TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 1.2.
Der Kaukasus und Europa / Caucasus and Europe
SektionsleiterInnen | Section Chairs: Mzia Galdavadze (Tbilissi), Tornike Potskhishvili (Wien), Vilayet Hajiyev (Universität Baku) und Azat Yeghiazaryan (Jerewan)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Das georgische Thema in der deutschsprachigen Literatur.
A. Endlers "Zwei Versuche über Georgein zu erzählen" und andere Beispiele

Mzia Galdavadze (Staatliche Ilia-Universität Tbilissi, Georgien) [BIO]

Email: mziag@yahoo.com

 

Der westeuropäische Leser lernte Georgien zum ersten Mal durch griechische Sagen und die Werke von griechischen, römischen wie arabischen Autoren kennen. Die Ursache dafür, warum man sich schon in früheren Zeiten für dieses wunderschöne und sehr reiche Land interessierte, hängt u.a. unmittelbar mit der griechischen Sage über die Argonauten, welche das goldene Vlies von Kolchis (Georgien) in ihre Heimat holten, zusammen.

Als treffende Beispiele können wir Euripides Drama „Medea“ und das Werk „Die Argonauten“ von Apollonios von Rhodos nennen, welche die damalige Lage Georgiens sowie die hohe Kultur  des georgischen Volkes rühmten. Auch im altenglischen Heldenlied „Beowulf“, das als älteste der vollständig erhaltenen altgermanischen Heldenepen aufgefasst wird, kann man einiges über die geographische Lage Georgiens finden.

Nach Euripides Drama über Medea ist dieses Thema oft in der Weltliteratur behandelt worden. Zum erstenmal in der deutschsprachigen Literatur erscheint Medeas Gestalt im „Liet von Troye“, der ältesten bekannten deutschen Bearbeitung von der Troja-Sage, geschrieben von Herbort von Fritzlar.

Von den westeuropäischen Dichtern,  die auf dieses Thema eingingen,  sind vor allem folgende zu nennen: Friedrich Maximilian Klinger („Medea auf dem Kaukasus“, „Medea in Korinth“), der berühmte österreichische Dichter des 19. Jahrhunderts Franz Grillparzer („Dramen-Trilogie „Das goldene Vlies“ 1. Der Gastfreund, 2. Die Argonauten, 3. Medea), der Prosaiker und Dramatiker des 20. Jahrhunderts Hans Henny Jahnn (Medea), Elisabeth Langgässer („Märkische Argonautenfahrt“), Marie Luise Kaschnitz („Jasons letzte Nacht“), Mathias Braun („Medea“) und mehrere andere.

Die Ermordung der Königin Georgiens Ketewan im Jahre 1624 war der Beweggrund für die Tragödie „Catharina von Georgien oder Bewährte Beständigkeit“, geschrieben von Andreas Gryphius.

Der zu den größten Vertretern der deutschen Poesie gehörende Friedrich Hölderlin (1770-1843) bringt in dem Gedicht „Die Wanderung“ seine Bewunderung für Georgien – diesem wunderschönen Land – zum Ausdruck.

Der bekannte deutsche Dichter des 19. Jahrhunderts Friedrich Bodenstedt (1819-1892), der über ein Jahr in Georgien gelebt hat, gab seine Eindrücke in den Büchern „Tausend und ein Tag im Orient“ und „Aus meinem Leben“ wieder.

Die Autorin   des weltbekannt gewordenen Romans „Die Waffen nieder“ Bertha von Suttner und ihr Mann Baron Artur Gundaccar von Suttner, lebten neun Jahre lang (1876-1885) in Georgien, am Hof der Königin Catharina von Mengrelien. In zahlreichen belletristischen und kritischen Schriften machten die Suttners ihre Leser mit vielen georgischen Dichtern und wichtigen Persönlichkeiten sowie mit dem Alltag des damaligen Georgiens bekannt.

