TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 1.13. Die Bedeutung des Mittelalters für Europa
Sektionsleiterin | Section Chair: Dina Salama (Universität Kairo)

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„Vom Umgang mit Varianten”-
Probleme der Deutung und Dokumentation
(am Beispiel der Lyrik Walthers von der Vogelweide)

Thomas Bein (Aachen) [BIO]

Email: t.bein@germlit.rwth-aachen.de

 

Die Tagung, auf der dieser Beitrag vorgetragen wurde, war dem Thema „Wissen, Kreativität und Transformationen von Gesellschaften“ gewidmet. Man mag sich fragen, was Walther von der Vogelweide damit zu tun hat bzw. Varianten, die im Laufe der Überlieferung seiner Texte zu beobachten sind.

Für mich besteht die Brücke in Folgendem:

Walther von der Vogelweide ist zweifellos einer der bedeutendsten Lyriker des Hochmittelalters. Sein Werk weist ein hohes Maß an literarischer Kreativität auf, und insbesondere in seiner politischen Lyrik spiegeln sich viele gesellschaftliche Prozesse des späten 12. und frühen 13. Jahrhunderts.(1)

Um seine Kreativität und seine politisch-soziale Brisanz aber adäquat erfassen zu können, ist es nötig, sich mit den Prozessen der Textüberlieferung auseinander zu setzen.(2)

Kein anderer mittelhochdeutscher Lyriker weist eine derart komplexe Überlieferung auf wie Walther.(3)

Sie reicht vom frühen 13. bis in das 15. Jahrhundert und erstreckt sich über große Teile Mitteleuropas (vom bairisch-österreichischen über den heutigen schweizerischen, elsässischen und mitteldeutschen bis hin zum niederdeutschen Raum (heute: Niederlande). Viele Lieder und Sangsprüche - in mehreren Handschriften überliefert - sind sehr häufig äußerst variantenreich. Während die frühere (Walther‑) Forschung in der Varianz eher ein Übel sah, ist man heutzutage bemüht, in ihr ein aussagekräftiges Kulturphänomen zu sehen, das indes fast überall noch der Analyse harrt.(4)

Die germanistisch-mediävistische Philologie ist seit einigen Jahren dabei, sich deutlich zu verändern; viele Anstöße kamen von der ‚New Philology’, aber längst nicht alle – und längst nicht erst durch sie.(5)

Bislang noch wenig diskutiert worden sind indes die Konsequenzen, die aus der veränderten Editionstheorie und vor allem -praxis für das Geschäft der Interpretation und Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung erwachsen.

Wie stellt sich aktuell das Verhältnis zwischen der Literaturgeschichtsschreibung auf der einen und der Forschung zur Text- und Überlieferungsgeschichte auf der anderen Seite dar? Wie wollen wir künftig über Texte (‚Werke‘) sprechen, wenn sich uns diese nur in mehr oder weniger gleichberechtigten Überlieferungsfassungen zu erkennen geben? Können wir noch über die‚Nibelungenklage‘ reden? Über das‚Nibelungenlied‘? Über den‚Parzival‘?

Und über dieses oder jenes Programmlied Walthers von der Vogelweide, mit dem dieser Ausnahmelyriker den Diskurs und die Geschichte des Minnesangs revolutioniert habe?

Ich bin nun wieder bei ‚meinem’ Dichter angelangt. Er zählt zweifellos zu dem, was man ‚kulturelles Erbe’ nennt. Kaum eine Epoche seit dem 13. Jahrhundert, in der er nicht präsent war; spätestens im 19. Jahrhundert wurde er zum nationalen Denkmal. Die Nazis vereinnahmten und missbrauchten ihn später als Urheber „eine[r] Welt deutsche­ster Umschau“.(6) Walther hat das überstanden und ist im Universitätsbetrieb fest verankert, selbst im Deutschunterricht an der Schule findet man ihn hin und wieder noch. In der kulturellen Öffentlichkeit hat sich Marcel Reich-Ranicki für ihn stark und ihn kanonisch gemacht; und selbst in Entenhausen trat Walther schon auf – im Kontext einer Zeitreise von Dagobert und seinem Neffen Donald.  

Walther hat es weit gebracht, darüber kann man froh sein, und seinen Weg durch die Kulturgeschichte nachzuzeichnen, ist hochinteressant.

