TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 1.13. Die Bedeutung des Mittelalters für Europa
Sektionsleiterin | Section Chair: Dina Salama (Universität Kairo)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Minnesang und Rockmusik

Das Mittelalter als Code zwischen Identitätsstiftung und Abgrenzung

Günter Zimmermann (Universität Wien) [BIO]

Email: guenter.zimmermann@univie.ac.at

 

Das europäische Mittelalter erweist sich gegenwärtig als scheinbar unermüdlich sprudelnde Quelle für alle Arten (populär)kultureller Phänomene: In der Belletristik überschwemmt sie geradezu inflationär jede Buchhandlung und nicht nur einige, sondern eine ganze Reihe von Autoren haben ihr Werk ganz auf die Vergangenheit abgestellt. Als Beispiel die Buchtitel der Schriftstellerin Iny Lorentz: Die Kastratin, Die Goldhändlerin, Die Wanderhure, Die Tatarin, Die Kastellanin, Die Löwin, Das Vermächtnis der Wanderhure, Die Pilgerin, Die Fürstin, Die Rebellinnen von Mallorca, Die Feuerbraut – alle erschienen in den nur letzten fünf Jahren zwischen 2003 und 2007. Die Übergänge zum Bereich Fantasy, die sich augenscheinlich sofort anbieten, verlaufen fließend, wie es das umfangreiche Werk des deutschsprachigen Autors dieses Genres (bzw. Buchmarktsegments) schlechthin unter Beweis stellt, Wolfgang Hohlbein. Bei ihm formieren sich (neben einer fast unglaublich erscheinenden Anzahl von für sich allein stehenden Texten) ganze Romanzyklen, etwa über Die Legende von Camelot oder den Magier.(1) Beim spielerischen Versuch wirft www.amazon.at am 30. November 2007 unter dem Link "Historische Romane" insgesamt 5821 Ergebnisse aus, unter "Fantasy" 6007, trotz der enthaltenen Mehrfacheinträge (verschiedene Ausgaben und Anbieter für dieselben Werke) kein uninteressanter Indikator. Zum Vergleich: Auch die abgerufene Kategorie "Liebesromane" rangiert mit 7202 in der gleichen Quantitätsklasse. Liefern zwar das europäische Mittelalter und die nordische Mythologie speziell seit der Romantik beständig Themen und Stoffe für alle Bereiche der Kunst – Schlagwort: Richard Wagner -, so muss doch die Frage nach dem 'neueren' Ursprung dieser literarischen Tradition, oder besser, einem (re)aktivierenden, multiplikatorischen Moment in der jüngeren Geschichte gestellt werden. Man wird hier die Bedeutung von J.R.R. Tolkiens The Lord of the Rings (1954/55) kaum überschätzen können, ebenso die gleichsam akademische Legitimation der Chiffre Mittelalter durch Umberto Ecos Il nomine de la rosa (1980). Neben weiteren weltweiten Bestsellern wie Marion Zimmer Bradleys The mists of Avalon von 1982 oder Noah Gordons The Physician (1986, dt. Übers. Der Medicus, 1987) stehen nun schon Filme wie John Boormans Excalibur (1981) oder die Verfilmungen des Eco-Romans mit Sean Connery unter der Regie von Jean-Jacques Annaud (1986): Das Mittelalter und davon inspirierte Fantasy sind im ausgehenden 20. Jh. längst keine rein literarische Domäne. Neben dem riesigen Comics-Bereich fällt besonders der seit den 80er-Jahren boomende Spiele-Sektor auf, wo neben traditionellen Brettspielen, Tabletop-Strategiespielen, PC- und Spielkonsolen-Software usf. heute Massive Multiplayer Online Games (MMOGs) stehen, ferners sei auf die zentrale Stellung von Mittelalter/Fantasy im Live Action Role Playing (LARP) hingewiesen. Beispielsweise die fiktive/virtuelle (Gegen-)Welt von Warhammer kann über jeden der genannten Eingänge betreten werden.(2) Den jüngsten Kulminationspunkt verkörpert wohl die dreiteilige Tolkien-Verfilmung. Peter Jacksons The Lord of the Rings: The Fellowship of the Ring (2001) wird 2002 für dreizehn Oscars nominiert (und gewinnt vier), der dritte Teil The Return of the King (2003) gewinnt elf Oscars und überschreitet am 24. 2. 2004 das Einspielergebnis von einer Milliarde Dollar,(3) am 2. 10. 2004 wird in der ZDF-Show Unsere Besten – Das große Lesen bei einer Beteiligung von 250 000 Lesern Der Herr der Ringe als das beliebteste Buch Deutschlands präsentiert.(4) Noch zwei Zahlen: Eine Google-Suche nach "Herr der Ringe" zeitigt 2.170.000 Treffer, nach "Lord of the Rings" gar 9.960.000. Ein x-beliebig herausgegriffener Onlineshop bietet unter der betreffenden Merchandising-Rubrik folgende Produkte an: Schmuck, Waffen, Bücher, Tabletop, Poster und Kalender, Film und Soundtrack, Figuren, Spiele, Kleidung, Kostüme, Flaggen und Banner, Tassen und Kelche, Pfeifen und Accessoires – etwa die Fußmatte "Eye of Sauron" um 14,99 €.(5)