Für die Popularität Georgiens in Deutschland  und Österreich  sorgte der große Freund des georgischen Volkes, Arthur Leist. Fast die Hälfte seines Lebens verbrachte er in Georgien, wo er auch begraben liegt. Arthur Leist ist vor allem als Übersetzter bekannt (er hat „Der Mann im Tigerfell“ von Schota Rustaveli sowie Werke vieler georgischen Dichter ins Deutsche übersetzt). 1885 erschien noch ein Buch von A. Leist „Georgien: Natur, Sitten und Bewohner“. Nicht jeder weiß, dass er Autor vieler schöner Erzählungen ist. Die Erzählungen „Waro“, und „Nino Warapidze“ widmete Leist Georgien bzw.  Imeretien.

Der österreichische Dichter und Übersetzer  Hugo Huppert ist in Georgien sehr beliebt. 1950 kam er nach Georgien und begann das weltbekannte Epos aus dem 12. Jahrhundert,  Schota Rustavelis „Der Recke im Tigerfell“ ins Deutsche zu übersetzen. Hugo Huppert lebte vier Jahre lang in Georgien und lernte das Land und seine Leute näher kennen. In seinem Gedichtband „Georgischer Wanderstab“  gibt er seine eigenen Erlebnisse wieder, stellt seine Beziehung zu Georgien dar.

Der weltberühmte deutsche Dramatiker, Poet, Prosaiker und Regisseur Bertholt Brecht ist in Georgien besonders populär, vor allem durch sein Theaterstück „Der kaukasische Kreidekreis“, in dem die Namen der handelnden Personen und die  geographischen Bezeichnungen georgisch sind.

Den georgischen Sitten und Bräuchen, der wunderschönen Natur des Landes, widmeten viele deutsche Dichter ihre Gedichte, wie z.B. J. Becher („Trinklied“), Kuba („Tbilisi“),  Sara Kirsch („Georgien. Fotographien“, „Klosterruine  Dshwari“),  Rainer Kirsch („Gagra abends“,  „Schwimmen bei Pizunda“) u.a.

Viele Autoren haben ihre Erinnerungen und Reiseerlebnisse an Georgien  beschrieben und veröffentlicht, Egon Erwin Kirsch, Alfred Kurella, Elke Erb, Adolf Endler. Vor einigen Jahren  sind Bücher wie „Aufzeichnungen aus Georgien“ von  Clemens Eich, „Kulturland Georgien“ von Heinz Fähnrich, „Georgien – Land des Goldenen Vlies“ von  Peter Franke, „Gestohlene Geschichten aus Georgien“  von Wendell Steavenson,  „Georgien“ von  Fried Nielsen und  andere erschienen. Bei manchen von den o.g.  Autoren ist das Georgien-Bild nicht immer das, was wir Georgier uns vielleicht  gewünscht hätten, aber auch dieses Bild stützt sich auf eine bestimmte Realität, die leider nicht immer richtig wahrgenommen bzw. verstanden wird.  Die Tatsache aber, dass sich so viele Autoren mit dem Thema Georgien beschäftigen, ist noch ein Beweis dafür, dass das Interesse,  dieses Land  und sein Volk  besser zu verstehen, sich verstärkt.  Am allerwichtigsten dabei ist aber, dass ein neues Georgien-Bild entsteht. Das Land wird auch heute natürlich im Zusammenhang mit der jahrhundertelangen, reichen  Geschichte gesehen, ohne die das Land einfach nicht zu verstehen wäre, wird aber gleichzeitig von den phantastischen und mythologischen Umhüllungen befreit und von den kritischen, realistischen Positionen betrachtet.

Die Schaffung dieses neuen, aus einer kritischen Perspektive gesehenen Georgien-Bildes hat nicht nach dem Zerfall der Sowjetunion, nach der Abschaffung des s.g. "Eisernen Vorhangs" begonnen, wie man sich vielleicht denken könnte, sondern viel früher. In diesem Zusammenhang wären einige Namen zu nennen,  das Ziel meines Beitrags ist aber, einen von denen vorzustellen, dessen Name eng mit Georgien verbunden ist,  Adolf Endler, Autor des Buches „Zwei Versuche über Georgien zu erzählen“, sowie „Georgische Poesie aus acht Jahrhunderten“ und  „Versuch über die georgische Poesie“.

