmäßige Mauerbau kann hier menschliche Institution, Dogmen oder göttliche Offenbarung symbolisieren.(24) Damit wird die religiöse Problematik, die der Autor durch den Mauerbau im Zusammenhang mit dem “Turmbau zu Babel” betrachtet, noch deutlicher, wie der Erzähler sagt:

“dass der Turmbau zu Babel keineswegs aus den allgemein behaupteten Ursachen nicht zum Ziele geführt hat, oder dass wenigstens unter diesen bekannten Ursachen sich nicht die allerersten befinden. Seine Beweise bestanden nicht nur aus Schriften und Berichten, sondern er wollte auch am Orte selbst Untersuchungen angestellt und dabei gefunden haben, dass der Bau an der Schwäche des Fundamentes scheiterte und scheitern mußte. In dieser Hinsicht allerdings war unsere Zeit jener längst vergangenen weit überlegen. Fast jeder gebildete Zeitgenosse war Maurer vom Fach und in der Frage der Fundamentierung untrüglich. Dahin zielte aber der Gelehrte gar nicht, sondern er behauptete, erst die große Mauer werde zum erstenmal in der Menschenzeit ein sicheres Fundament für einen neuen Babelturm schaffen. Also zuerst die Mauer und dann der Turm.”(BB, 292)

Das Endziel des Volkes - nämlich der Menschheit - ist also wieder der Turmbau zu Babel. Durch die Einführung dieses Turmbau-Mythos verliert nun der Bau der Chinesischen Mauer seine geschichtliche Grundlage und verwandelt sich in seinen religiösen Mythos. Dadurch ändert sich bei Kafka das Bild eines chinesischen Kaisers und sein großes Bauwerk in “das verdrängte Gottesbild”(25) des Abendlandes.  

b. Das Chinesische Volk:

In dieser Erzählung besteht das chinesische Volk hauptsächlich aus zwei Schichten, nämlich aus Erbaueren, Männeren, Frauen, Kindern als Tagelöhner und dem Erzähler “Ich”. Der Ich-Erzähler stellt sich als Teilnehmer an dem Mauerbau vor und erklärt seinen Standpunkt, dass er über den Mauerbau einen “historischen” Bericht erstattet, gibt aber gleichzeitig zu, dass die Grenzen seiner Denkfähigkeit dem hier zu druchlaufenden Gebiet - dem Endlosen - gegenüber zu eng seien.(BB, 293) Die unendliche erscheinende Größe des Landes macht - so der Erzäher - auf das Volk den Eindruck, dass die Zeitlichkeit auch aufgehoben wäre. Es besteht keine direkte Verbindung zwischen der Hauptstadt und den Provinzen und zwischen dem Kaiser und dem Volk. Das Volk lebt daher nicht in der Gegenwart, sondern in der Tradition, da keine kaiserliche Botschaft sie erreichen kann.(BB, 297f) Das Volk hat im allgemeinen keinen Überblick darüber, was es baut oder worum es überhaupt geht.  Sogar diejenigen, die selbst am Bau arbeiten, sind meist “unwissende Taglöhner”(BB, 289) Es kann auch keinen Einblick in die Ziellosigkeit, Hoffnungslosigkeit dieses Baus haben, weil das System des Teilbaus eingeführt worden ist, um die Menschen zu trennen und zu täuschen.(BB, 290) Statt dessen verherrlicht das Volk diesen Mauerbau. Es nimmt dort aktiv teil, neue “Arbeitsheere aus dem Volk” jubeln; sie verzichten auf das ruhige Leben in der Heimat:

“Wie ewig hoffende Kinder nahmen sie dann von der Heimat Abschied, die Lust, wieder am Volkswerk zu arbeiten, wurde unbezwinglich. Sie reisten früher von Hause fort, als es nötig gewesen wäre, das halbe Dorf begleitete sie lange Strecken weit. Auf allen Wegen Gruppen, Wimpel, Fahnen, niemals hatten sie gesehen, wie groß und reich und schön und liebenswert ihr Land war. Jeder Landmann war ein Bruder, für den man eine Schutzmauer baute, und der mit allem, was er hatte und war, sein Leben lang dafür dankte. Einheit! Einheit! Brust an Brust, ein Reigen des Volkes, Blut, nicht mehr eingesperrt im kärglichen Kreislauf des Körpers, sondern süß rollend und doch wiederkehrend durch das unendliche China.”(BB, 29)

Das Bild des Volkes wird hier ironisch dargestellt. Das Volk an sich ist nicht urteilsfähig; es wird schnell begeistert, und es folgt nur. Diese militärische übertreibende Stimmung des Volkes ist aber nur ein Trugbild. Im Grunde wird das Volk “von staatlichen Umwälzungen, von zeitgenössischen Kriegen in der Regel wenig betroffen”(BB, 297) Es ist ihm auch gleichgültig, ob der Kaiser lebt oder tot ist. Das Volk tut, als ob es nichts merkt. Obwohl diese Menschen ein kaiseretreues Volk bleiben, zeigen sie durch ihr Schweigen “eine Schwäche der Vorstellungs- oder Glaubenskraft”(BB, 298) und durch seine Glaubensscwäche wird das Volk darin gehindert, “das Kaisertum aus der Pekinger Versunkenheit”(BB, 299) zu retten.