Zum Thema. Ist zwar das Auftreten des Mittelalters in der Rockmusik grundsätzlich vor den Hintergrund des skizzierten kulturellen Szenarios zu stellen, so geht es mir hier um die interne Codierung und semiotische Lesbarkeit, was an wenigen Beispielen innerhalb des Systems Rock – und mit (spielerischen) Querverweisen zum mittelalterlichen Lied - angerissen werden soll. Rock verstehe ich hier als umfassendes Kulturphänomen, als die Summe all seiner ästhetischen Erscheinungsformen, Träger, Rezipienten, Haltungen, Ideologien, Produktionsbedingungen etc. Rock steht unter dieser Prämisse prinzipiell im analytischen Brennpunkt von sich via Untersuchungsobjekt überlappenden Wissenschaften, Disziplinen und Theorien: Musik- und Literaturwissenschaft(en), Soziologie und Psychologie, Kulturtheorie, Kommunikations-, Medien- und Wirtschaftswissenschaften, Semiotik usf. Die simple Frage, was eigentlich geschieht, wenn In Extremo mit ihrem Sänger Das letzte Einhorn auf der Bühne Walthers von der Vogelweide Palästinalied aufführen, ist daher auch nicht mit einem Satz zu beantworten.

Eingangs eröffnet sich das Paradoxon, dass der Verfasser dieser Zeilen nie bei einem Konzert von In Extremo war, aber ein solches beliebig oft rezipieren kann, auf DVD.(6) Die Unterschiede dieser vermittelten Rezeption(7) zur erlebten Erfahrung der Konzertsituation sind – gerade im Rock – denkbar groß: Das singuläre Ereignis eröffnet (potentiell) performanzimmanente Varianz (Improvisation, Spontanreaktionen) gegenüber der Fixierung auf dem Tonträger, weiters bestimmen 'Tagesverfassung' oder technische Widrigkeiten den Ablauf, dazu tritt für den Konzertbesucher neben der individuell empfundenen ästhetischen Erfahrung das unmittelbare körperliche Fühlen/Spüren vor der Bühne: Gedränge, Hitze/Kälte, Lautstärke, eigenes Tanzen – vielleicht bis hin zum Stagediving. Die In Extremo-DVD ließ jedenfalls – angespielt bei einer Tagung - germanistische Fachkollegen die Hände entsetzt/erschrocken/erstaunt zusammenschlagen, bei einem Vortrag in populärwissenschaftlichem Kontext gab es jüngst begeisterte Zustimmung. Rock steht noch immer – in Außen- wie Innensicht! - für eine prinzipielle Oppositionshaltung, für Gegenkultur, Subkultur, für Rebellion. Dieses systeminterne und gattungskonstitutive Element ist einerseits in seiner Geschichtlichkeit zu verstehen, zum anderen in seiner Dynamik innerhalb des Universums Rock selbst. Der Verweigerungsgestus subkultureller Bewegungen(8) hatte stets eine starke Verbindung zur Musik, von der Beat-Generation über die Hippies bis zu Punk, Metal oder Gothic; auch vom Produzenten deklariert unpolitisch gewollter Rock bleibt über sein oppositionelles Konnotat stets politisierbar. Die Anti-Haltung dient aber nicht nur der Abgrenzung/Ausgrenzung bzw. der Provokation 'hoch'kultureller Bereiche oder des Establishments (um bewusst einen überkommenen Begriff zu benützen), sondern wälzt in einem permanenten Prozess das eigene System selbst um und verwirft den entstandenen Kanon.(9) Diese Radikalisierung jeder neuen Strömung (sei es auch ein musikindustrieller Hype) konzentriert sich primär in ihrer ästhetischen Erscheinungsform, z.B. über die Schiene: lauter, schneller, härter. All das, was sich im Zentrum als Mainstream etablieren konnte, wird von einem jeweils neuen Underground unterlaufen.