Der künstlerische Weg  Adolf Endlers, des im Jahre 1930 in Düsseldorf geborenen Autors, der im Jahre 1955 wegen seiner Aktivität in der Friedensbewegung wegen „Staatsgefährdung“ angeklagt  wurde und  aus der BRD in die DDR  übersiedelte, wo er  aber wegen seiner Proteste gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns und die Verurteilung Stefan Heyms 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde,   ist durch viele krisenhafte Momente gekennzeichnet. Die tiefen Spuren und Wunden, hinterlassen von der Vergangenheit, seiner Kindheit am Rhein, kann der Dichter einfach nicht verleugnen. Die Erfahrungen des Krieges und der sozialen sowie politischen Ungerechtigkeit, das ständige  und zielstrebige Suchen nach der ganzen Wahrheit, bilden den Hintergrund seiner Dichtung. Diese schmerzhafte Zeit, die bei Endler viele Wunden hinterließ, kann der Dichter nicht vergessen und möchte es eigentlich auch nicht, da sie seine Position als Dichter teilweise bestimmt. Diese Erinnerungen tauchen immer wieder auf, überall, in fast jedem Gedicht und sogar in seinem Reisebuch „Zwei Versuche über Georgien zu erzählen“, das ich in meinem Beitrag kurz zu analysieren versuche.

Für die Besucher Georgiens bleibt dieses Land und sein Volk für immer als ein ungelöstes Rätsel. Darin war auch Endler keine Ausnahme.  Die Frage „Wie von Georgien erzählen?“ fesselte ihn lange Zeit.

An dieser Stelle möchte ich Werner Standfuß zitieren, der in seinem Artikel „Ein Fischer zeigt den Fisch her“ Folgendes schrieb:

„Autoren, die länger in einem Lande gelebt oder es kürzer bereist haben, wollen immer ein gültiges Bild von Land und Leuten geben. Ihre Individualität, Ihr inneres und äußeres Vermögen bestimmen, wie sie es tun. Der eine leistet den ganzen  Prozess des Eindringens und der Aneignung vor seinem Buch und schreibt das Ergebnis in Bildern und Gedanken auf, die Einfachheit nach dem Komplizierten. Der andere schildert nach allen Erlebten und Erforschten und Gedichteten diesen ganzen Prozess der Anschauung und Erkenntnis, macht sich zum Gegenstand das Staunen und Fragen: Was ist das für ein Land, was sind das für Menschen? Worin besteht ihr Rätsel, ihr Geheimnis, ihr Wesen?... Antworten werden gegeben, stecken in Füllen von Stoff, geformten Kapiteln. Der Leser soll sie sich entdecken, die einfachen Antworten, die alten und neuen Wahrheiten. So Endlers Methode.“(1)

„Zwei Versuche über Georgien zu erzählen“ – dieses kleine „Büchlein“, wie es der Autor selbst nennt, liegt als ein Resultat jahrelanger Arbeit, die zu mehreren Entwürfen führte, verbunden mit den sich immer wieder vor dem Autor auftuenden Fragen, vor, und  ich möchte mir  erlauben, mich mit  „Zwei Versuchen“ des Autors auseinander zu setzen.

Das ist kein gewöhnliches Reisebuch, in dem über ein Land und sein Volk einfach erzählt wird. Es wirkt mehr als ein Dialog zwischen dem Autor und dem Leser. Endler bringt seine Erinnerungen zum Ausdruck, er versucht darzustellen, wie schwer es ihm fällt, ein Land wie Georgien  zu verstehen, die eigenartige Mentalität der Georgier, die seltsamen Bräuche und Sitten dieses Volkes zu begreifen.  Der Autor stellt Fragen und viele von ihnen lässt er unbeantwortet. Der Leser fühlt sich in der Rolle eines Gesprächpartners, und es ergibt sich ein schneller Kontakt zwischen ihm und dem Autor des Buches.  Das ist, meiner Meinung nach, eine gelungene Methode, die einen wesentlichen  Anteil am Erfolg des Buches hat.

