TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. Februar 2010

Sektion 1.12. Asien und deutsche sowie österreichische Kunst und Literatur um die Jahrhundertwende: Einflüsse und Bedeutung
Sektionsleiter | Section Chairs: Chin SangBum (Comperative Study of the World Literature in Korea) und Doo Haeng-Sook (Universität Sogang, Seoul)

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Asien-Rezeption (China und Japan) von Günter Eich und ihre Bedeutung

Hirioaki Sekiguchi (The Aichi Prefectural University of Fine Arts and Music) [BIO]

Email: hiroaki@yf6.so-net.ne.jp

 

Einleitung

Günter Eich (1907-1972) ist einer der bedeutendsten deutschen Lyriker der Nachkriegsgeneration. Sein Gedicht „Inventur“ ist neben Paul Celans „Todesfuge“ wohl das bekannteste deutsche Gedicht nach 1945. Was für uns ostaiatische Germanisten aber noch wichtiger ist, ist die Tatsache, dass er Sinologie studierte und die Annäherung zur chinesichen und japanischen Literatur sich in seiner eigenen Dichtung deutlich zeigt.

Diese Tatsache ermutigt uns sehr, da sich die Germanisten im Fernen Osten in der Regel damit begnügen müssen, eingreisig deutsche Texte zu lesen, zu interpretieren und mit Mühe und Not in eine ganz andere Sprache zu übertragen, ohne dass der Wert und die Schwierigkeit von den europäischen Germanisten richtig verstanden wird. Unter ihnen ist Eich, der unsere Anstrengungen gut nachvollziehen konnte und darüber hinaus über die Kluft zwischen Europa und Ostasien von Europa aus eine Brücke zu schlagen wagte, eine willkommene Ausnahme.

Aufgrund der politischen Situation in China der 60er Jahre, entschied sich Eich nicht nach China sondern nach Japan zu reisen. Seine Erlebnisse in Japan haben in einigen schönen Japan-Gedichte ihren Niederschlag gefunden.

Im folgenden möchte ich auf seine Auseinandersetzng mit chinesischer und japanischer Literatur im Überblich eingehen und dabei ihre Bedutung betrachten.

 

2. Eich und „Nachtgedanken“ von Li Bo

Wieso interessierte sich Eich für Chinesisch ?

Es war alles nur Zufall. Eines Tages kam Eich in ein chinesisches Restaurant in Berlin und versuchte dort, auf chinesische Weise mit Eßstäbchen zu essen. Da er keine Ahnung davon hatte, nahm er je eines der Stäbchen in eine Hand und versuchte so, vergeblich, damit eine geringe Menge zum Mund zu führen. Dann kam ihm sein Tischnachbar, ein junger Chinese, zu Hilfe. Eich geriet mit ihm in ein langes Gespräch über Tischsitten und Essen bei Chinesen. Der Chinese erzählte Eich vielerlei von China. Schließlich kamen sie auch auf die chinesische Sprache zu sprechen. Sein freundlicher Nachbar gab ihm später mehrfach Unterricht. Das waren die „Anfangsgründe in die geheimnisvolle Sprache“ einzudringen, so erinnert sich Eich.(1)

Günter Eich studierte Sinologie von 1926 bis 1930 in Berlin und Leipzig. Danach in Paris bei dem bedeutenden französischen Sinologen Paul Pelliot, ohne allerdings eine Doktorarbeit abzugeben. Jedoch beschäftigte er sich anschließend mit chinesischer Literatur. 1949 erschienen seine zehn Su Shih(蘇軾)-Übertragungen zum ersten Mal in der Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ , die Eichs Freund Peter Huchel in der DDR redigierte. Danach übersetzte er insgesamt 85 klassische chinesische Gedichte, aus der Zeit bis zum 13. Jh., für die von Wilhelm Gundert herausgegebene Anthologie „Lyrik des Ostens“(1952). Er wählte dabfür vorwiegend Gedichte aus Blütezeit der Tang aus.: von Wang We (王維) 7, von Li Bo(李白) 22, von Du Fu(杜甫) 12. Sie sind so kühn und gleichzeitig so originalgetreu übertragen, dass man sie noch heute zu den besten Übersetzungen chinesischer Lyrik rechnen kann.