Ich verstehe mich aber auch als eine Art Textkonservator. Neben all den interessanten und zuweilen kuriosen Rezeptionsdokumenten steht die historische Textualität für mich im Vordergrund, eine Textualität, die die einzige Quelle darstellt, die uns etwas über literarische Kultur vergangener Zeiten und Gesellschaften vermittelt.

Literarische Kultur – darunter verstehe ich zum einen die Medialiät der Überlieferung, d.h. die Handschriften, die uns die Texte Walthers (oder anderer Dichter)  überliefern und die Dokumente eines teilweise langen Unterwegsseins dieser Texte sind – ein Unterwegssein zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, das zu untersuchen aufschlussreich ist, um über Mechanismen des mittelalterlichen Kulturbetriebes Informationen zu erhalten.

‚Literarischen Kultur’ meint freilich auch die literarischen Inhalte. Im Falle Walthers sind dies im Wesentlichen drei große Themenbereiche: der Minnesang, die (tages-) politische Sangspruchdichtung und eine Reihe von religiösen und moraldidaktischen Gedichten.

Doch wie ‚sicher’ ist eigentlich das, was wir zu analysieren und zu interpretieren trachten?

Obwohl die germanistische Editionswissenschaft akademischen Zuschnitts quasi mit Walther beginnt (1827 bringt kein Geringerer als Karl Lachmann die erste Gesamtausgabe Walthers auf den Mark) und obwohl es derzeit wenigstens drei konkurrierende Textausgaben gibt (Cormeau/Bein – Schweikle – Paul/Ranawake)(7), ist die Überlieferungsgeschichte der Waltherschen Texte noch keineswegs erschöpfend erforscht – was enorme Auswirkungen auf das Gesicht der einzelnen Quellen hat, die man literatur- und kulturhistorisch analysieren möchte.

Das will ich nun an einem Beispiel verdeutlichen und – leider in einem Parforce-Ritt – ein Stück weit in die Tiefen und Untiefen philologischer Textarbeit hinabsteigen. Ich komme später aber wieder an die Oberfläche und werde einige Konsequenzen aus der ‚Arbeit am Text’ aufzeigen:

Bei meinem Beispiel handelt es sich um eines der meist interpretierten Lieder Walthers, das wahrlich zahlreiche Germanistengenerationen beschäftigt hat. Man hat das Lied weit reichend gedeutet, es als ‚Programmlied’ stilisiert, ihm für die Geschichte des Minnesangs überhaupt eine zentrale Stellung zugewiesen. Das Lied hat Minnesanggeschichte gemacht! Es ist das Lied: ‚Aller werdekeit ein füegerinne’(8).

Aber dieser gerade ausgesprochene Satz von mir ist irgendwie falsch: Ein Lied? Sind es nicht zwei Lieder? Oder drei? Oder vier? Oder gar sechs? Und fängt das Lied eigentlich nicht ganz anders an – nämlich mit der Strophe ‚So die bluomen uz dem grase dringent’?

Sobald man sich nämlich mit der Überlieferung dieses Liedes befasst, mit den Schriftmedien, die uns Kenntnis geben von unterschiedlichen Textzuständen, wird es zunehmend schwierig, von einem Programmlied zu sprechen, ja vielleicht gar auch schwierig, überhaupt von einem fertigen Programm.

Warum? Schauen wir uns an, was die Handschriften wie überliefern:

Als Textzeugen stehen sechs Handschriften zur Verfügung:

Jeweils fünf Strophen überliefern A, B, C und E (= die kleine Heidelberger Liederhandschrift A (um 1270), die Weingartner Liederhandschrift B (1. Viertel 14. Jh.), die Große Heidelberger Liederhandschrift C (1. Drittel 14. Jh.) und die Würzburger Liederhandschrift E (Mitte 14. Jh.). Vier Strophen tradiert die Weimarer Liederhandschrift F (15. Jh.); knapp zwei Strophen (fragmentarisch) das Kremsmünster-Fragment N  (13. Jh.).

Aufgrund des fragmentarischen Charakters von N und der äußerst schlechten Textqualität von F blende ich diese Zeugen im Folgenden aus und konzentriere mich auf die Überlieferung von A, B, C und E.

Vergleichen wir nun die Handschriften untereinander; damit dies leichter nachvollziehbar wird, will ich zunächst den Inhalt der Fassungen vorstellen.