Die semiotische Lesbarkeit jedes (Sub-)Systems von Rock kann theoriebezogen von den verschiedensten Positionen aus versucht werden, wobei sich pragmatisch nach wie vor die Jauß'sche Kategorie des Erwartungshorizonts anbietet,(10) weiters jene Kompetenz, die als 'kultureller Code' von Bourdieu kritisiert wird, jedoch (hinsichtlich eines 'hoch'kulturellen überheblichen Blicks auf In Extremo so wunderschön passend) folgendermaßen von ihm zusammengefasst wird: "Wem der entsprechende Code fehlt, der fühlt sich angesichts dieses scheinbaren Chaos an Tönen und Rhythmen […] nur mehr überwältigt"(11) oder, so ergänze ich, abgestoßen. Inwieweit Bourdieus soziologisch determinierte (und empirisch untermauerte) Terminologie  – z.B. Geschmack, kulturelles Kapital(12) - für das kopfstehende Anti-Programm Rock gelten könnte, wo eben dreckig, unverstanden und 'schlecht' als positiv erscheinen, sei dahingestellt: Ein Umlegen auf die ausdifferenzierten Großkategorien Metal, Hip Hop, Indie und Electronic ist allemal vorstellbar. Ich verstehe den Begriff Code (zur Erfassung kultureller Phänomene) als historisch/ideologisch bedingtes, von verschiedenen Rezipienten(gruppen) verschieden verfügbares offenes System im Sinne von Ecos Code einer 'langue': er ist "ein netzartiger Komplex von Subcodes und Kombinationsregeln […]."(13) Jedenfalls: Ein fiktiver Rezipient ohne jegliches Vor-Wissen, ohne jegliche Vor-Erfahrung zu Metal – vor der Realität des Internets kaum vorstellbar (auch wenn dieses selbst falsche Konstrukte von Realität generiert) – wird gegenüber In Extremo versagen bzw. (vorerst) inadäquate Zuschreibungen konstruieren. Nun, In Extremo ist aber weit mehr als eine Band, die zufällig ein Lied Walthers in ihrem Repertoire hat. Der Name allein schon ist als Programm zu lesen: Abgesehen von der möglichen Übersetzung 'bis ans Äußerste' ist der enthaltene Kern 'extrem' auch ohne Lateinkenntnisse sofort im Deutschen, Englischen und einer Reihe weiterer Sprachen verstehbar, ebenso aber auch die Markierung 'Latein'.(14) Im Sinne gelenkter Textcodes wird auf Härte verwiesen, auf Metal. Die bildsprachliche Gestaltung/visuelle Codierung der CD mit dem Palästinalied ist allerdings auf der Frontseite mit seinen barocken Posaunenengeln weniger eindeutig, immerhin zeigt die Rückseite die Gruppe teils mit nacktem Oberkörper in Lederkitteln und geschultertem Dudelsack.(15) Der Tonträger beginnt akkustisch mit mittelalterlichen Instrumenten, erst bei 0:39 setzt im okzitanischen Ai vis lo lop Schlagzeug und die 'schwere' Gitarre metal-typisch ein, womit sich auch die Stimmgebung des Letzten Einhorns (vgl. z.B. 1:39) zunehmend gutturalisiert. Die folgenden Songs (Latein, Schwedisch, Mittelhochdeutsch, Neuhochdeutsch) bleiben diesem Konzept treu, mischen also – dem Material entsprechend – Folk-Passagen ein. Mit anderen Worten: Das Codesystem Metal wird aufgerufen, aber nicht – gestatten sie mir das Wortspiel - in extremo umgesetzt. Gerade das macht den Reiz dieser Musik aber auch aus.