Als Beispiel möchte ich hier das kurze, weltweit berühmte Gedicht „Nachtgedanken(靜夜思)“ von Li Bo mit dem Original und den Arbeiten verschiedener Übersetzter aufzeigen.  Im Folgenden zitiere ich das Orininal auf Chinesisch mit der wörtlichenÜbersetzung.

靜 夜 思
牀 前 明 月 光 
疑 是 地 上 霜
挙 頭 望 明 月
低 頭 思 故 郷
Titel: still   Nacht   denken
Bett   vor   hell   Mond Schein
zweifeln   dies   Erde   auf Reif
heben   Haupt   blicken   hell   Mond
senken Haupt   denken   alt   Land

     

  Wir Japaner lernen in der Oberschule alte chinesische Gedichte, lesen allerdings auf unsere japanische Weise. Das klingt dann so.

靜夜思
牀前月光明るき 
疑うらくは是れ地上の霜かと
 頭を挙げて明月を望み
頭を抵れて故郷を思う  
(Sei ya shi
shozen gekko akaruki
utagauraku-wa kore chijo-no simo-kato
kobe-o agete meigetu-o nozomi
kobe-o tarete kokyou-o omou.)

      

Und jetzt die schöne Übersetzung Eichs, die lautet:

Nachtgedanken

Vor meinem Bett das Mondlicht ist so weiß,
Daß ich vermeinte, es sei Reif gefallen.
Das Haupt erhoben schau ich auf zum Monde,
 Das Haupt geneigt denk ich des Heimatsdorfs.                   (GW, Ⅳ,402)

Es ist spät, vielleicht schon tief in der Nacht. Das „Ich“ kann nicht einschlafen, läuft um das Bett herum und bemerkt, dass der Mondstrahl durch das Fenster ins Zimmer dringt und sich in der Diele spiegelt. Er ist so weiß, dass es wirkt, als sei Reif. Aber für Reif ist es noch zu früh. Das lyrische „Ich“ blickt zum Mond hinaus, der unerreichbar fern wie seine Heimat strahlt, und versinkt in „Nachtgedanken“.

Entsprechend dem fünfsilbigen Vierzeiler des Originals besteht Eichs Übersetzung aus den vier fünffüßigen jambischen Versen. Er musste dabei wie die anderen Übersetzer auf die Wiedergabe des Reims des Originals: „aaba“ verzichten, obwohl er in der Vorstufe noch „helle“ schrieb, um auf den 3. Zeilenschluß „Schwelle“ zu reimen.(2) Statt dessen führt er schließlich die dreimalige Alliteration „das“, davon zweimal zusätzlich „Haupt“ in der 3. und 4. Zeile ein, die der semantischen Symmetrie und der auf- und niedergehenden Kopfbewegung des Dichters entspricht.(3) Meines Erachtens ist diese Veränderung der aufgegebenen Ich-Wiederholung in der Vorstufe „ich heb“, “ich neig“ zum Partizip Perfekt „erhoben“ und „geneigt“ in der Endfassung gut gelungen.

Werfen wir nun zum Vergleich einen Blick auf andere Übersetzungen.

Klabund:  Wanderer erwacht in der Herberge

Ich erwache leicht geblendet, ungewohnt
Eines fremden Lagers. Ist es reif, der über Nacht den Boden weiß befiel?
Hebe das Haupt - blickt in den strahlenden Mond,
Neige das Haupt -denk an meine Wanderziel... (4)

Klabund verarbeitet auf Kosten der Zeilenstruktur einige Kommentare und Interpretationen, so dass die erste Zeile aus sechs, die zweite aus 10 Versfüßen besteht. Man weiß nicht genau, ob der lyrische Ich „geblendet“ oder ob es wirklich „ungewohnt“ im „fremden“ Lager ist. Dies alles sind Interpretationen des Dichters Klabund. Man sollte dies nicht Übersetzung, sondern „Nachdichtung“ nennen.