So die bluomen:
Preis des Monats Mai mit seinem schönen Naturschauspiel. Frage des sprechenden Ichs, was diese Schönheit überbieten könnte.

Swa ein edeliu:
Antwort auf die in der ersten Strophe gestellte Frage: eine schöne und ethisch vollkommene, vornehme Dame setzt den Mai schachmatt.

Nu wol dan (Set sam mir):
Inszenierung eines Wettstreits zwischen Mai und frowe. Das sprechende Ich wird sich immer für die Dame entscheiden.

Aller werdekeit:
Preis der Allegorie der Frau Maze. Bitte des Ich, maßvoll – zwischen den Extremen der hohen und nideren Minne, die es beide kennen gelernt hat – werben zu lernen.

Nidere minne:
‚Definition’ der niederen und der hohen Minne. Die hohe Minne möchte das Ich entführen; das Ich wundert sich, warum die Maze zögert einzuschreiten. Die Verse 8-10: „Wenn die herzeliebe kommt, bin ich (trotzdem, dennoch) in die Irre geführt. Mein(e) Auge(n)/ ich habe(n) eine Frau erblickt, wie lieblich/liebreizend sie auch sprechen mag, mir kann doch Schaden durch sie widerfahren“.

Ein erster Vergleich bringt ans Licht, dass alle vier Handschriften fünf Strophen tradieren – allerdings nicht in gleicher Reihenfolge; die ‚nu wol dan’-Strophe steht in CE an anderer Stelle als in AB.

Alle Handschriften aber – und das ist besonders wichtig – überliefern alle fünf Strophen als ein Lied, als einen Ton. Ganz eindeutig gilt das für die Hss. C und E, denn C zeichnet alle fünf Strophen mit roten Lombarden aus – erst beim folgenden Lied wechselt die Farbe zu Blau. Im Falle der Hs. E ist es so, dass unser Lied von zwei Autornamen ‚gerahmt’ ist, Zeichen dafür, dass eine Liedeinheit vorliegt (das Prinzip scheint so zu sein, dass jeweils zu Beginn eines Liedes der Autorname gesetzt worden ist). Bei den Hss. A und B gibt es eine solche positive Liedauszeichnung nicht, es spricht aber alles dafür, dass auch sie die in Frage stehenden Strophen als Liedeinheit (will heißen: Toneinheit) verstanden haben.

Die Walther-Philologie (insbesondere die zahlreichen Editoren) hat das mit ganz wenigen Ausnahmen nicht akzeptiert und den überlieferten Strophenverband auseinander gerissen und daraus zwei Lieder gemacht, ein dreistrophiges Lied (So die bluomen, Swa ein edeliu und Nu wol dan) und ein zweistrophiges (Aller werdekeit und Nidere minne.)

Interpretatorisch unproblematisch sind die Strophen So die bluomen, swa ein edeliu und Nu wol dan: eine dreistrophige unspektakuläre Einheit, recht traditionell.

Die beiden übrigen Strophen sind deutlich anspruchsvoller, unkonventioneller und haben ein anderes Thema: Minnedidaxe, Minnereflexion.

Zum einen haben die thematischen Differenzen zwischen diesen Strophen und den drei anderen das Gros der Walther-Forscher dazu bewogen, von zwei Liedern auszugehen. Zum anderen stellte man metrische Differenzen fest, die man allerdings konjektural verstärkte – also manipulierte – und zwar im jeweils 8. Vers der Strophen. Die ersten drei Strophen sollten einen 5-hebigen 8. Vers haben, die anderen beiden einen 6-hebigen.

Die Isolierung eines zweistrophigen Liedes war damit vollzogen – und dieses machte nun Literaturgeschichte! Hier vermutete man eine Grundsatzdebatte: Walthers Auseinandersetzung mit dem ‚Hohen Minnesang’ und eine womöglich intratextuelle Auseinandersetzung mit sich selbst und seinen Versuchen der ‚nideren minne’. Dieser autoreflexive Diskurs sollte schließlich münden in die Konzeption einer ganz neuen Art von Minne: die herzeliebe, die schließlich auch eine wichtige Rolle spielte bei der Konturierung einer ganzen Subgattung Waltherschen Minnesangs: bei den sog. ‚Mädchenliedern’, von denen er sich nun wieder distanziert und einer sog. ‚neuen hohen Minne’ zugewandt hätte.

