TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr.
Juni 2010

Sektion 2.4.
Jiddisch auf der internationalen Bühne im 21. Jahrhundert, auf dem Gebiet der Erziehung, Bildung und Kunst
Sektionsleiterin | Section Chair: Astrid Starck-Adler (Basel)

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Sektionsbericht 2.4.

Jiddisch auf der internationalen Bühne im 21. Jahrhundert,
auf dem Gebiet der Erziehung, Bildung und Kunst

Astrid Starck-Adler (Universität Basel) [BIO]

Email: astrid.starck@uha.fr

 

Thema der Sektion „Jiddisch“ war, die Folgen der Shoah auf die heutige Lage und Erscheinung des Jiddischen zu hinterfragen, den unterschiedlichen Diskurs über die Sprache zu analysieren und sich mit neuen Perspektiven für das 21. Jahrhundert zu befassen. Dabei wurden vor allem Erziehung, Bildung und Kunst ins Auge gefasst und die bestehenden antagonistischen Diskurse, die in den Medien parallel oder sogar gleichzeitig über Jiddisch gehalten werden, untersucht und analysiert. Historisch gesehen bilden sie nicht Neues, denn im Grunde genommen existiert dieses Phänomen seit der Verschriftlichung der Umgangssprache zur Zeit des Buchdrucks. Die Gründe dafür lassen sich je nach Epoche unterschiedlich deuten. Damals war das Kriterium die Dichotomie zwischen der Gebildeten- und Volkskultur, später - zur Zeit der jüdischen Aufklärung - die vorrangige Stellung der Kultursprachen Deutsch und Hebräisch. Dies führte einerseits zum allmählichen Untergang des Westjiddischen in Westeuropa, während andererseits das Ostjiddische in Osteuropa aufblühte und zu einer nationaljüdischen, identitätsschaffenden Sprache wurde, die eine moderne und avantgardistische Literatur und Kultur zum Vorschein brachte. Bis 1908 musste Jiddisch warten, um auf der Czernowitzer Konferenz nicht mehr als „Jargon“, sondern als vollberechtigte Sprache anerkannt zu werden. Der doppeldeutige Blick auf Jiddisch blieb jedoch bestehen und sein unaufhaltsames Verschwinden immer wieder prophezeit. Diesbezüglich schrieb der Sprachwissenschaftler Salomo Birnbaum, der vor dem Ersten Weltkrieg in Hamburg den ersten Lehrstuhl für Jiddisch innehatte: „Bei der Beschreibung einer Sprache wird nur in den seltensten Fällen ihre Zukunft besprochen. Jiddisch ist eine solche Ausnahme. Seit ungefähr zwei Jahrhunderten wird ihm – von den jüdischen Aufklärern und vielen ihrer Nachfolgern – der baldige Untergang vorausgesagt, und das angesichts eines ununterbrochenen zahlenmäßigen und kulturellen Aufstiegs.“ Es ist hier von der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen die Rede, als es sage und schreibe dreizehn Millionen Jiddischsprecher auf der Welt gab! Dann aber - mit der Ausrottung der jiddischen Kultur durch das Naziregime und später durch den Stalinterror - erlitt sie einen kaum zu überbrückenden Schaden. Sie verschwand aber nie.

Mit Recht stützt man sich auf die historischen Ereignisse, um Jiddisch als eine gefährdete Sprache zu charakterisieren. Nun geht man aber noch einen Schritt weiter und erklärt diesmal die Sprache für tot! Gleichzeitig und erstaunlicherweise wird eine Wiederbelebung der jiddischen Kultur und Musik festgestellt, eine quasi „Auferstehung aus dem Nichts“. Dabei wird Jiddisch jeweils mit Nostalgie oder mit Exotik verbunden. Diese „Neugeburt“ geht sehr oft einher mit einer Entstellung der Originalsprache: Transkriptionen und Übersetzungen sind nicht selten. Ja, man wundert sich sogar darüber, dass Jiddisch jemals mit hebräischen Buchstaben geschrieben worden ist! Ganz anders sieht es da aus, wo darauf Wert gelegt wird, aus der Tradition zu schöpfen, um Neues zu schaffen und den Zugang zur „authentischen“ Sprache und Kultur zu ermöglichen. Es finden Konzerte und Festspiele statt, es werden neue Sommerkurse und Jiddische Festwochen organisiert, in zahlreichen Workshops kann man sich mit der Kunst der Klezmermusik, des jiddischen Gesangs und Theaters vertraut machen. Man kann die Sprache erlernen, sich als Lehrer oder Übersetzer spezialisieren, sich als jiddischer Schauspieler, Musiker oder Sänger ausbilden lassen. Dieses Phänomen gilt nicht nur für Europa, sondern für die ganze Welt. In den ehemaligen Emigrationsländern werden Kurse eingeführt, Clubs und Vereine gebildet, Konzerte und Theateraufführungen veranstaltet. Für „überzeugte Jiddischisten“ gilt vor allem, den Akzent auf die bestehende, nie unterbrochene Kontinuität zu legen. Somit wird die Perspektive einer Gründung ex nihilo, die auf dem aussterbenden Charakter der Sprache beruht, von selbst aufgehoben.