Im Gegensatz zu Klabund, der mehr oder weniger nachdichtete, versuchen die deutschen Sinologen, möglichst originalgetreu zu übersetzen. Otto Hauser z.B. bemüht sich, die Reimbindung des Originals: aaba nachzubilden, allerdings auf Kosten der Genauigkeit und des Stils und sogar mit einer schwachen Füllung im zweiten Vers „ganz“.(5)

Hans Heilmann:  In der Herberge

Vor meinem Bett wirft der Mond einen grellen Schein.
Ich wähne, es ist Frühreif, was am Boden glänzt;
Hebe das Haupt - und schau in den leuchtenden Mond,
Senke das Haupt - und denk an mein Heimatland. (6)

Heilmanns Übersetzung scheint dagegen inhaltlich das Original möglichst getreu wiederzugeben, aber man kann bei dieser prosaischen Übersetzung einige unnötige Ergänzungen wie „was am Boden glänzt“ nicht übersehen.

Hundhausen:  Erwachen in der Nacht

Vor meinem Bette spielt ein weißes Licht.
Ist es der Morgen schon ?  Ich weiß es nicht.
Und wie ich zweifelnd hebe mein Gesicht,
Seh’ ich den Mond, der durch die Wolken bricht.
Da muß ich mich zurück aufs Lager senken
Und heimatlos an meine Heimat denken.(7)

Hundhausen hat fünffüßig, aber in sechszeilig übersetzt, als Folge davon konnte er schmückende Zusätze nicht vermeiden. Bemerkenswert ist durch die starke Ich-Betonung, die auch im Endreim „Licht“ uns „nicht“ echot, während im Original niemals „ich“ auftaucht.(8) Im chinesichen und auch im japanischen Denken ist es wichtig, das eigene Selbst, d.h. im europäischen Sinne des „Egoismus“ mit der Natur, dem Makrokosmos zu vereinen.

In dieser Hinsicht ist die Übersetzung von Stein genial, weil entsprechend dem chinesischen Geist das Personalpronomen „ich“ aufmerksam weggelassen ist, was im deutschen Satzbau sehr schwierig ist. Nur schade ist, dass die Anfänge des 3. und 4. Verses „Erhobenes Haupt“ und „Gesenktes Haupt“ sehr abstrakt sind.

Von Stein:  Am Bette vorn vom lichten Mond ein Glanz
     Läßt zweifeln: ist dies auf der Erde Reif
     Erhobenes Haupt blickt auf zum lichten Mond.
     Gesenktes Haupt denkt an der Aeltern Land. (9)

Also nichts Halbes und nichts Ganzes. Man könnte paradoxerweise vielleicht sagen, dass ausgerechnet das wiederholt übersetzte Gedicht wirklich „unübersetzbar“ ist. Mir scheint, dass von allen Seiten geurteilt -metrisch, inhaltlich, geistich- Eichs Übersetzung unter den hier aufgeführten am besten ist. Sie steht zwischen den freien Nachdichtungen von Krabund und den sinologischen originalgetreuen Übersetzungen wie von Stein, Heilmann und Hauser, sie besitzt beide Elemente.

Kommen wir zu Eichs Übersetzung zurück. Eich hat dem Original nur einen Zusatz, die Farbe des Monds „Weiß“, hinzugefügt. Dies kommt seiner eigenen Forderung an eine Übersetzung entgegen. Eich notiert dazu: “Es ist nicht die Aufgabe des Übersetzers, das Original zu verbessern. Übersetzen heißt nicht kommentieren. Wo der Dichter dunkel ist, soll auch die Übersetzung einen entsprechenden Grad von Dunkelheit bewahren.“(GW, Ⅳ 366)  Eich versuchte also mit seiner Hinzufügung nur die Dunkelheit, hier Helligkeit des Originals zu bewahren.