Uns steht bezüglich der tatsächlichen Inszenierung von Minnesang letztlich sehr wenig Material zur Verfügung, gleichwohl wird weitgehend übereinstimmend der grundsätzlich intendierte gesangliche Vortrag als primäre Aufführunsgssituation angenommen,(16) und obwohl Bedenken von Cramer geäußert wurden,(17) hat erst kürzlich Weiß die Performanzkonzeption – gerade im Vergleich mit Rock – 'erst genommen' und damit radikalisiert.(18) Wie Rock ist auch Minnesang ein ausdifferenziertes System mit seinen bekannten Subgenres wie Hoher Sang oder Tagelied: Dürfen oder müssen wir hier nicht auch bereits vor dem Text einen anderen, zumindest einen abgewandelten kulturellen Code für eine 'richtige' Interpretierbarkeit ansetzen? Die Hohe Minne der Lyrik mit ihrer Entsagungskonzeption (Ich muoz von schulden sîn unvrô; Friedrich von Hausen; 42,1), die explizite Kritik daran bei Walther (Mîn frouwe ist ein ungenædic wîp;52,23: Walther in oppositioneller Rock 'n' roll-Pose gegenüber dem Mainstream-Reinmar?), oft inklusive Gesellschaftskritik (Hie vor, dô man sô rehte minneclîche warp; 48,12) erzählt/diskutiert/kritisiert von einer singenden Ich-Position aus (deren literaturwissenschaftliche Einschätzung zu den Forschungsfragen der letzten Jahre zählt). Die 'objektive Gattung' des Tageliedes benötigt jedoch die extradiegetische Instanz eines Erzählers. Muss/kann (musste/konnte) das nicht bereits Konsequenzen in der unmittelbaren Performanz mit sich bringen? Eine Ich-Position, auch wenn nur als 'Rolle' vorgeschoben,(19) könnte unterschiedliche Zeichensysteme in – ich spekuliere – Stimmgebung, Haltung, Mimik verwenden. Die Erzählposition fordert eine unterschiedliche Kategorisierung aber auch bei jeder anderer Rezeptionsform, egal ob beim eigenen Lesen, Hören des Vorgelesenen oder (Mit-)Tanzens in einer Spielsituation vom Rezipienten ein, also bereits unabhängig von der real erfahrenen Vermittlung.

Walther hat mit Friuntlîche lac (88,9) nur ein einziges Tagelied verfasst, dessen Qualität von der Forschung als eher fragwürdig angesehen wird.(20) Das scheinbar pointenlose Lied, das die Konstanten der Gattung exakt abruft (Trennung der Liebenden nach einer gemeinsam verbrachten Nacht), nicht verkürzt, nicht erweitert, weist aber m.E. am Ende eine Passage auf, die hervorzuheben ist (Str. 7,5ff.):

si [die Frau] sprach: 'swer ie gepflac
ze singene tageliet,
der will mir wider morgen beswæren mînen muot […] .

