TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 1.2. Der Kaukasus und Europa / Caucasus and Europe
SektionsleiterInnen | Section Chairs: Mzia Galdavadze (Tbilissi), Tornike Potskhishvili (Wien), Vilayet Hajiyev (Universität Baku) und Azat Yeghiazaryan (Jerewan)

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Medea – schwarze Blume aus Kolchis.
Höhen und Tiefen eines Mythos

Ingrid Puchalová (Pavol Josef  Šafárik-Universität Košice, Slowakei) [BIO]

Email: ingridpuchalova@yahoo.de

 

Medea – schwarze Blume aus Kolchis. Die Bezeichnung „schwarze Blume“ stammt von Anna Seghers, aus ihrer 1949 veröffentlichten Erzählung Das Argonautenschiff. Seghers erzählt eine Heimkehrergeschichte, in der sie den Schwerpunkt auf  die Figur des Jasons, nicht auf die Figur der Medea legt. Jason ist in seine Heimatstadt zurückgekehrt, wo sich sein Schicksal erfüllt. Medea taucht als „schwarze Blume“ und „schwarze Hexe“ in seinen Erinnerungen auf.

Die Priesterin des Tempels war ihm durch alle Säulengänge gefolgt. Sie glich einer schwarzen Blume, sie glich nichts, was er jemals gesehen hätte, sie glich nichts, worauf er jemals in Träumen verfallen war (Seghers, 1978, S. 66).

In der poetisch und rätselhaft gestaltenden Geschichte Das Argonautenschiff vermischen sich Mythos, zeitgenössische Realität und Innenwelt der Figuren auf eine für Anna Seghers typische Art und Weise. Die Erzählung streift nur beiläufig die bekannten Motive des Medea-Mythos, seine Widersprüche bleiben aber präsent. Die Ehetragödie zwischen Jason und Medea spielt nur eine Nebenrolle. Ebenso wie die Argonautenfahrt, der Raub des Goldenen Vlieses und Jasons Tod bildet sie den mythologischen Hintergrund für eine von Anna Seghers weitgehend frei erfundene Handlung. Anna Seghers entwickelt einen anderen Blick auf die mythologische Geschichte und auf die Medea-Figur.

Medea taucht in der Erzählung von Anna Seghers nur in Jasons Erinnerungen auf. Jason bleibt allein im Hain zurück und versinkt angesichts seines Schiffs in einen träumerischen Zustand der Erinnerung, in dem zunächst seine Mutter, dann Medea als „schwarze Blume“ aus dem als fremdes Reich der Finsternis geschilderten Kolchis und „schwarze Hexe“ auftauchen.

Sie hatte ihm, dann bei allem, zu allem geholfen. Kein Mord und kein Zauber war ihr unausführbar erschienen, um ihm bei dem Raub zu helfen und dann sein Leben zu retten. Denn eigenen Göttern war sie, aus Liebe zu ihm, dem Fremden, untreu geworden, ihm aber widerlich treu. Sie hatte ihm das goldene Vlies verschafft, anstatt es zu hüten….Er musste, wie das Volk verlangte, die einzige Tochter mit Jason vermählen. Jason war am Verzweifeln, als seine schwarze Hexe in ihrer Eifersucht alles vernichtete, das Fest, die Braut, die Gäste, sogar ihre eigenen Kinder und ihre eigene Würde und Ehre. Er war aber später auch  über Tod am Verzweifeln, wie bei der Rückkehr über den Tod seiner Mutter. (Seghers, 1978, S. 66)

In wenigen Sätzen reflektiert Anna Seghers auf eine ganz besondere Art und Weise den Mythos über Medea. Medea erscheint in der Erzählung als „schwarze Hexe“, die aus Liebe zu Jason jenem mit „Mord“ und „Zauber“ zum Raub des Vlieses und zur Flucht aus Kolchis verholfen hat und schließlich in Jolkos (nicht in Korinth), wohin Jason und Medea mit einem ärmlichen Fischerboot gelangt sind und wo Jason mit der Tochter seines Onkels vermählt werden sollte, aus Rache alles vernichtete.