Ein solches Volksbild verbindet sich einerseits mit dem damals im Gegensatz zu dem Militarismus oder Nationalismus in der Österreich-Ungarischen Monarchie entstandenen Zionismus, wobei die Juden teils ein kaisertreues, vom Krieg auch begeisteres Volk blieben, aber teils in Wirklichkeit von den Geschehnissen von damals ziemlich entfernt waren und eigentlich nie richtig dazugehörten. Kafka war nicht aktiv an dem Zionismus beteiligt, aber damals ging er bereits sehr tief auf das Problem des jüdischen Volkes ein, wie es überall in seinen Schriften zu sehen ist. Das Bild des jüdischen Volkes, das er persönlich behalten hat, war folgendes:

“Wir haben keine Jugend, wir sind gleich Erwachsene, [...], eine gewisse Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit durchzieht [...] das [...] Wesen unseres Volkes.”/ “Wir Zionisten sind stolz darauf, die Vergangenheit des jüdischen Volkes zu neuem Leben zu erwecken. Aber wie wenig wissen wir von dieser Vergangenheit”(26)

Dieses alte jüdische Problem -Auseinandersetzung mit Gott und Welt und Weglosigkeit des Volkes- wird in dieser Erzählung auf die Eigenschaften und Geschehnisse des chinesischen Volkes übertragen, und das chinesische Volk selbst wird als die Menschheit verallgemeinert, in der das Problem des jüdischen Volkes allezeit gelten sollte. Hier taucht wieder ein religiöses Problem auf und damit wird das chinesische Volk selbst selbst mythisiert, indem sein alte religiöse Problem ewig bleibt. Das Motiv “Volk” tritt bei Kafka besonders in seinen späteren Werkn und Schriften immer wieder auf, und zwar in bezug auf das Kaisertum und die Göttlichkeit, die Kafka trotz aller Auseinandersetzungen damit und ihrer Unsichtbarkeit nie verleugnen konnte. In einem Gespräch mit G. Janouch schildert er:

“Drei übereinnaderliegende Plattform sollten drei geistige Welten darstellen: die Straße [...] des Volkes unten, darüber den Palast des Königs oder das Haus der einzelnen Menschen und ganz oben den Tempel der geistlich-weltlichen Macht, [...] das Ganze ist eine Pyramide, deren Spitze sich in den Wolken verliert.”(27)

Der Erzähler -vielleicht der Autor selbst - tadelt aber in der Erzählung ebensowenig dieses Volk wie er das Kaisertum verleugnet. Er gibt zu, “dass gerade diese Schwäche eines der wichtigsten Einigungsmittel unseres Volkes zu sein scheint”.(BB, 299) Dabei erweist sich das Problem der Beziehung des Volkes zum Kaisertum, das in der Erzählung der Kernpunkt bleibt -nämlich die Beziehung der Menschen zu Gott oder Welt- gar nicht lösbar. Diese mythische Beziehung soll ewig und überall -genauso problematisch wie immer- bleiben. Das chinesische Volk, bei dem sich auch dieses Problem einstellt, wird von dem Autor bewußt in die Grundbedingungen der Menschheit eingeschlossen - der Menschheit, die ihm so fatalistisch vorkam.

 

Schlusswort

Mit den bisher betrachteten chinesischen Stoffen, Motiven und Themen haben wir einen Überblick darüber gewonnen, dass die Welt Chinas bei den beiden Autoren Döblin und Kafka, die zu einer ganz anderen Welt gehörten, sehr verschiedene Gestalten annahmen. Dies lag in ihren unterschiedlichen Weltanschauungen und ihren dichterischen Methoden begründet. Die lebendige Geschichte Chinas verliert dennoch in den Augen dieser mehr oder weniger apokalyptisch gestimmten Autoren ihre wirkliche Fakten. ; sie wird in die visionären, traumhaften Welten verwandelt.

Die unterschiedlichen Auffassungen der beiden Autoren zeigen sich hierbei jedoch einigermaßen deutlich: Bei Döblin bleibt der Kaiser ein irdischer, leidender, in die Geschehnisse hineingezogener Mensch, während bei Kafka  die Figur des Kaisers jedoch als ein himmlisches, zugleich unzugängliches Wesen herausgehoben wird.

Das Volk in Döblins Roman denkt, handelt, leidet und geht zugleich unter. Hingegen gewinnt das Volk in Kafkas Erzählung keine lebendige Gestalt. Es wird hier -wie die Existenz des Kaisers selbst- als ein kollektives Wesen, nur als eine Kategorie gesehen. Dieses Volk kann natürlich kein konkretes Handeln zeigen, sondern alles soll  von vornherein als ewig und unveränderlich bestimmt sein, genau so wie das unsterbliche Kaisertum, das nicht abgeschafft werden kann. Eine Handlung findet so nicht statt und alles bleibt erstarrt -sowohl das Kaisertum als auch das Volk.