Der Sänger hat sich ins Spiel gebracht. Sang/Song ist immer auch Werbung für sich selbst, egal wie er tatsächlich vermittelt und rezipiert wird. Auch in der Gegenwart des beginnenden 21. Jh.s mit seinem einbrechenden CD-Markt, dem Umsatteln der Großkonzerne auf bezahlte Downloads, einem boomenden Konzertbetrieb, den (wieder einmal) neu versuchten alternativen Organisation im Indie-Bereich, einer frei verfügbaren Sample-Technik usf. wird der Erfolg via Tantiemen pro Medieneinsatz und Verkauf bezahlt. Das Betonen des oder die Reflexion über das eigene Singen ist heute in diesem Kontext – direkt angesprochen oder immanent – immer ein Thema im Rock. Auch bei Walther ist das Benennen des eigenen Singens/Dichtens/Vortragens/Produzierens ein zentraler Faktor, der permanent die überlegene Position gefüeges mannes dœnen (103,29, v. 13) unterstreicht. Als Lesart von Walthers Tagelied eröffnet sich so auch die Deutung: Seht her, auch diesen Code beherrsche ich: Ein Code, der – wie immer man im Detail Walthers chronologisches Verhältnis zu den Tageliedern Wolframs einschätzt – via Wolfram, Dietmar von Aist, Morungen auch prinzipiell für einen 'idealen' Uraufführungs-Rezipienten bei Walther verfügbar erscheint und angesichts der offensichtlichen Beliebtheit und quantitativen Verbreitung des Tagelieds für spätere Hörer/Leser immer geläufiger fungierte.

Welchen Code aber bitte soll(te) man gegenüber Versen anwenden, wo ein homodiegetisches weibliches Ich rückblickend von einem Liebeserlebnis auf der Heide erzählt?

er kuste mich wol tûsent stunt,
tandaradei,
seht wie rot mir ist der  munt.

Walthers in der Altgermanistik vielleicht am meisten diskutierter Text, das sog. Lindenlied (39,11), lässt in nur vier Strophen eine Frau von einem glücklichen (?) Liebesakt erzählen, dessen sie sich bei Aufdeckung schämen würde. Der einzige Zeuge, eine Nachtigall, mac wol getriuwe sin. Als Code stand mehreren Generationen von Germanisten die (zumindest teilweise sozialkritische) französische Gattung der Pastourelle (bzw. Modelle der Carmina Burana) zur Verfügung, was zur Einordnung des Liedes unter 'niedere Minne' führen konnte bzw. im Licht einer neuen Minnekonzeption Walthers gesehen wurde (traditionelles Schlagwort: ebene Minne), als Teil eines Diskurses(21) - obwohl der soziale Stand der Frau nicht angesprochen wird,(22) während im französischen Vorbild (ebenfalls 'objektive Gattung' mit epischer Narrationssituation) als Grundmuster die Verführung eines Landmädchens durch einen (hochgestellten) Mann/Ritter im Mittelpunkt steht. Gegenüber ihrer weiten Verbreitung in der romanischen Literatur begegnen 'echte' Pastourellen in der mhd. Lyrik kaum(23) - ihr Code stand dem mittelalterlichen deutschsprachigen Publikum nicht unmittelbar zur Verfügung, wohl nur den Kennern, in erster Linie den Singer/Songwritern selbst und ihren Begleitbands, den Spielleuten.(24) Eine Decodierung erweist sich aber in jedem Fall als problematisch: Das Zeichengebilde Under der linden wird aus der Sicht der Hohen Minne als 'falsch' erkannt, im Kontext des Tagelieds zumindest 'schief' – und vor dem Schlüsselcode 'Pastourelle' nur 'halb', da der verführende Ritter als agierende Figur getilgt wurde. Ich darf meinen obigen Satz zu In Extremo in einer Variante wiederholen: Das Codesystem Pastourelle wird aufgerufen, aber nicht – gestatten sie mir das Wortspiel – in extenso umgesetzt. Gerade das macht den Reiz dieses Texts aber auch aus.