Jasons Mutter und Medea verschmelzen in der Erinnerung als diejenigen, die ihm ihre Taten als „Opfer“ gebracht haben und ihm immer treu gewesen sind, auch wenn ihm diese Treue seinerzeit lästig oder gar „widerlich“ gewesen ist.

Jason war am Verzweifeln als seine schwarze Hexe in ihrer Eifersucht alles vernichtete: das Fest, die Braut und die Gäste, sogar ihre eigenen Kinder und ihre eigene Würde und Ehre. Er war später auch über ihren Tod am Verzweifeln, wie bei der Rückkehr über den Tod seiner Mutter. So viele Opfer, wie ihm diese beiden Frauen gebracht hatten, waren unwiederholbar, unwiederbringlich.“ (Seghers, 1978, S. 68)

Die Bezeichnung „Schwarze Blume“ erinnert einerseits an die „Schwarze Sonne“: vom Altertum bis zum Barock traditioneller Ausdruck der tödlichen Bedrohung, andererseits an die „Blaue Blume“: als zentrales Symbol der Romantik für Sehnsucht, Liebe und metaphysisches Streben nach dem Unendlichen.  „Schwarz“ die Nicht-Farbe, zerstört und negiert die positiven Implikationen des Substantivs „Blume“ wie Schönheit, Zartheit, Blüte, Sehnsucht, Liebe, Leben und wird zum Ausdruck der Negation des Lebens. Das Oxymoron „Schwarze Blume“ gibt das Unvorstellbare und Unbegreifbare (Liebe und Mord) der Medea-Figur in poetischer und konzentrierter Form wieder. In dem schönen Bild sind Gewalt und tödliche Bedrohung gebannt und versinnbildlicht. Das Oxymoron als rhetorische Figur, bei der eine Formulierung zwei gegensätzliche, einander mindestens scheinbar widersprechende oder sich ausschließende Begriffen verbindet, hat viel mit dem Mythos-Begriff im Sinne von Franz Fühmann gemeinsam. „Widerspruchsreich“ ist der Mythos. Der Mythos ist das, was die Wirklichkeit nicht ist, das „erschauernd Begehrte zu fürchten und Gefürchtete erschauern zu begehren.“ (Fühmann, 1983, S.94)

In seinem berühmten Aufsatz Das mythische Element in der Literatur liefert Fühmann meines Erachtens eine sehr anregende Mythos-Beschreibung, der man wenig bisher Aufmerksamkeit geschenkt hat. Ihm zufolge ist der Mythos mit dem Leben verwandt und wie das Leben durch dialektische Widersprüche bestimmt. Der Mythos mit seinen phantastischen Gestalten spiegelt diese Widersprüche wider. Mit seiner dialektischen Struktur ist er  imstande, den Menschen den Grundwiderspruch adäquat abzubilden. Im Mythos ist ein Held als eine Einheit von Gut und Böse dargestellt. Medea ist zugleich Liebende und Mörderin, guten Rat Wissende und Barbarin,  Heilende und Hexe, Opfer und Täter zugleich. Vielleicht gerade darin, in der Wiedergabe der Widersprüche besteht der Reiz des Medea-Mythos. Die Faszination über die Medea-Figur in der deutschsprachigen Literatur ist erstaunlich. Die Geschichte der Frau, die es sich nicht gefallen lässt, von ihrem Mann betrogen und verlassen zu werden, die Geschichte der Mutter, die ihre Kinder liebt und umbringt, beunruhigt und zieht seit Jahrhunderten an.

Wer ist Medea? Die Etymologie ihres Namens (von griechisch medonai – ersinnen) weist auf das Ratwissen für sich selbst und für andere. Im Ausführlichen Lexikon der griechischen und römischen Mythologie aus den Jahren 1894–1897 findet man unter dem Stichwort Medeia, dass sie die Tochter des Aietes, des Sohnes Helios, und der Idyia (Eidyia), der Okeanide, ist. Gleichzeitig weist das Lexikon darauf hin, dass eine andere Quelle Hekate als ihre Mutter und danach Kirke als Schwester angibt. Nach der gewöhnlichen Überlieferung ist Kirke die Vaterschwester der Medeia, Chalkiope ihre Schwester und Absyrtos ihr Bruder.