Endler merkt, dass es ihm doch nicht gelingt, sich über Georgien und sein Volk  völlig objektiv zu äußern. Das ist aus zwei Gründen zu erklären. Erstens, hatte Endler ein eigenes Georgien-Bild, das durch seine Kindheitserinnerungen geprägt war. Und zweitens, aus der Tatsache, dass sich die Georgier vor Fremden gern im besten Lichte zu zeigen pflegen, wovon  offenbar auch Endler nicht unbeeindruckt  blieb.

„Blättere ich heute in der Vielzahl meiner Notizen, die einen in dieses Büchlein ordnend, die anderen in den Kamin, dann will es mir scheinen, als hätte ich mir zu vieles auf eigene Faust und unberaten zusammengereimt, als wäre zu vielen mit dem Faden des bedenkenlosen Lyrikers genäht, gestrickt und gestickt. „Traum von Georgien“ wollte ich diese Seiten zuerst überschreiben...“(2) – erzählt Endler.

Wie von Georgien erzählen? – stellt er sich die Frage und fängt an zu erzählen, erhebt aber dabei keinen Anspruch darauf, dass alles, was er erzählt, wirklich so ist. Damit zwingt er den Leser mitzudenken, sich in die Gedanken und Träume des Autors hineinzuversetzen, zusammen mit ihm eine neue Welt zu entdecken.

Anhand des Textes kann der Leser kaum Aufschlüsse über Endlers Werdegang zu diesem tiefen Verständnis des Landes finden, aber seine weitreichenden Kenntnisse aus der Geschichte und Kultur  des Volks  sind überall deutlich spürbar.

W. Standfuß schreibt: „Er kniet sich hin, hinein und durchforstet: Geographie und Geschichte, Kultur und Sitten, Poesie und Kunst. Er leistet die Arbeit eines Kaukasiologischen Instituts, was die Beziehungen der Deutschen  zu Georgien seit mehr als dreihundert Jahren angeht.... Er haust im Gemäuer seiner alten sorbischen Mühle und schreibt vier Jahre – mit Unterbrechungen durch dichterische, nachdichterische, literaturkritische Mühen – an den 42  Kapiteln dieses Reisebuches; er glaubt zuweilen, in der Asche der georgischen Glut herumzustochern, und ist doch beharrlich und geduldig dabei, den Fisch im Fluss zu fangen. Es ist dies auch ein Buch über den künstlerischen Schaffensprozess oder – allgemeiner – über Lebenslust und Schöpferkraft.“(3)

Die Dinge, über die er erzählt, stehen dem Autor so nahe, dass sie die wertvollsten  Erinnerungen seines Lebens – die Kindheitserinnerungen zurückzurufen vermögen.  Das mit vierzig in einem fremden Land, bei fremden Leuten Erlebte und die Kindheitserinnerungen, die er nicht verleugnen kann, verbindet Endler miteinander. Das ganze Buch wirkt wie die Suche nach einem Märchenland, in dem man als Kind leben möchte, ein Kind, das in seiner Umwelt dieses Märchenhafte nicht finden kann und sich deshalb nach einem anderen Land sehnt, wo Frieden und Liebe herrscht. Als Kind fing Endler mit diesem Suchen an und möchte glauben es mit vierzig gefunden zu haben. In dieser langen Zeitspanne aber änderte sich das in der Kindheit geprägte Traumbild, weil die Probleme, die er als Kind hatte, Bedürfnis nach einem richtigen Zuhause, Endler längst hinter sich gelassen hatte. Diesmal suchte ein Dichter nach einem Märchenland, wo sich die Dichter wohl fühlen, wo jeder Mensch, ob groß oder klein, für die Poesie schwärmt. In Georgien verspürte Endler in sich diese Schwärmerei von Anfang an. Er war in diese seltsamen Leute verliebt, die stundenlang ihre Lieblingsgedichte rezitieren konnten. Endler begegnete ihnen überall – auf der Straße, in einer Fabrik oder am Tisch, wo nach georgischer Tradition nicht nur lange Trinksprüche ausgebracht, sondern auch viele Gedichte rezitiert werden.  Es waren Leute verschiedener Berufe: Arbeiter, Angestellte ... und er, Endler, der Dichter, war bezaubert. Es war völlig gleich, ob diese Leute ihn als Lyriker kannten und akzeptierten. Er mochte diese Menschen, weil sie Poesie lieben und verstehen konnten. Das war das Allerwichtigste. Der Dichter erlebte so etwas zum erstenmal und war überrascht und bezaubert.