Ein Vers hat die Forschung besonders beschäftigt.  Bei der Begrüßung der Frau durch den Liebhaber (Str. 2, v. 4ff.)

dâ wart ich enpfangen,
     hêre frouwe! –
daz ich bin sælic iemer mê

scheint doch ein Standeshinweis vorzuliegen. Unter mehrfachen Interpretationsmöglichkeiten findet sich (wie hier auch texteditorisch umgesetzt) die Möglichkeit einer Deutung als Interjektion 'Heilige Jungfrau!'. Ob man es so sieht oder als erinnerte Anrede, als ironische Distanzierung usf., könnte der Schlüssel in der Performanz liegen, wie es Schweikle dezidiert kommentiert: "Eine Entscheidung war wohl dem Vortragenden überlassen und hing evtl. von Betonung und Vortragsgestik ab."(25) Ich versuche Walthers Wortwahl insoferne wörtlich zu nehmen, als es – wiederum unabhängig von einer 'eigentlichen' Interpretation – ein nicht bestreitbares Zitieren eines Leitbegriffs des Hohen Sanges darstellt. Walther, so meine These, hat mit dem Lindenlied ein raffiniertes Lied über das eigene Singen geschaffen, es ist Minnesang über Minnesang.(26) Anstelle einer Reflexion über den Sang im Spannungsfeld von fordernder Ich-Position, frouwe und kritisierter (Hof-)Gesellschaft tritt das Bild des in allen Minneangelegenheiten kompetenten Sängers, der singend erzählt, doch nichts preisgibt. Walther, der (egal ob als Herkunftsbezeichnung oder Künstlernamen verstanden) von der Vogelweide genannt wird, der (später?) zu den bedeutendsten der nahtegalen gezählt wird (Tristan v. 4751ff.) lenkt uns ganz offen und eindeutig zu dem vogellîn in der Linde, zu seiner Position! Dass dieses Faktum (soweit ich sehe am deutlichsten formuliert von Heinen) "shoul be considered a subtext of the song, and not a theme, since it is not made explicit",(27) erscheint mir fast unterbewertet, denn die Stellung des Vögleins entspricht exakt der des Sängers: Seine Aufgabe ist es von den Liebesdingen zu erzählen, ohne – gattungskonstitutiv - den Namen einer Frau zu nennen. Diese Kunst gleichzeitig kunstvollst zu gestalten erfordert das schönste Singen der beobachtenden Nachtigall. Die mehrfach gebrochenen Sinnstrukturen von realem Sänger, imaginiertem weiblichen Sprechen als Männerphantasie,(28) das Aussprechen im Sprachakt seiner eigenen Negation, die eröffnete Pastourellensituation, das regelrechte Herbei-Zitieren der frouwe etc. erlaubt nicht einander ausschließende, sondern parallele Lesarten – für den Verstehenden. Wer freilich den Gesang der Nachtigall, die Sprache der Vögel nicht versteht, oder, wer den entsprechenden Code nicht besitzt, für den bleibt Under der linden bestenfalls ein nettes Liedchen, Gezwitscher eben, zwar hübsch, doch ohne weitere Bedeutung; tandaradei.

So wie Walther im Lindenlied mit der Codierung 'Pastourelle' eine Abgrenzung zum Hohen Sang und damit eine neue Positionierung im Gesamtsystem Minnesang erreicht, so verhält es sich bei In Extremo im System Metal mit dem Code 'Mittelalter', der sie (und ihre familia der Fans) gegenüber dem Umfeld abgrenzt. Wie nun ihre (Markt-)Nische auch benannt wird – Mittelalter-Rock, Folk Metal -, es geht um Zuschreibung, Kategorisierung bzw. erst um das Konstruieren von Kategorien.(29) Sie scheint bezüglich dieses Genres im Fluß zu sein. Man wird annehmen können, dass sich das Publikum von In Extremo, Subway to Sally, Corvus Corax, Schandmaul usf. weitgehend deckt und als Einheit via Code soziologisch-gruppendynamisch ein Identitätsbewusstsein entwickelt (hat). Tatsächlich liegt der Treffpunkt (im Live/Event-Bereich) bei der Szene der Mittelaltermärkte und -feste(30) oder spezieller Musik-Festivals,(31) erwähnt werden muss die Sampler-Reihe Miroque und Karfunkel. Zeitschrift für erlebte Geschichte. Im Plattenladen wäre eine eigene Mittelalter-Rock-Abteilung wohl zu klein, weshalb In Extremo denn auch unter 'Heavy' (oder ähnlich) landen. Eine telefonische Anfrage in einigen Tonträger-Abteilungen einer Elektro-Handelskette hat ergeben, dass das Personal etwa 50% der vorgegebenen CD-Kategorisierungen korrigiert und dort einreiht, "wo es halt am ehesten gesucht wird."(32) Corvus Corax, Die Streuner und andere folk-orientierte Bands finden sich – unter Gothic. Die schwarze Subkultur,(33) ein Konglomerat (jugend-)kultureller Strömungen, Musikstile, Haltungen usf. kann wohl über die Assoziation der dunklen Seiten des Mittelalters das Codesystem aufnehmen. In der Zeitschrift Orkus erscheinen denn auch regelmäßig Beiträge von Estampie über In Extremo bis zum Chor der Mediævales Bæbes. Gibt es allerdings keine Gothic-Rubrik bei den CDs, dann landen deren zarte Stimmen unter Metal: Die Codierung 'Mittelalter' machts möglich.