Medea als Tochter des Aietes und Enkelin des Sonnengottes Helios lebt in dem mythischen Ostland Aia, in der heutigen Kolchis, das die Hellenen (die Griechen) nach der ionischen Kolonisation in Kolchis wieder zu finden glaubten. Soweit die Überlieferung über Medea zurückgeht, wird der Medea der Charakter einer Zauberin beigemessen. Sie gilt als größte Zauberin und Hexe des griechischen Mythos und der griechischen Antike. In der Vorstellung der alten Welt lebt sie als Zauberin, oft auch als Zauberkästchen und Zauberwedel bezeichnet. Ursprünglich ist behauptet worden, dass Medeia, „die Ratende“, als gute Fee gegolten habe. Nach dem „Ausführlichen Lexikon“ werden ihr viele Zaubertaten zugeschrieben wie z.B. die Verjüngung des Aison. Die antiken Dichter Simonides und Pherekydes erzählen von der Aufkochung des Jason durch Medea, Aischylos lies sie im Satyrdrama wieder die Ammen des Dionysos, die Hyaden von Medea aufkochen. Bei Sophokles benutzt sie die prometheische Salbe. Die Sage von der Rache an Pelias ist ohne die Vorstellung ihrer Zauberkraft undenkbar. Ihren stärksten Ausdruck fanden ihre gewalttätigen Zauberkräfte  in der Aufkochung, in dem Wieder- jung- Kochen des Widders.

Wenn wir der Version des Argonauten-Mythos weiter folgen, dann verlässt  die aus der wunderschönen Kolchis stammende Medea ihre Heimat um Jason, dem Anführer der Argonauten, nach Griechenland zu folgen, nachdem sie ihm zum Goldenen Vlies verholfen hat. Um Jason und die Argonauten zu retten, opfert sie auch ihren eigenen Bruder. In Griechenland (Jolkos und Korinth) fühlt sich Medea als Fremde, vermisst ihre alte Heimat, die kolchische Küste. Von den Einheimischen wird sie als Barbarin und Hexe abgelehnt. Als sie erfährt, dass Jason die Tochter des korinthischen Königs Kreon heiraten will, tötet sie die Geliebte ihres Mannes durch ein vergiftetes Kleid und ermordet die eigenen Kinder, um den untreuen Mann und Vater zu strafen. Damit glaubt Medea, sich für Jasons Untreue am besten rächen zu können, obwohl ihr das Ungeheuerliche ihres Tuns deutlich bewusst ist. Hierin liegt auch die entscheidende von Euripides vollgezogene Änderung des antiken Mythos: Medea wird zur Mörderin ihrer Kinder, die der verbreiteten Sage nach aber entweder von den Korinthern oder ihren königlichen Verwandten getötet wurden.

In den letzten Jahrzehnten erlebt Medea eine wahre Konjunktur. Überall begegnen wir Medea, in der Literatur, auf der Bühne, im Ballett, im Film, in den Medien. Zahlreiche Versionen des Medea-Mythos, die im Ausführlichen Lexikon der griechischen und römischen Mythologie (1894/97) und in der Realenzyclopädie der classischen Altertumswissenschaften (1931) nachzulesen sind, dienen als Fundgrabe für viele Autoren und Autorinnen der Gegenwart. Die Autorinnen, unter ihnen zum Beispiel Helga Novak, Ursula Haas, Katja Lange-Müller, Christa Wolf, Olga Rinne, Dagmar Nick, Dea Loher aber auch bildende Künstlerinnen, Komponistinnen, Regisseurinnen und Filmemacherinnen greifen auf Medea zurück, greifen auf eine Tradition zurück, die im öffentlichen Bewusstsein bis dahin ausschließlich von Autoren repräsentiert wird: durch Texte von Euripides, Grillparzer, H.H.Jahn und Müller durch Bilder von Feuerbach, Mucha, Beckmann, durch Musik von Cherubini, Döhl und nicht zuletzt durch den Film von Pablo Pasolini mit Maria Callas in der Hauptrolle. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie diese Faszination über die Medea-Figur zu erklären ist.