Meines Erachtens war die künstliche Isolierung eines zweistrophigen Programmliedes fatal, denn ein genaues Studium der Überlieferung zeigt, dass der Fall viel komplizierter ist als allgemein angenommen und dass die Literaturgeschichtsschreibung, die meist wieder Quelle für größere kulturhistorische Würfe darstellt, viel intensiver diese Situation zu reflektieren hätte.

Wie schon erwähnt, bringt ein Vergleich der Handschriften zunächst ans Licht, dass die fünf Strophen in den vier Hss. unterschiedlich gereiht sind, wobei sich zwei Stränge differenzieren lassen: die Hss. AB auf der einen und die Hss. CE auf der anderen Seite. Das scheint noch überschaubar zu sein. Leider aber wird der Fall viel schwieriger, wenn man die große Menge an Textvarianten hinzuzieht.

Hier zeigt sich ein wahrlich buntes Bild, denn nun lassen sich keine sauber trennbaren Traditionsstränge mehr unterscheiden. Wenn man alle 20 Strophen eingehend variantentypologisch untersucht hat – und das habe ich getan – , wird einem etwas schwindlig und man ist unzufrieden, weil man keine stemmatische Linie in die Varianz bringen kann.(9) Es gibt ganz unterschiedliche Paarungen bzw. Dreiungen, die es nicht erlauben, anhand eines Stemmas Quellen für die heute noch vorhandenen Textfassungen zu postulieren.

Diese – im Vergleich zu anderen Fällen – außergewöhnlich merkwürdige Textvarianz muss von daher zeitlich schon vor den angenommenen Quellenkomplexen *AB und *CE entstanden sein, d.h. vor einer schriftlichen Fixierung der Strophenfolgen, wie sie sich in AB auf der einen und CE auf der anderen Seite finden.

Erstes Ergebnis unserer Arbeit am – überlieferten – Text ist: Er hat, schon lange vor den schriftlichen Fixierungen, ein sehr bewegtes Leben gehabt, es präsentiert sich uns eine gewaltige Portion Textdynamik(10) – die in den allermeisten Editionen aber regelrecht zerstört worden ist und darum auch nicht mehr in Interpretationen und Literaturgeschichten Auswirkungen haben konnte.

Diese Dynamik kann man nun noch weiter und feiner analysieren, hier die – allerdings nur wichtigsten – Ergebnisse. Die eingehende Varianzanalyse hat ein interessantes Bild ergeben:

Zunächst die Metrikvarianz: Es zeigt sich, dass die Metrik in den ersten beiden Strophen in allen Handschriften stabil ist. Aber bereits die dritte Strophe zeigt auffällige Instabilitäten, indes nicht in allen Handschriften – und die Strophen 4 und 5 ähneln diesem Bild: Instabile Metrik, aber nicht konsequent. Das zeigt, dass das Form-Argument der Forschung nicht greift: Nicht nur die beiden ‚Programm-Strophen’ haben metrische Varianten, sondern auch die Strophe Nu wol dan – und alle Varianten changieren von Handschrift zu Handschrift.

Nun die Textvarianz: Auch hier ein bemerkenswerter Befund: Die Textvarianz in den ersten beiden Strophen ist relativ gering und berührt semantische Bereiche nicht. Im Handout sind Beispiele notiert: Präpositionen, Präteritopräsentien, lexikalische Synonyme.

Deutlich anders das Bild in der dritten Strophe (Nu wol dan): Schon quantitativ viel mehr Textvarianten (sogar am Strophenbeginn!), die zudem semantisch relevant sind; Beispiele auf dem Handout: kraft vs. wunne; teil vs. spil usw.

Diese Tendenz bei der Textvarianz setzt sich deutlich in den beiden übrigen Strophen (Aller werdekeit/ nidere minne) fort: hier finden sich, besonders in der ‚nidere minne’-Strophe umfangreiche lexikalische Varianten mit semantischer und rhetorischer Relevanz: besonders wichtig u.a. die Varianten minne vs. liebe oder würde vs. liebe.

Was bedeutet all das?

Ich glaube, dass wir es hier mit einem ‚work in progress’ zu tun haben. Die ersten beiden Strophen scheinen  mir den Liedkern, eine Art Basis, zu bilden. Es sind ‚fertig gewordene’ Texte, die von daher eine recht große Stabilität aufweisen. Diese Strophen mögen auch für sich ein erstes Textleben / eine erste Aufführung gehabt haben, denn sie bilden durchaus eine in sich geschlossene Sinneinheit.