 


Anmerkungen:

1 Vgl. http://www.hohlbein.net. Werkübersicht z.b. bei Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Werke_von_Wolfgang_Hohlbein. Alle zitierten Internetseiten Stand Novemer 2007.
2 Vgl. http://www.warhammeronline.com/german/home/ bzw. zu LARP http://www.warhammer-infos.de/allgemein/warhammer-larp/.
3 Vgl. http://www.warnerbros.de/movies/herrderringe/.
4 Vgl. http://www.zdf-jahrbuch.de/2004/programmarbeit/arens.htm.
5 Vgl. http://www.elbenwald.de/HerrderRinge.html.
6 DVD In Extremo, live 2002, (Island Mercury) 2002.
7 Medienmodelle bezüglich Rock und Minnesang jetzt bei Tanja Weiß, Minnesang und Rock – Die Kunstgattung Aufgeführtes Lied in ihrer Ästhetik und Poetik. Moderne Zugange zu einer alten Liedgattung. Aufführung und ihre Bedingungen für die Liedtextinterpretation, Neustadt am Rübenberge 2007, S. 72ff.
8 Für die frühe Entwicklung bis inklusive der 70er vgl. z.B. Walter Hollstein, Die Gegengesellschaft. Alternative Lebensformen, 4. erw. Aufl. Bonn 1981.
9 Vgl. grundsätzlich die Einleitung(en) bei Diedrich Diederichsen, 2000 Schallplatten 1979-1999, Höfen 2000.
10 Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation (Edition Suhrkamp 418), Frankfurt am Main 1970.
11 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (stw 658), Frankfurt am Main 1987, S. 19.
12 ebda. z.B. S. 284f.
13 Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, 8. unveränd. Aufl. München 1994, S. 130.
14 Lateinische (anmutende, verfremdete) Bandnamen sind keine Seltenheit: Insignium, Apocalyptica, Empyrium, Nocte Obducta etc.
15 In Extremo, Weckt die Toten (Metal Blade Records) 1999.
16 Material bei Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, 2 Bde. München 1986, S. 751ff. Vgl. auch bes. Peter Strohschneider, Aufführungssituation: Zur Kritik eines Zentralbegriffs kommunikationsanalytischer Minnesangforschung, in: Johannes Janota (Hg.), Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis (Vorträge des Augburger Germanistentages 1991 Bd. 3), Tübingen 1993, S. 56-71.
17 Thomas Cramer, Die Lieder der Trobadors, Trouvères und Minnesänger: literarhistorische Probleme, in: Hermann Danuser (Hg.), Musikalische Lyrik. 2 Teile (Handbuch der musikalischen Gattungen Bd. 8,1/8,2), Laaber 2004, hier Teil 1, S. 130-136. Er folgert aus dem ästhetischen Anspruch der Lyrik, dass sie "schriftgebunden und schriftvermittelt" sein müsse, nur "als Medium der ästhetischen Verständigung weniger Kenner untereinander ist sie auch Vortragskunst" (S. 136).
18 Weiß (s. Anm. 7), S. 92ff.
19 Zur Rollenhaftigkeit im Vergleich mit Rock s. Günter Zimmermann, Rollenspiele? Zum 'Ich' bei Walther (Atzeton 103,13; 103,29;104,7), in: Helmut Birkhan (Hg.), Der 800jährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer. Vorträge gehalten am Walther-Symposion der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24. bis 27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich), 2. unveränd. Aufl. Wien 2005, S. 561-580.