Fühmann versteht den Mythos als Menschheitskonzentrat, als Modell von Menschheitserfahrung, als Modell, in dem menschliche Erfahrungen konserviert sind, dabei geht es um Erfahrungen, die sich aus der „milliardenmaligen Wiederholung“ herauskristallisiert haben.

Er (der Mythos) macht es möglich, die individuelle Erfahrung, ... , an Modellen von Menschheitserfahrung zu messen. (Fühmann, 1983, S.96)

Die Faszination des Mythos besteht für Fühmann auch in seiner „Strukturqualität“. Ein Mythologem kann niemals in eindeutig ein für allemal festgelegter Form, in Urform existieren.

Das, was man die Urform eines Mythos nennen möchte, das ist weder zu entdecken und noch zu rekonstruieren, man kann aus verschiedenen Fassungen die übereinstimmende Elemente herauspräparieren, die aber dann in ihrer Gesamtheit nicht mehr als formlose Bereitstellung bestimmter Gestalten, bestimmter Handlungen und bestimmter Attribute sind, eine Bündelung, die durchaus verschiedene Ausdeutungen zulässt, die erst durch die konkrete Gestaltung werthaltig werden. (Fühmann, 1983, S.103)

Diese Tatsache  berechtigt jeden Autor dazu, eigene widersprüchliche Erfahrung gestaltend, in den Mythos einzubringen. Der Mythos ist für die Zukunft offen, gerade weil Menschen ihn neu erschaffen können und müssen. Gleichzeitig ist er offen für alle.

Ein Mythos, das ist der Keim und all seine Entfaltung; gerade das Werden in stets neuer Gestaltung ist sein Leben; das Erstarren aber zu einem von nun ab als einzig gültig bestimmten wäre sein Tod … Treue zum Mythos erfordert Untreue gegenüber allen seinen vorhandenen Fassungen, das klingt paradox, doch wir wollen zu unserer Rechtfertigung darauf hinweisen, dass im Mythos immer ein Widerspruch nistet. (Fühmann, 1983, S.105).

Fühmann vergleicht den Mythos mit dem Schachspiel, bei dem jedem Spieler die unendliche Vielfalt der Zugkombinationen freisteht. Genau so enthält der Mythos in seiner Strukturqualität seine konkrete Gestalt auch in Wechselwirkung mit seiner Umwelt. An dieser Stelle möchte ich den 1996 erschienen Roman Christa Wolfs Medea. Stimmen. angehen. Christa Wolf entwirft in ihrem Roman „die andere Medea“ nicht die „wilde, schreckliche Frau, die böse mordwütige Mutter, die entsetzliche Schwester“, sondern die Medea, „die in den frühen Legenden und Mythen lebt“, die „guten Rat Wissende, die Heilerin“, der die männliche Rezeption von Euripides bis H.H. Jahn nach ihrer Meinung „übel mitgespielt“ habe. Bei Christa Wolf ist Medea nicht die Mörderin ihrer Kinder und nicht die Brüdermörderin, als die sie in der Rezeption seit Euripides erscheint. Trotzdem bleibt sie auch in ihrer Sicht eine „Fremde in entfremdeten Umständen“, eine „Wilde, Unangepasste“, ein Pfahl im Fleisch der Gezähmten“, so Christa Wolf.

Der Entwurf der anderen Medea-Figur von Christa Wolf ist auf starke Kritik gestoßen. Wenn man einmal den politischen Kontext beiseite lässt, der die ehemals gerade im Westen hochgelobte Christa Wolf in den 90-er Jahren ins Zentrum eines Literaturstreits gerückt hat, ist hinter den Angriffen eigentlich nur ein Vorbehalt vorhanden: Ist eine Medea ohne Mord überhaupt denkbar? Der Freispruch von Medea zum tadellosen Opfer wurde in verschiedenen Rezensionen Christa Wolf zum Vorwurf gemacht. Für viele Literaturwissenschaftler und Literaturkritiker machte die Autorin aus dem Mythos ein Märchen.