Ein- oder zweistrophige Lieder sind gattungsgeschichtlich betrachtet eine frühe Erscheinung; um 1200 herum überwiegt deutlich eine Strophenanzahl zwischen 3 und 5 je Lied. Es ist also möglich, dass Walther – durchaus in einem größeren zeitlichen Abstand – eine dritte Strophe (Nu wol dan/Set sam mir) in Angriff nahm, weil Lieder nun eben einfach länger zu sein hatten. Sie bringt inhaltlich wenig Neues, sondern variiert das Thema der zweiten Strophe aus einer Ich-Perspektive. Diese Erweiterung ist deutlich instabiler als die ersten beiden Strophen, ein Anzeichen dafür, dass die ‚Arbeit am Text’ noch nicht beendet war, eine Arbeit, die sich mit zwei weiteren Erweiterungsstrophen schließlich fortsetzt. Auch hier ein hartes Ringen um Worte und Formulierungen und möglicherweise ein Ausprobieren, wie man die neuen Strophen am besten arrangiert: lässt man sie am Ende, wie in den Hss. A und B, dann könnte vielleicht intendiert gewesen sein, dem Publikum zunächst etwas recht Konventionelles und Traditionelles zu präsentieren: Jahreszeitentopos gepaart mit Liebesthematik – das kennt man seit Ovid. Dann aber das überraschende Ende: die Diskussion um das rechte Umgehen mit der Wahl, die das Ich treffen musste: mit der Frau und der Liebe.

Oder sollte man die ‚modernen’ Theorie-Strophen besser in das Traditionsgerüst integrieren, wie es die Hss. C und E zeigen? Verstehen kann man auch das! Vielleicht gar im Sinne einer Revocatio: Mâze-Allegorie hin – Mâze-Allegorie her: am Ende siegt das Bild der Frau, sie sticht alles, auch die Schönheiten der Natur, aus.

Insbesondere in dieser Reihung verlieren die sog. ‚Programmstrophen’ an Tiefe. Der große Ernst, der vom Gros der Walther-Forscher festgeschrieben wurde, wird fraglich.

Wir sehen Arbeit am Text! Wer hat hier gearbeitet und ist wohl nicht fertig geworden?

Ich wage einmal zu sagen: Wir sehen hier unseren Dichter Walther an der Arbeit – und liefere mich schutzlos aus. Denn beweisen kann ich das natürlich nicht – und von eines mittelalterlichen Dichters Worten zu reden, wirkt heutzutage etwas anachronistisch.

Andererseits aber sind die Varianten in der Mehrheit solche, die ich nicht mit guten Gründen als Überlieferungsvarianten abtun kann. Es gibt viele andere Fälle, bei denen wir deutlich sehen können, dass Varianz z.B. sprachgeschichtlich begründet ist oder – im Falle der politischen Lyrik – dass sie zu tun hat mit Entaktualisierungsphänomenen.

Fast nichts davon in unserem Fall. Die allermeisten Varianten können bereits einer ganz frühen Phase der Textgenese angehören.

Und wer nun aufschreit und sagt, mit dem Autor hätte all das nichts zu tun, der ist in der Pflicht zu erklären, wem wir dann so weitgehende Arbeiten am Text zuschreiben wollen: sicher doch nicht einem Kopisten in einem Skriptorium!

Wir sind aber nun an einem Punkt angelangt, von dem aus unendliche Diskussionen geführt werden.

Mir ist zunächst nur eines wichtig: Der Literarhistoriker, ja auch der Kulturhistoriker – ich erinnere an Norbert Elias und seine Interpretationen des Minnesangs!(11) – , der sich mit der Geschichte und Ideologie des Minnesangs befasst und diese darstellen möchte, muss die Auffälligkeiten, die Merkwürdigkeiten seiner Quellen im Auge behalten. Für unseren Fall gesprochen heißt das: er darf nicht von einem zweistrophigen Programmlied der Minnekultur – noch dazu in einer Textgestalt – ausgehen – das hat es nie gegeben. Was es gegeben hat, das sind thematische Ideen und Entwürfe, einmal so, ein andermal so formuliert, sowie Versuche rhetorischer Arrangements – mehr haben wir nicht vorliegen!

***

Ich komme nun aus den Tiefen der Philologie wieder an die Oberfläche.