Die Beziehung der Georgier zur Poesie beschränkt sich nicht nur auf die Begeisterung für die Poesie, sondern es fühlt sich fast jeder Dritte in Georgien als Dichter und nicht nur das, man  besteht auch darauf, dass seine Gedichte veröffentlicht werden müssen (ob diese Gedichte es wert sind, das ist eine andere Frage).

Endler kann diese Erscheinung nicht vollständig erklären. Einerseits gilt sie für ihn als eine Art Beweis für die allgemeine Liebe zur Poesie in Georgien. Andererseits aber bezeichnet er diese Erscheinung als einen „kindischen Wahn“, als eine Krankheit. Endler irrt sich und versetzt seinen Leser auch in Verwirrung, der den Eindruck bekommt, das ganze georgische Volk sei von einem „Wahn“ besessen.

„O, des kindischen Wahns, Ruhm, Ruhm, Ruhm an seinen Namen helfen zu wollen, von Freunden, Heimatgemeinden, Schwestern und Brüdern unterstützt und gefordert: Ruhm zu gewinnen für sich, für seine Familie, für seinen Clan. Bei uns, oder täusche ich mich, sind alle Dichter mit vierzig in der Regel von dieser Krankheit geheilt, in Georgien nie!“(4)  - sagt Endler.

Meiner Meinung nach ist es falsch, dieses Problem so zu betrachten. Man sollte Rücksicht darauf nehmen, dass die reichsten literarischen Traditionen dieses in der Tat poetischen Volkes auch heute jedem Georgier erlauben, sich als Dichter zu fühlen. Das ist keine Krankheit, keine Illusion und auch keinesfalls ein kindischer Wahn, wie A. Endler  das bezeichnet. Das ist bloß ein starker Wille, etwas dazu beizutragen, dass die reichsten Traditionen, worin jeder Georgier seinen ganzen Stolz sieht, weitergeführt werden, dass Georgien doch als ein Land der Poesie bekannt bleibt.

Dieses Bestreben ist in diesem Buch als Gier nach Ruhm verstanden worden. Oder irren wir uns? Doch wohl nicht! Der Dichter steht ohne Zweifel unter diesem Eindruck, weil er am Ende versucht, diese Erscheinung möglicherweise zu rechtfertigen. Hätte er sie als positiv empfunden, wäre der Autor nicht gezwungen, nach den Mitteln für diese Rechtfertigung zu suchen. Wir nennen ein Beispiel:

„Wer so lacht, ist beinah ein Dichter“(5) oder „Jeder Dritte in Georgien ein Dichter – weshalb nicht? Dass jeder Dritte außerdem der uneigennützige Agent eines Dichters ist, das nehme man vergnügten Herzens in Kauf und, wenn es irgend möglich ist, ohne Grobheit“.(6)

Man muss dem Autor jedoch zugute  halten, dass er seinen Leser  immer wieder darauf aufmerksam macht, dass er nicht sicher ist, ob alles, was er in Georgien sah und jetzt wiederzugeben versucht, auch richtig von ihm verstanden worden ist.

„Ja, es war wohl doch etwas andere Weltordnung als unsere mitteleuropäische“.(7)  – gesteht er.

Hier zitiere ich W. Standfuß weiter:

„Mir ist die geradezu selbstbezichtigende Weise zu dick aufgetragen, mit der Endler an vielen Stellen die Unvollkommenheit seines Erkennens und Schreibens betont. Diese Art von Tiefstapelei steht der Eitelkeit näher als der Demut. Dabei besteht Endlers Demut im Gründlichen, Ergründenden, Vollenden-Wollenden“.(8)

Die Entdeckung dieses Landes der Poesie war für Endler zweifellos von besonders großer Bedeutung, weil diese Schwärmerei für die Poesie, dieses für ihn neues Gefühl nirgendwo so sehr zu spüren war, wie in Georgien. Dies hat dem  Autor bei seinen Übersetzungen der georgischen Poesie maßgeblich geholfen.