Um den Übergang vom Mythos zur Dichtung zu schaffen, geht Fühmann noch einmal von einer anthropologischen Konstante aus und das ist die Daseinsbewältigung. Daseinsbewältigung – Bewältigung der Erfahrung – als zeitlos dem Menschen gestellte Aufgabe. Objektive Erfahrung bewältigt man im Fühmannschen Sinne mithilfe der Wissenschaft, subjektive in der Dichtung, mithilfe des sprachlich geformten Gleichnisses. Gleichnisse sind im Sinne Fühmanns zur Eroberung der subjektiven Welt geschaffen. Das heißt: im sprachlichen Bewältigungsversuch gerinnt leidvolle subjektive Erfahrung nach „milliardenmaliger Wiederholung“ zum Gleichnis. Das Gleichnis ist so Fühmann weiter,

„der dritte Ort, wo sich meine und seine Erfahrungen als gemeinsame treffen; … Ins Gleichnis eintretend, erweitere ich mein Ich und das Ich eines Anderen, und dieser Andere wird als Meinesgleichen nun mein Halt. Das Gleichnis überzeugt mich, daß ich nicht allein bin.“ (Fühmann, 1983, S.121)

Im Gleichnis treten psychische und physische Realitäten miteinander in ein Analogieverhältnis, das in ihm eine Trennung beider Sphären letztlich aufgehoben wird, wie z B. eine stürmische Nacht tobt nicht nur außen, sondern auch innen. Im Gleichnis ist die äußere Welt mit der seelischen Verfassung des Menschen verschränkt. Das Gleichnis ist somit eine das Subjekt und das Objekt der Erfahrung in eins bringende Einheit.

So gesehen stiftet die Dichtung sofern in ihr das mythische Element zur Wirkung gelangt, überhaupt die umfassendste Gemeinschaft der Menschen untereinander und auch mit ihrer Umwelt. Der Mythos wirkt für Fühmann offensichtlich als subjektüberlegener Auftraggeber, der seinem praktischen Programm unhinterfragbare Legitimität verleihen soll. Der Mythos ist dialektisch und daher offen für eine Zusammenarbeit mit der Subjektivität jedes Einzelnen. Im Mythos sind das präsubjektive und subjektive Moment in harmonischer Weise verbunden. Allerdings – dies ist hervorzuheben – in einer recht diffusen Weise.

1950 wurde aus dem Nachlass der Roman von Elisabeth Langgässer Märkische Argonautenfahrt veröffentlicht. Dieser erzählt die Schicksale von sieben Personen, Nachkriegsargonauten, die sich auf einer der Argonautenfahrt nachgebildeten Wanderung aus der zertrümmerten Reichshauptstadt Berlin in die südliche Mark Brandenburg befinden. Die sieben Protagonisten haben in unterschiedlicher Weise während des Nationalsozialismus Schuld auf sich geladen, im Mittelpunkt steht jedoch eine gemeinsame Verfehlung, nämlich die, von Gott abgefallen zu sein. Die heidnische Medea, die auch im Roman thematisiert ist, bildet das eigentliche Gegenbild zur christlichen Maria.

…Medea, die den Leichmann des kleinen Bruders zerstückte, um auf der heimwärts segelnden Argo die Rache des verfolgenden Vaters mit seinen Gliedmassen aufzuhalten, mit Händen, Füßen, Kopf, Rumpf. Ein weiblicher Chronos, schonte Medea auch der eigenen Kinder nicht, sie verschlang wieder, was sie geboren hatte; sie war die unbarmherzige Zeit, die Opfer um Opfer forderte, ohne gesättigt zu sein.  (Langgässer, 1981, S.330-331)

Das Reich der Medea im Roman ist eine höllische Unterwelt, in der sie „ihre Unwesen“ treibt. „Die Wohnungen der Medea“ umfassen aber „nicht nur die Labyrinthe und Fuchsbauten unter der Erde“, sondern sie reichen bis in die Zimmer der Bürger, die „Hängeböden und Mädchenkammern“ hinauf. Medea lockt die Menschen in die Tiefe, sie steigt aber auch zu ihnen hinauf und nistet sich in der Sprache und in den Träumen der Menschen, in ihre Seelen ein. Sie repräsentiert das „Nichts“, in das die Menschen zurückfallen, wenn sie der göttlichen Gnade nicht teilhaftig werden.