Die Sektion erwies sich als besonders anregend und fruchtbar, da dem allgemeinen Thema gemäß sowohl Künstler als auch Akademiker, Außenseiter und Insider daran beteiligt waren. Barry Trachtenberg (University of Albany/SUNY) ging es darum, die Metaphern von Tod und Leben im jiddischen Nationaldiskurs historisch zu begründen. Dabei stützte er sich insbesondere auf die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts - zur Zeit der Entstehung des Jiddischismus. Diesbezüglich wurden die romantischen Sprach- und Nationalauffassungen herangezogen und den Diskurs der „Gründer“ der jiddischen Nationalbewegung, inklusive Nathan Birnbaum, I. L. Peretz und Chaim Zhitlowski untersucht. Es ging daraus hervor, dass der Begriff Gesundheit - angewandt auf die jiddische Sprache und Kultur und deren Träger - die Basis der Diskussionen bildete. Danach wurden die Auswirkungen auf die „Nachkommen“ Schmuel Niger, Ber Borochov, Jacob Lestschinsky and Max Weinreich hinterfragt. Diese Untersuchung sollte beweisen, wie sehr die anfänglichen institutionellen Strukturen, die für Jiddisch geschaffen wurden, sich im Grunde genommen die Rettung einer gefährdeten Sprache zum Ziel setzten. Wurde in diesem Einleitungsreferat eher auf den historischen Ursprung des antagonistischen Diskurses hingewiesen, so bezog sich Armin Eidherr (Universität Wien/Salzburg) auf dessen häufiges Erscheinen in gegenwärtigen Texten, wo neben tiefgehenden, sich mit Traditionen und aktuellen Vorurteilen und Sichtweisen produktiv auseinandersetzenden Texten, sich dichterische und essayistische Beiträge finden, die eher in den Bereich „Kitsch“ und „Nostalgie“ gehen. Es stellte sich die Frage, ob dieses Bild vom Jiddischen nicht auch die jiddische Kultur selbst zu einem gewissen Teil forme? Thomas Soxberger (Universität Wien) ging von der Entstehung eines jiddischen Sprachnationalismus in der späten Habsburgermonarchie aus. Der „Jiddischismus“ blieb vor allem in Wien ein Randthema und die Neubewertung, die in der Zwischenkriegszeit vor allem im Kulturjournalismus ihren Niederschlag fand, wurde durch die Shoah zunichte gemacht. In der populären Auffassung des „Jüdischen“ in Wien blieb das Jiddische stets in ambivalenter Weise im Bewusstsein. Die oft vagen, aber sehr wirkungsvoll perpetuierten Klischees über das Jiddische hielten ein Interesse zwar wach, stellten aber mehr Hemmnisse als einen brauchbaren Ansatzpunkt für eine ernsthafte akademische Vermittlung des Jiddischen dar. Es erwies und erweist sich weiterhin als schwierig, einem oft populärwissenschaftlich unterstützten „Wissen“ (etwa über die besondere „Nähe“ des Wienerischen zum Jiddischen) etwas entgegenzusetzen. Ausgehend von eigenen Erfahrungen im Spracherwerb wurde über das spezifisch Wienerische debattiert. Hans Breuer (Wien), Sänger und Liedermacher, referierte über die „Entdeckung“, besser gesagt, die „Wiederaneignung“ einer Sprache, die ihm von seinem Vater immer verhehlt worden war. Während seine Mutter als Widerstandskämpferin von der Gestapo gefoltert wurde und nach dem Krieg zusehen musste, wie die alten Nazis immer noch walteten, hat sein Vater trotz des Verlusts seiner halben Verwandtschaft und unzähliger Freunde, Österreich stets als seine Heimat empfunden, den Glauben an Humanismus nie aufgegeben und ist nach sieben Jahren Emigration nach Wien zurückgekehrt, „um mit den anständigen Menschen in diesem Lande den