Dieser Zusatz „weiß“ ist auch im Kontext logisch und notwendig, um den Satzbau „so...dass“ herzustellen und dadurch das zum Original passende Verb „vermeinen“ zum Ausdruck zu bringen. Das Verb „ii“(zweifeln) ist im Original betont und wichtig. Und man darf es nicht wegzulassen, wie es die meisten anderen Übersetzer gemacht haben. (Die Übersetzung von den Stein “zweifeln lassen“ ist dagegen zu abstrakt.) Darüber hinaus ist die Wiederholung des Diphtongs „ei“ ―„meinem“ „weiß“ „vermeinte“ „sei“ „Reif“―ist sehr rhythmisch.

Durch diese Übersetzungsarbeiten chinesicher Gedichte hat Eich sicherlich die Kurzgedichtform erlernt, was er später durch seine Beschäftigung mit der japanischen Literatur noch weiter entwickeln konnte.

 

3. Die Einflüsse chinesicher Lyrik auf Eichs Gedichten

Nachdem ich über die „Nachgedanken“ von Li Bo gesprochen habe, möchte ich jetzt darauf eingehen, welche Rolle diese Übersetzungen für Eichs eigener Dichtung spielten. Ohne Zweifel hat die chinesische harmonische Naturanschauung, die zwischen der Natur und dem Menschen keinen Gegensatz bildet, auf Eichs Gedichte einen gewissen Einfluß ausgeübt. Wichtig ist, dass diese Naturanschauung selbst in der Struktur des Chinesischen als Naturbild eingewebt ist. 

Eich lenkt unsere Aufmerksamkeit darauf, dass die chinesischen Schriftzeichen aus der „sinnreichen“, manchmal winzigen „Zusammenfügung von Zeichen“ bestehen, dabei nennt er die folgenden Beispiele:„ So bedeutet das Zeichen für Frau unter das Zeichen für Dach geschrieben, also die Frau unter dem Dach (安). (...) Die Zeichen Frau und Kind nebeneinander bedeuten: gut , Liebe (好).“(GW, Ⅳ 387)  Man kann natürlich noch andere  Beispiele chinesischer Schriftzeichen hinzufügen, die konkret aus natürlichen Gestalten gebildet wurde, wie „Baum(木)“ oder „Mond(月)“.  

Diese Dinge sind für uns aus Ostasien viel zu selbstverständlich, um daraus etwas herzuleiten. Aber der Europäer Eich interessierte sich für die Gefüge der chinesische Schriftzeichen und verband sie mit seiner eigenen Dichtung. In der Tat verwendet Eich das Wort „zusammenfügen“ wiederholt in den Gedichten des Band „Botschaften des Regens“ wie im folgenden Beispiel:

Jenseit der Wand schallt das Fensterblech,
rasselnde Buchstaben, die sich zusammenfügen
und der Regen redet
in der Sprache, von welcher ich glaube,
niemand kenne sie außer mir-“           („Botschaften des Regens“ ,GW,Ⅰ86)

Ach, wer fügte zu bitterem Scherz
so die Scherben zusammen ?
(-----)
Verlorene Seele, wen du auch verläßt,
wer fügt dich zusammen in Gnade ?               („Schuttablage“, GW,Ⅰ101)

Das Gedicht „Schuttablage“ sagt eindeutig, dass „zusammenfügen“ das Zeichen für die Vereinigung der zerbrochenen Bruchstücke der Scherben ist. Eich erkennt im „komplizierten Gefüge der chinesischen Sprache“ (Ⅳ,392) die Wiedergabe der Dichtung an sich, und zwar als Rekonstruktion der Einheit aus verlorenen Bruchteilen, die sicher seiner gebrochenen Weltanschauung nach dem zweiten Weltkrieg entsprach.

Die Intention zur Zusammenfügung der Sprache kommt auch in seiner Gedichtform zur Vorschein. Im Lauf des Schaffens wurden Eichs Gedichte immer kürzer und er schieb in seinen späteren Gedichtbänden „Zu den Akten“,  „Anlässe und Steingarten“ viele Drei-, Vier-, Fünfzeiler. Auch inhaltlich thematisieren sie oft die Natur:

Ode an die Natur
Wir haben unsern Verdacht
gegen Forelle., Winter
und Fallgeschwindigkeit.