Elisabeth Langgässer projiziert in das Bild der mörderischen Medea starke Gefühle. Die Autorin ist im Roman auf einer besonderen Weise persönlich involviert  und sieht sich vielleicht in der Figur der Medea mit ihrer eigenen Geschichte teilweise konfrontiert. Sie war auch eine „mörderische Mutter“ gewesen. Gezwungen von den Nürnberger Rassegesetzen hatte sie ihre Tochter den NS-Schergen ausgeliefert, um sich und die anderen Kinder zu retten. Der Roman sollte nach Langgässers Absicht ein „Kosmos der Nachkriegszeit“ werden. Literaturwissenschaftlerin Inge Stephan interpretiert die Medea-Figur von Elisabeth Langgässer als Bewältigungsfigur eigener Erfahrungen.

Zusammenfassend lässt sich feststellen. In Literatur und Kunst hat der Mythos kaum von seiner Kraft verloren. Seit der Antike gehören Mythen zu einem wesentlichen Ausdrucksmittel menschlichen Lebens, Denkens, Wahrnehmens und Empfindens. Die Faszination der alten Themen ist auch in unserer Zeit sehr groß. Mythos als Medium zum Ausdruck spezieller Inhalte der jeweiligen Zeit, sei es Antike, christliches Mittelalter, Renaissance oder Manierismus, Barock oder Rokoko, Klassizismus oder Romantik, Symbolismus oder Jugendstil, bietet einen hochsensiblen Indikator für Veränderungen des Zeitgeistes. Gerade die relative Konstanz und Kontinuität einer über mehr als zweieinhalb Jahrtausende gehende Tradition und Rezeption bietet für den Künstler „das Wikungspotential“ (nach H. Blumenberg), mit den alten Themen in den neuen Literatur- und Kunstobjekten zeitspezifische Veränderungen und generelle Entwicklungstendenzen deutlicher zu benennen. Mythos ist immer etwas unabgeschlossenes, etwas, für das es keine Urfassung und keine Endfassung gibt. Mit jeder Deutung schreibt man ihn fort. Sowohl die reale Erfahrung als auch die Erfindung machen erst die Erzählung aus, die zum Mythos werden kann. Der Mythos braucht sowohl das Ereignis wie die Rede darüber.

In der Schlussszene von Euripides Drama Medea erscheint „die schwarze Blume“ aus der wunderschönen Kolchis, Medea, mit den Kinderleichen auf einem Drachenwagen in der Luft, nachdem sie ihre Kinder und die zukünftige Braut ihres Mannes umgebracht hat. Sie sagt Jason ein bitteres Ende unter den Trümmern seines einst glorreichen Schiffs und nun Wracks Argo voraus. Seit Euripides 431 v. Chr. hat die antike Medea die Bühne nicht verlassen. Sie bleibt bis heute präsent. Es gibt eine beachtliche Anzahl zeitgenössischer literarischer Medeen – zunächst vorwiegend bei männlichen, in den letzten dreißig Jahren aber auch bei weiblichen Autoren. Die leidenschaftlich liebende, rachsüchtige, dämonische Medea, „die schwarze Blume“, gehört zu den meistrezipierten antiken Mythen in der Literatur. Es scheint nie richtig still um Medea zu sein. Nach der Doppelformel: Medea ist tot. Es lebe Medea.

 

Literatur


1.2. Der Kaukasus und Europa / Caucasus and Europe

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For quotation purposes:
Ingrid Puchalová: Medea – schwarze Blume aus Kolchis. Höhen und Tiefen eines Mythos - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/1-2/1-2_puchalova17.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-03-10