„Ein Wunder geschah, und ich kann es nur erklären, andeutungsweise, indem ich ein Buch schreibe über Georgien, sein Licht, seine Luft, seine Gesichter und Worte, und über unsere Träume: es gelang mir wirklich, in diesem Land der Bankette und Feste so intensiv und so streng zu arbeiten wie niemals zuvor: Die Entdeckung Georgiens und die Entdeckung meiner Leistungskraft fallen, einander bedingend, zusammen. Ein großes Erlebnis, nur traurig, dass ich es erst mit vierzig hatte.“(9) Erzählt Endler.

„Beneidenswerter georgischer „Eulenspiegel“, der die Poeten als Freunde und Schreiber hat.(10)..“ Mit diesen Worten will der Autor zum Ausdruck bringen, wie wichtig es für einen Dichter ist, wenn er spürt, dass seine Gedichte dem Leser dabei helfen „Das Leben, das immer schwierige, zu bestehen, zu lieben“.(11)

Ist das nicht das Gefühl, das einem Dichter bei der Entdeckung seiner Leistungskraft  hilft, heißt das, dass dem Endler, der die Entdeckung seiner Leistungskraft in Georgien machte, dieses Gefühl bisher fehlte? Dann sollten diese Gedanken des Autors als Kritik gegen die Atmosphäre gelten, in der er in der damaligen DDR als Dichter arbeitete.

Wer hat über Georgien nicht geschrieben? Man könnte eine lange Liste von den Namen anfertigen. Man könnte auch alles Geschriebene miteinander vergleichen. Wie widersprüchlich sie sind, wie verschieden ein und dasselbe Land empfunden wird, wie unterschiedlich eine und dieselbe Erscheinung erklärt wird! Wer über Georgien schreiben will, muss sich natürlich mit diesen Auffassungen auseinandersetzen. Auch Endler widmet diesem Problem einige Kapitel seines Buches und übt eine sehr scharfe Kritik an den Vorstellungen einiger Autoren. Bei Bodenstedt, z.B. kritisiert er nicht nur seinen Standpunkt und seine Nachdichtung, sondern macht den Leser auf seine sprachlichen Fehler  (georgische Ortsbezeichnungen) aufmerksam. Er macht aber in seinem Büchlein selbst  die Fehler derselben Art, was sich schwer erklären lässt. Wenn man über ein Land wie Georgien schreiben will,  muss man besonders vorsichtig sein. Selbstverständlich versucht man vor allem alles, was man über das Land gelesen und gehört hat, zusammenzufassen. Dabei ist es aber wichtig, wie feinfühlig man mit dem Stoff umgehen kann. Endler meint das auch so und erwähnt es sehr oft:

„ ...du darfst nicht alles ernst nehmen, was wir dir sagen! Georgien ist ein Land, in dem es von Schnurren und Legenden wimmelt,  die wir gerne für Wahrheit halten. Hör zu: Wir spinnen zu gerne, wir Georgier, und sind oft selbst überzeugt davon, die pure Wahrheit auszusprechen, verstehst du mich? Über jeden Stein, über jeden Baum gibt es Geschichten, von denen bestenfalls eine nur stimmen kann... Nein, das ist deutsch gedacht! Für jeden Georgier  stimmen diese Geschichten alle, jede von ihnen stimmt.“ (12) – sagt ein Georgier zu Endler, als er versucht, durch die Gespräche mit den Leuten eine klare Vorstellung über dieses Land zu schaffen. Das fällt dem Autor aber schwer.

„Die überwältigende Offenheit der Georgier ist gleichzeitig ein Verbergen des Wesentlichen“(13) – sagt er.

Auch die Fremden, die in Georgien leben (egal, wie lange), können keine klare Vorstellung über das Land und sein Volk haben. Fragt man solche Leute nach Georgien und will man dann das Land nach diesen Antworten beurteilen, kann man in eine doppelte Verwirrung geraten. Führen wir uns das Gespräch Endlers mit einem Russen (Straßenbauarbeiter) vor Augen. Es geht um einen Brauch, wonach alle Familienangehörigen von dem Toten Abschied genommen haben müssen, bevor die Leiche beigesetzt wird.  „Zerstreut in alle Teile der Sowjetunion, sie müssen kommen, und sie kommen, oft wartet der Tote Wochen auf sie und fängt an zu riechen“(14) – erzählt der Russe. Vielleicht war das ein Scherz, der sehr schwer zu verstehen ist. Oder wollte dieser alte Straßenarbeiter bloß betonen, wie sehr die Georgier mit ihren Sitten und Bräuchen verwurzelt sind?