Was dabei nicht zu übersehen ist, ist dass Eich in dieser verknappten Sprachform eine philosophische Bedeutung ausgeprägt hat, die er von der ostasiatischen Literatur gelernt hat. Darauf soll im folgenden in seiner Auseinadersetung mit der japanischen Literatur konkret eingegangen werden.  

 

4. Günter Eich und die japanische Literatur

  Man könnte sagen, dass seine Begegnung mit Japan den Weg seiner Sprache zum Verstummen und zur Unordnung entschieden hat. Eich hat schon früh europäische Kultur mit Skepsis betrachtet und im Gedicht „Fußnote zu Rom“ seinen Überdruß an Europa artikuliert: „Zuviel Welt ausgespart./Keine Möglichkeit/für Steingarten.“ (10)

Eich hat sich schon früh für Japan und japanische Kultur interessiert. Kenntnisse in der japanischen Literatur konnte er durch die von Wilhelm Gundert herausgegebenen Anthologie „Lyrik des Ostens“ erwerben, für die Eich selbst etwa 90 chinesische Gedichte ins Deutsche übersetzte.(11) In diesem Band sind auch etwa 400 japanische Gedichte vom 7. Jahrhundert bis zur Meiji-Zeit, d.h. bis ca. 1910 aufgenommen, zusammen mit einer schönen Erläuterung des Herausgebers Gundert.

Eichs erstes Japan-Gedicht wurde im Gedichtband „Botschaft des Regens“ (1955) veröffentlicht. Das Gedicht lautet:

Japanischer Holzschnitt

Ein rosa Pferd,
gezäumt und gesattelt,-
für wen ?

Wie nah der Reiter auch sei,
er bleibt verborgen.

Komm du für ihn,
tritt in das Bild ein
und ergreif die Zügel!       (GE,104)

Zu diesem Gedicht gibt es eine praktisch unbekannte 1950 entstandene Vorstufe, die doppelt so lang wie die Endfassung ist und noch in der traditionellen metrischen Struktur gestaltet war.

Zu einem japanischen Holzschnitt

Wer hier auch schläft, aus seinem Traume
ruft ihn ein gelber Vogel wach.
Ein Roß erhebt das Haupt im Zaune
und wartet unterm Binsendach.

Wer will es reiten?  Ach, ein gelber
ein Vogel hat mich jäh erschreckt.
Vielleicht bin ich der Schläfer selber,
den er mit seinem Pfeifen weckt.

Das rosa Pferd scharrt mit den Hufen,
verwischt sind Fraben, Holz und Rohr.
Wohin mich Roß und Vogel rufen,
bald taucht es auch den Schleien vor.        (GE,205)

Was für eine große Entwicklung zur Begrenzung und Einschränkung ist von der ersten zur letzten Fassung zu erkennen! Von zwölf verkürzt Eich auf acht Zeilen, von insgesammt 75 Wörtern auf 30 Wörter!  Der Umfang wird um die Hälfte reduziert. Auch inhaltlich hat sich das Gedicht so sehr verändert, dass man auf den ersten Blick kaum noch Gemeinsamheiten zu finden meint. Wenn man jedoch genauer hinschaut, kann man jeweils noch das „rosa Pferd“ finden. Dieses bezieht sich auf ein „ema“, ein kleines Holzdruckblatt, auf dem ein Pferd als Symbol des Glücks zumeist in rosa abgebildet ist. Man schreibt auf ein „ema“ seinen Wunsch und lässt es gegen ein kleines Geld-Opfer in einem Tempel, in der Hoffnung, dass die Realisierung des Wunsches auf diese Weise Unterstützung findet.

In der Bearbeitung wurden viele Bilder weggenommen, wie „ein gelber Vogel“, der in der ersten Fassung eine wichtige Rolle spielte. „Der Reiter“ wird zwar auch in der Endfassung genannt, aber „er bleibt verborgen“, d.h., er befindet sich nicht mehr sichtbar auf dem Holzschnitt, sondern irgendwo außerhalb, vielleicht dort, wo der Leser ist. In dieser Korrespondenz zwischen dem Anwesenden und dem Abwesenden liegt der Humor des Haiku.