20 Vgl. den zusammenfassenden Kommentar bei Schweikle: Walther von der Vogelweide. Werke. Gesamtausgabe, Bd. 2, Liedlyrik, Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hgg., übers. und komm. v. Günther Schweikle, Stuttgart 1998, S. 654ff.
21 S. bes. Volker Mertens, Reinmars 'Gegensang' zu Walthers 'Lindenlied', in: ZfdA 112 (1983), S. 161-177.
22 Vgl. z.B. Ulrich Müller, Die mittelhochdeutsche Lyrik, in: Heinz Bergner (u.a.), Lyrik des Mittelalters. Probleme und Interpretationen, Bd. 2, Stuttgart 1983, S. 7-227, bes. S. 113ff.
23 30 Pastourellen ca. bei den Trobadors, etwa 150 in der Trouvèrelyrik; s. Günther Schweikle, Minnesang (SM 244), Stuttgart 1989, S. 140.
24 Zu den Bezeichnungen, unterschiedlichen Kompetenzen und zur (schwankenden) Akzeptanz mittelalterlicher Musiker vgl. Achim Diehr, Literatur und Musik im Mittelalter. Eine Einführung, Berlin 2004, S. 24ff.
25 Schweikle (s. Anm. 20), S. 650.
26 Vgl. Thomas Bein, Walther von der Vogelweide, Stuttgart 1997, bes. S. 152ff.
27 Hubert Heinen, Walther's 'Under der linden,' Its function, Its Subtexts, and Its Maltreated Maiden, in: Albrecht Classen (Hg.), Medieval German Literature. Proceedings from the 23rd International Congress on Medieval Studies, Kalamazoo, Michigan, May 5-8. 1988 (GAG 507), S. 51-73, hier S. 61.
28 Vgl. z.B. Hermann Reichert, Walther: Schaf im Wolfspelz oder Wolf im Schafspelz, in: Birkhan (s. Anm. 19), S. 449-506, bes. S. 490ff.
29 Zu den experimentell orientierten kognitionswissenschaftlichen Modellen vgl. Martin Heydemann, Lernen von Kategorien (Studien zur Kognitionswissenschaft), Wiesbaden 1998 bzw. (zusammenfassend) http://bieson.ub.uni-bielefeld.de/volltexte/2003/388/html/heydemann.pdf. Zum Zusammenhang von Geschichts- und Geisteswissenschaften und der (Gehirn-)Funktion von neuralen Netzen s. den Frankfurter Historiker Johannes Fried, Die Aktualität des Mittelalters. Gegen die Überheblichkeit unserer Wissensgesellschaft, Stuttgart 2002, bes. 68ff.
30 Stellvertretend für Österreich sei auf Eggenburg verwiesen: http://www.mittelalter.co.at/.
31 Stellvertretend etwa http://www.rockimdorf.com/.
32 Ich bedanke mich beim Personal der Wiener Saturn-Filialen Columbus Center, Millenium City und Shopping City Süd.
33 http://de.wikipedia.org/wiki/Gothic_%28Kultur%29.

1.13. Die Bedeutung des Mittelalters für Europa

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


TRANS   Inhalt | Table of Contents | Contenu  17 Nr.
INST

For quotation purposes:
Günter Zimmermann: Minnesang und Rockmusik. Das Mittelalter als Code zwischen Identitätsstiftung und Abgrenzung - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/1-13/1-13_zimmermann17.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-03-01