In beiden Fällen wäre diese Äußerung für die empfindlichen Georgier sehr beleidigend. Wir haben selbstverständlich nichts gegen die kritische Haltung des Autors gegenüber einigen Sitten, die in der Tat veraltet  sind. Eins ist auf alle Fälle wichtig. Was man nicht mit eigenen Augen gesehen hat, sollte man mit aller Vorsicht behandeln. Sonst müsste man alles, was Endler in seinem Buch über Georgier schreibt, nämlich, dass Georgier ein romantisches und poetisches Volk sind, einfach anzweifeln. Wie könnte der Leser sonst verstehen, dass diese Leute so gleichgültig sein können, eine Leiche verwesen zu lassen, um nur ihren Traditionen treu bleiben zu können. Das ist ein gutes Beispiel dafür, welch große Verantwortung man auf sich nimmt, wenn man über ein fremdes Land, über eine andere Kultur schreibt.

Für die Besucher Georgiens  wird eins sofort klar: wie stolz die Georgier auf ihre Heimat sind und wie gerne sie das Lob über ihr Land von den Fremden hören. Und es wird auch gelobt. Grenzenlos. Wir wollen nicht behaupten, dass dies aus Schmeichelei gemacht wird. Es geschieht nur, weil die meisten dieser Besucher von den unwahrscheinlich vielfältigen Gesichtern dieses Landes beeindruckt werden und dadurch nicht objektiv urteilen können. Die Georgier verstehen es, Eindruck zu machen, sie zeigen sehr gern, was es alles in ihrer Heimat gibt. Endler ist aber ein Dichter, ein Kritiker, seine durchdringenden Augen merken es gleich.

„Ich hatte das Blatt am Weg vom Baum gerissen – ich erinnere mich genau an den Augenblick und die Stelle -, es in die Rechte genommen und, Freunde, erkannte es nicht, erkannte es nicht! Tamunia hatte auch dies aus den Augenwinkeln erfasst, ich sah sie lächeln, sie fragte: ‚Kennst du den Baum nicht? Ein Feigenbaum!‘  und ironisch: ‚Der darf im Garten Eden nicht fehlen!‘“(15)

„Als Geschenk eines Taxifahrers drehten wir ihn zum erstenmal in den Händen, den Granatapfel, Paradiesfrucht gleich der Feige, als Geschenk und als ein Zeichen: Hier ist Eden!“(16)

Endler ist auch bezaubert von diesem Eden. Seine Begeisterung ist groß, er verliert sich in den Widersprüchlichkeiten, Kontrasten des Landes, aber nie verliert er seine Positionen als kritisch denkender Schriftsteller.

„Weshalb konnten wir nicht einfach zu zwanglosen Bummlern werden? Weshalb gelang uns nie, in den Liedern unserer Freunde mitzuschwimmen wie heitere Fische? Weshalb verließ uns nie unser kritischer Geist?“ (17) – Fragt er sich.

Auf Grund dessen gelingt es aber Endler, ein neues Georgien-Bild zu schaffen, in dem die Widersprüchlichkeiten der georgischen „Weltordnung“ im Wesentlichen doch richtig erfasst werden. Endler  hat alles aufgenommen, was ihm seine georgischen Freunde über ihre Heimat erzählt haben. Dennoch hat er ein eigenes, größtenteils objektives Bild schaffen können.

Der Gast ist in Georgien etwas Heiliges. „Geselligkeit und Gastfreundschaft pflegt kein anderes Volk eifriger“ (18) – lesen wir bei Endler.