  Die Versstruktur der letzen Fassung besteht aus den Drei-Zwei-Drei Zeilen der japanischen Kurz-Lyrik-Form „renga“, aber man könnte diese Reihung auch als sie eine Kupplung von Tanka (Drei- plus ein Zweizeiler) und Haiku (Dreizeiler) verstehen.  

Am 6. Oktober 1962 kam Eich mit dem Flugzeug in Tokyo an, und unternahm eine rund sechswöchige Vorlesungsreise von Tokyo über Nagoya, Kyoto, Hiroshima, Kochi nach Kumamoto. Dies wurde durch eine Einladung des Goethe-Instituts ermöglichst und der Hauptzweck des Reise war, auf der japanischen Germanisten-Tagung in Kochi einen Vortrag zu halten. Während des Aufenthalts in Japan hielt er insgesamt acht Vorlesungen. Nach den Vorlesungen ging Eich immer mit japanischen Gemanisten in Lokale und plauderte mit ihnen.(12)

Nachdem er seine Aufgabe in Kochi hinter sich gebracht hatte, fuhr er weiter nach Kyushu, wo er in Beppu zusammen mit japanischen Germanisten ein „Sandbad“ („suna-buro“) nahm, was ihm besonders gefallen haben soll. Er hat in allen Städten, in der er kam, Sehenswürdigkeiten wie Tempel, Schreine, Parks und Museen besichtigt. Aus diesen Erfahrungen entstanden später einige wichtige Gedichte wie „Geometrischer Ort“ und „Ryoanji“, in dem er seine Steingarten-Erlebnisse deutlich eingeprägt hat.

Das Gedicht, das ich hier betrachten möchten, trägt den rätselhaften Titel „Geometrischer Ort“. Es thematisiert den Atombombenabwurf auf Hiroshima. Konkret handelt es sich um das Phänomen eines unauslöschlichen Schatten, der bis heute an einer Mauer in Hiroshima zu sehen ist.  

Geometrischer Ort

Wir haben unsern Schatten verkauft,
er hängt an einer Mauer in Hiroschima,
ein Geschäft, von dem wir nichts wußten,
wir strichen ratlos die Zinsen ein.

(・・・・・・)

Du, mein Schatten
am Bankhaus in Hiroschima,
ab und zu
will ich dich besuchen mit allen Hunden
und dir zutrinken
auf das Wohl unseres Kontos.

Das Museum wird ingeebnet,
davor
werde ich zu dir schlüpfen,
hinter dein Geländer,
hinter dein Gelächter, unseren Hilferuf,
und wir passen wieder zusammen,
deine in meine Schuh,
genau
in die Sekunde.                             (GE,176f.)

Am 6. August 1945, um 8 Uhr 15, wurde die Atombombe über Hiroshima abgeworfen. Durch die unbeschreiblich enormen Atombombenstrahlen, die kurz nach der Explosion die ganze Stadt zum Höllenbrand gemacht hatte, sind fast alle Menschen, Tieren, Pflanzen in einem Augenblick ums Leben gekommen.

Ein Mann, der damals zufällig auf der Treppe vor dem Haupteingang eines Bankgebäudes stand, das ungefähr 300 m vom Explosionszentrum entfernt war, verglühte durch die unglaubliche Hitzestrahlung von 7000 Grad Celsius augenblicklich zu Asche, aus dem dreidimensionalen Menschen wurde so quasi augenblicklich ein zweidimensionaler Schatten.  Dies ist nach der Interpretaion von Eich der „geometrische Ort“. Mit der Metapher „Zinsen“ greift hier Eich ironisch die Tatsache auf, dass dieser Mann gerade vor einer Bank stand. Obwohl „wir von dem nichts wußten“, hat das lyrische Ich ein schlechtes Gewissen und kritisiert jene, die das Erbe des Kriegs vergessen haben .