Mit meinem Beispiel wollte ich zeigen, dass man die Bodenhaftung nie verlieren darf. Literaturgeschichte, Kulturgeschichte, Mediengeschichte zu betreiben ist gut und wichtig – das darf allerdings nur mit beständiger Rückversicherung bei unseren Quellen geschehen.

Meine editorische Arbeit zeigt mir fast täglich, wie viel hier noch zu tun ist und was man entdecken kann, wenn man sich intensiv mit den Quellen befasst.

Editorische Konsequenz für mich ist, dass es in der nächsten Waltherausgabe kein zweistrophiges Programmlied mehr geben wird, sondern kommentierte synoptisch angeordnete Fassungseditionen. Sie allein dürfen fürderhin als Quelle hermeneutischer Anstrengungen gelten.

Das betrifft nicht nur den Minnesang, sondern auch die politische Dichtung Walthers.

Ich richte den Blick aber noch weiter: Nicht nur Walther ist betroffen – sondern die gesamte Lyrik vor und nach ihm – und die Epik – und die Fachliteratur, kurz, alles, was wir unter literarischer Kultur verstehen.

Texte sind Vermittler – Medien: Texte sind Fenster in die Vergangenheit, deren Glas im Laufe der Zeit Eintrübungen und Kratzer bekommen hat. Wir dürfen das Glas nicht einschlagen, in der Hoffnung, dann besser sehen zu können – das wäre Selbstbetrug. Wir müssen uns mit den Kratzern und Trübungen auseinander setzen – und je intensiver wir das tun, umso mehr lernen wir, wie die Fenster gebaut wurden und was mit dem Glas geschehen ist und dann wird auch unser Blick für das, was sich hinter den Fenstern befindet, immer klarer werden.

 


Anmerkungen:

1 Vgl. Thomas Bein: Walther von der Vogelweide. Stuttgart 1997. Für weitere Titel vgl. Manfred Günter Scholz: Walther-Bibliographie 1968-2004. Frankfurt/M.  [usw.] 2005.
2 Vgl. allgemein jetzt Thomas Bein: Textkritik. Eine Einführung in Grundlagen germanistisch-mediävistischer Editionswissenschaft. Lehrbuch mit Übungsteil.  Frankfurt/M. [usw.] 2008.
3 Vgl. mit weiteren Hinweisen Thomas Bein: Walther edieren - zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion. In: Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion. Berliner Fachtagung 1.-3. April 2004. Hg. von Martin J. Schubert. Tübingen 2005, 133-142.
4 Vgl. Walther von der Vogelweide. Die gesamte Überlieferung der Texte und Melodien. Abbildungen, Materialien, Melodietranskriptionen. Hg. von Horst Brunner, Ulrich Müller, Franz Viktor Spechtler. Mit Beiträgen von Helmut Lomnitzer und Hans-Dieter Mück. Geleitwort von Hugo Kuhn. Göppingen 1977.
5 Vgl. Speculum. A Journal of Medieval Studies, 65, 1990. Vgl. dazu u.a. Rüdiger Schnell: Was ist neu an der ‚New Philology‘? Zum Diskussionsstand in der germanistischen Mediävistik. In: Alte und neue Philologie. Hrsg. von Martin-Dietrich Gleßgen und Franz Lebsanft. Tübingen 1997, 61-95.
6 Vgl. Thomas Bein: Walther von der Vogelweide: ein „unheimlich naher Zeitgenosse“. Werkprofil und nationalsozialistische Mißdeutung. In: Leuvense Bijdragen 82, 1993, 363-381.
7 Zu den Textausgaben vgl. die Bibliographie von Scholz, wie Fußnote 1.
8 Textgrundlage: Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neu bearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner hg. von Christoph Cormeau. Berlin 1996.
9 Aus Gründen des begrenzten Druckraumes kann ich dies hier leider nicht im Einzelnen dokumentieren.
10 Vgl. dazu den interdisziplinär angelegten Sammelband: Varianten – Variants – Variantes. Hrsg. von Christa Jansohn und Bodo Plachta. Tübingen 2005.
11 Vgl. Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft. Neuwied, Berlin 1969.

1.13. Die Bedeutung des Mittelalters für Europa

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For quotation purposes:
Thomas Bein: „Vom Umgang mit Varianten”- Probleme der Deutung und Dokumentation (am Beispiel der Lyrik Walthers von der Vogelweide) - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/1-13/1-13_bein17.htm

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