Ein Georgier tut alles, damit sein Gast sich bei ihm wohl fühlt. Es wird hoch gefeiert, sehr gut gegessen und getrunken und am Ende wird der Gast reich beschenkt. Für den Gast wird in Georgien alles ermöglicht,  manchmal auch das Unmögliche. Dann kehren die reichbeschenkten Gäste mit den faszinierenden Eindrücken zurück und glauben, dass das, was sie während einiger Tage in Georgien erlebten, zum Alltag des Landes gehört, dass man jeden Tag so in Saus und Braus lebt.

„Belauschtes Gespräch in einer Leipziger Straßenbahn. ‚Wo machen Sie in diesem Jahr Urlaub?‘ ‚In Georgien, wenn alles gut geht.‘ – ‚Wo liegt denn das eigentlich?‘ – ‚Na, irgendwo unten bei Grusinien‘(19). A. Endler erinnert sich an dieses Gespräch und nicht ohne Absicht.  Er will dabei darauf  hinweisen, wie wenig man  noch  über Georgien weiß.

A. Endler ist aber nicht nur kritisch, sondern auch selbstkritisch. Er schämt sich nicht, seinem Leser mitzuteilen, dass er, A. Endler, ein gebildeter Mann mit vierzig, ein Dichter, der über vieles Bescheid weiß, in Georgien über viele Dinge staunen musste.

„Die Dichter in Tbilissi und Kutaissi,  freiwillig, sie schreiben nicht die russische Weltsprache wie die großen Iren Joyce und Shaw in Englisch; sie schreiben weiterhin und ausnahmslos ihre Gedichte und Erzählungen im schwer zugänglichen Georgisch“(20) sagt der Autor  und ist dabei irgendwie erstaunt. „Gestern noch hatten wir unserer Verblüffung darüber Herr werden müssen, dass in Georgien Georgisch und nicht Russisch gesprochen wird.“(21) sagt er.

Das brauchen wir nicht zu kommentieren, daraus ist bloß zu schließen, dass die Ursachen der Naivität der meisten Besucher Georgiens in mangelhaften Kenntnissen über die Lebensverhältnisse in anderen Ländern zu suchen ist.

Wie schön, dass so ein Buch, wie Endlers „Zwei Versuche über Georgien zu erzählen“ geschrieben und gedruckt wurde. Die Zahl der Georgien-Besucher nimmt jedes Jahr zu. Die Begeisterung und dabei Verwirrung auch. Jeder, der nach Georgien reisen will, sollte unter anderem auch dieses Büchlein gelesen haben. Die Rolle des Emotionalen, durch das dieses Buch vor allem geprägt ist, sollte dabei vom aufgeschlossenen doch dabei kritischen Leser nicht übersehen werden.

 


Anmerkungen

1 Standfuß, Werner: Ein Fischer zeigt den Fisch her. In: Neue Deutsche Litzeratur, 25. Jg. Heft 10. 1977. S.167
2 In: Endler,  Adolf: Zwei Versuche über Georgien zu erzählen, Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), 1986, S. 42
3 Standfuß, Werner: Ein Fischer zeigt den Fisch her. In: NDL, H. 10. 1977. S.167-168
4 In: Endler, A.: Zwei Versuche, S.42
5 Ebenda. S.48
6 Ebenda. S.48
7 Ebenda. S.44
8 Standfuß, Werner: Ein Fischer zeigt den Fisch her. In: NDL, H. 10. 1977. S.169
9 In: Endler, A.: Zwei Versuche, S.23
10 Ebenda. S.45
11 Ebenda. S.45
12 Ebenda. S.70
13 In: A. Endler: Versuch über die georgische Poesie. In: Sinn und Form. H.6.1970. S.143
14 In: Endler, A.: Zwei Versuche, S.50
15 Ebenda. S.41
16 Ebenda. S. 113
17 Ebenda. S. 124
18 Ebenda. S. 111
19 Ebenda. S. 157
20 Ebenda. S.67
21 Ebenda. S. 134

1.2. Der Kaukasus und Europa / Caucasus and Europe

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For quotation purposes:
Mzia Galdavadze: Das georgische Thema in der deutschsprachigen Literatur. A. Endlers "Zwei Versuche über Georgein zu erzählen" und andere Beispiele - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/1-2/1-2_galdavadze17.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-03-10