Sozialismus aufzubauen“. Als der Sohn Hans, der in der Kinderschule immer wieder als „Jud“ beschimpft worden war, in den Siebzigerjahren zum ersten Mal jiddische Lieder hörte, fand er zu sich selbst: durch dieses Selbstbewusstsein, das er sich erkämpfen musste. Er war plötzlich imstande, seine Familiengeschichte in Worte umzusetzen und konnte von seiner individuellen Erfahrung ausgehend, eigene und fremde Erlebnisse und Geschehnisse erfassen und ihnen in seinen Liedern einen allgemeinen, universellen Charakter verleihen. Das Singen jiddischer Lieder wurde für ihn der wichtigste Weg um innere Spannungen, Trauer und persönliches Leid vor sich selbst und der Natur auszudrücken und zu bearbeiten. In jiddischen Liedern könnten seine Gefühle stärker widerhallen, als in irgendeiner anderen Musik bzw. Sprache. Manuela Becker (Freiburg-im-Breisgau), Sängerin und Leiterin des jiddischen Trios tunklgold, analysierte die weltweite Vorliebe für Klezmermusik. Die Beschäftigung mit dieser Musikform wirft die Frage auf, nicht nur was Klezmer überhaupt sei, sondern was eigentlich „jüdische Musik“ sei und ob es sie gibt. Eine Fülle von musiktheoretischen, folkloristischen und linguistischen Forschungen sind auf diesem Gebiet entstanden. Ein neuartiges Phänomen, das untersucht wurde, war das rege Interesse für jiddische Kultur bei einem nichtjüdischen Publikum und die starke Beteiligung nichtjüdischer Künstler und Wissenschaftler. Brigitte Dalinger (Universität Wien) setzte sich mit der lokalen Rezeption jiddischer Theatergastspiele, die jedes Jahr im Oktober oder November in Wien von semi- bis hochprofessionellen Theaterensembles aus Israel oder Kanada aufgeführt werden, auseinander. Charakteristisch sei vor allem die sehr konservative Haltung der Inszenierung. Die Produktionen, die hier geboten würden, ließen darauf schließen, dass sich diese Theaterform nur sehr zögernd der zeitgenössischen Theaterästhetik und Performancekultur annähere und viel eher auf Nostalgie und Folklore aus sei. Astrid Starck-Adler besprach das vor kurzem entstandene Pariser semi-professionelles Troïm teater, das bis jetzt zwei Theaterstücke aufgeführt hat, das erste von Chaim Slovès, „Di Jojnes un der Walfisch“, das zweite von Abraham Goldfaden, „Di zwey Kune-lemel“. Das Interessante an der Wahl der Stücke liege vor allem darin, dass sie einen Einblick in die Pariser Theathergeschichte und in das jiddische Repertoire über mehr als ein Jahrhundert erlaube. Beide Stücke hängen mit einem historischen Ereignis zusammen: einerseits mit der Schaffung eines jiddischen Theaters in Paris am Ende des 19. Jahrhunderts durch osteuropäische Emigraten, andrerseits mit dessen Wiederbelebung nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Troïm teater will jetzt als drittes Stück „Halt dem Sack un schitt kartoflies“ vom gegenwärtigen Schriftsteller und Dramaturgen Mikhoel Felsenbaum inszenieren, womit es in der Gegenwart Fuß fasst.


2.4. Jiddisch auf der internationalen Bühne im 21. Jahrhundert, auf dem Gebiet der Erziehung, Bildung und Kunst

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Astrid Starck-Adler: Sektionsbericht 2.4. Jiddisch auf der internationalen Bühne im 21. Jahrhundert, auf dem Gebiet der Erziehung, Bildung und Kunst: - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/2-4/2-4_sektionsbericht17.htm

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