Während die Menschen bie Döblin einen religiösen oder politischen Ausweg durch Handeln suchen und die Religion als Ergebung und die Rebellion als Widerstand kontrastiv dargestellt werden, bietet Kafka in der Religion keine neue messianische Hoffnung an und irgendein Versuch der Ergebung oder des Widerstandes ist deshalb im echten Sinne völlig ausgeschlossen. Döblin zeigt in dem Wang-lun-Roman ein sehr komplexes Geflecht von menschlichen Empfindungen und Gedanken. Dabei erscheint die Welt als eine unvollkommenen, die einer Ergänzung bedarf: In der religiösen Bewegung des Volkes zeigt sich eine große Sehnsucht der Menschen, die noch etwas anderes in der Welt suchen. Aber in der Erzählung Kafkas gibt er nur einen statistischen Bericht eines Erzählers. Er versucht, das Innere der gesamten Welt auf einen Punkt zu bringen - einer Welt, die fertig abgeschlossen ist, aber in iher Erstarrung nur pessimistisch gesehen wird.

 


Anmerkungen:

1 “Prototyp dieser Politik ist der Kaiser selbst”. In: Sollman, Kurt: Zur Sozialgeschichte des Kaiserreichs: Ablösung der Gründerzeit durch die Wilhelminische Epoche. In: Zmegac (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jh. bis zur Gegenwart. Bd.II. 1848-1928. Königstein/Ts. 1985. S.142f.
2  Rasch, Wolfdietrich: Die literarische Décadence um 1900. Mchn. 1986 S.9.
3  Zmegac, V. (Hrsg.): Deutsche Literatur der Jahrhundertwende. Königstein/Ts. 1981. S.X.
4  Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. In: ders.: Nietzsche Werke. Hrsg. von Colli, Georgio u.a. VI/2. Berlin 1968. S.200.
5  Gernet, Jacques: Die chinesische Welt. Ffm. 1979. S. 88.
6  Döblin: Briefe. Hrsg. von Heinz Grabe. Olten u. Freiburg i.B. 1979. S.57ff.
7  WL = Alfred Döblin : Die drei Sprünge des Wang-lun. Olten u. Freib. I. B. 1977.
8  Er war jedoch in der chinesischen Geschichte der Führer einer ernsthaften Rebellion, die 1774 in der nordöstlichen Provinz Chinas ausbrach, wogegen die kaiserliche Regierung einen Edikt erließ. Vgl. hierzu: Groot, J.J.M.: Sectarianism and religious persecutions in China. Vol.1. Taipei.1963. S.296 und noch: MacGowan, John: The Imperial History of China. London 1973. S.550
9  Ribbat, Ernst: Die Wahrheit des Lebens im frühen Werk Alfred Döblins. Münster 1970. S.121.
10  Venne, Peter: China und Chinesen in der neueren englischen und amerikanischen Literatur. Zürich 1951. S.10.
11  Rose, E.: China in der deutschen Literatur. In: Wirkendes Wort. 5. Jg. 1954/55. S.353.
12  Venne: a.a.O. S.13.
13  Frenzel, Elisabeth: Stoffe der Weltliteratur. Stgt. 1976. S.167ff.
14  Kafka: Beim Bau der chinesischen Mauer. Hrsg. von M. Brod. 1948. S.245f.
15  Janouch, Gustav: Gespräch mit Kafka. Frankfurt a.M. 1968 S.130
16  Kafka, F.: Tagebücher 1910-23. N.Y. 1951 S.420
17  Venne, a.a.O. S.60
18  Dscheng, Fang-hsiung: Alfred Döblins Roman Die drei Sprünge des Wang-lun als Spiegel des Interesses moderner deutscher Autoren an China. Ffm. 1979. S.116
19  Binder, Hartmut: Kafka Handbuch. Bd.1. Stuttgart 1979. S.571
20  Kafka, F: Briefe 1902-1924. Hrsg. von M. Brod. New York. S.119
21  BB = Kafka, F.: Beim Bau der chines. Mauer. In: Sämtl. Werke. Hg. P. Raabe. Ffm. 1982
22  Dscheng, F. a. a. O. S.115.
23  Emrich, Wilhelm: Franz Kafka. Frankfurt a.M./Bonn 1970 S.199
24  Weinberg, Kurt: Kafkas Dichtungen. Die Travestien des Mythos. Bern/München 1963. S.42
25  Weinberg, K.: a. a. O. S.407
26  Binder, H.: Motiv und Gestaltung bei Franz Kafka. Bonn, 1966. S. 46
27  Janouch, G.: a. a. O. S. 230


1.12. Asien und deutsche sowie österreichische Kunst und Literatur um die Jahrhundertwende: Einflüsse und Bedeutung

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For quotation purposes:
Doo Haeng Sook: Die Chinarezeption bei den deutschen Autoren um die Wende des 20. Jahrhunderts und deren kulturgeschichtliche Bedeutung im Hinblick auf A. Döblin und F. Kafka - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/1-12/1-12_doo17.htm

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