  In der letzten Strophe identifiziert sich das lyrische Ich mit dem Schatten, indem es feststellt, dass sein Schuh mit dem des Schattens „genau in die Sekunde“ passt. Ich kenne keinen anderen Dichter, der in einer so adäquaten lyrische Form und so passenden Metaphern diesem Japan-Thema mit solcher Affirmation Ausdruck gegeben hat wie Eich.

 

5. Zusammenfassung

  Im Laufe des Schaffens wurden Eichs Gedichte immer kürzer, verknappter und schweigsamer. In der späten Periode hat er neben den „Maulwürfe“-Dichtungen viele Drei- oder Vierzeiler geschrieben. Bei Eich ist die Sympathie für die Haiku-Dichtung und den japanischen Zen-Buddhismus ganz deutlich. Man könnte diese Wege als „Weg zum Steingarten“ nennen. Eich hat die verfeinerte Künstlichkeit des japanischen Steingartens sehr bewundert, in dem mit Hilfe von Natur eine Gegennatur geschaffen wird, wobei er Natur die Lieferung von Material zugebilligt blieb, während alles andere dem subjektiven Schöpfertum gedankt werden musste.(13) Jedes Wort, jede Zeile ist einsichtig wie der einzelne Stein im Steingarten, nur das Ganze entzieht sich dem Verständnis des Lesers. Diese Erkenntnis führt zu Anarchismus und Unordnung in der Sprache, doch dahinter versteckt sich eine kleine Hoffnung auf eine neue Sprache, in der die von Tradition oder Macht befreite Materialität sichtbar wird. Eich versuchte auf diese Weise, den europäischen Materialismus und Dualismus zu überwinden.

 


Anmerkungen

1 Eich,Günter: Gesammelte Werke in vier Bänden (Abkürzung, GW). Bd.4. Hrsg. von Axel Vieregg. Frankfurt a.M.1991, S. 382f.
2 Vgl. Stock, J.W.: Günter Eich. Marbach am Necker 1988(Marbacher Magayin 45/1988), S. 11.
3 Vgl. Yamane, K.: Asiatische Einflusse auf Gunter Eich. Frankfurt a.M., 1983, S.26
4 Klabund: Sämtliche Werke. Bd.5. Nachdichtungen und Übersetzngen. Hg. von Jutta Dahn-Liu. Wuryburg 2001, S.46
5 Vgl. Eduard Horst von Tscharner: Chinesische Gedichte in deutscher Sprache. In: Hans Joachim Störig(Hg.): Das Problem des Übersetzens. Darmstadt 1973, S. 259f.
6 Kasack, H.: “Das Chinesische in der Kunst”. In: Mosaiktein. Frankfurt a. M. 1956, S.35.
7 Zitiert nach Tscharner, a.a.O., S. 203.
8 Vgl. Tscharner, a .a. O., S. 262f.
9 Zitiert nach Tscharner, a.a.O., S.259.
10 Günter Eich: Gesammelte Werke. Bd.1. Hsg. von Axel Vieregg.Frankfurt a.M. 1991, S.136. Angaben zu dieser Ausgabe im Folgenden als GE mit Seitenzahl.
11 Lyrik des Ostens. Hrsg.von Wilhelm Gundert, Annermarie Schimmel und Walter Schubring. München 1952.
12 Vgl. Keiko Yamane: Asiatische Einflüsse auf Günter Eich. Frankfurt a.M. 1983, S.134ff. Für wichtige Hinweise und Information dieser Studie danke ich herzlich Prof. Keiko Yamane. 
13 Vgl. Hans Mayer: Günter Eich. Fußnoten zu Rom. In: Karl Holz und Gerhard C. Krischker(Hg.): Gedichte aus unserer Zeit. Interpretationen. Bamberg 1990, S.96f.

1.12. Asien und deutsche sowie österreichische Kunst und Literatur um die Jahrhundertwende: Einflüsse und Bedeutung

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


TRANS   Inhalt | Table of Contents | Contenu  17 Nr.
INST

For quotation purposes:
Hirioaki Sekiguchi: Asien-Rezeption (China und Japan) von Günter Eich und ihre Bedeutung - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/1-12/1-12_sekiguchi 17.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-02-26