TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr.
Mai 2010

Sektion 2.5. Übersetzung und Kulturtransfer
SektionsleiterInnen | Section Chairs:
Aleya Khattab (Universität Kairo) und Ernest W. B. Hess-Lüttich (Universität Bern)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Übersetzen aus dem Mittelhochdeutsch: eine Herausforderung?

Patrizia Mazzadi (Europa-Schule, München) [BIO]

Email: patrizia.mazzadi@uniurb.it

 

Übersetzen bedeutet  „sich begegnen“, und eine Begegnung kann nur erfolgreich sein, wenn beide Beteiligten sich aneinander bereichern, so dass zwischen den zwei Sprachen eine Spannung entsteht, die Früchte trägt.

Übersetzen bedeutet aber auch interpretieren, und dies kann mehrdeutig verstanden werden.

Die Reflexion über beide Aspekte, sowohl die Begegnung als auch die Interpretation, ist keine Erfindung der Moderne, sondern wichtiger Bestandteil von Literatur und Dichtung und als solcher ein immer wiederkehrendes Argument in Schriften und Untersuchungen, wie wir in Kürze sehen werden(1).

Wichtig ist es an dieser Stelle, nach einer kurzen theoretischen Einleitung, zu skizzieren, wie bedeutend das Thema Übersetzen schon für das Mittelalter war, und welche Herausforderungen dem heutigen Übersetzer von mittelalterlichen Stoffen gestellt werden, angesichts der Tatsache, dass die Differenzen unter den Kulturen nicht nur synchronisch, sondern auch diachronisch zu bewältigen sind.

Ich werde daher den Beitrag auf die zwei sich herauskristallisierten Aspekte Begegnung und Interpretation fokussieren…

Um einander zu begegnen, ist es wichtig zu verstehen.

Verstehen kann viel bedeuten und Texte können unter mehreren Aspekten verstanden werden(2), wie wir aus der Unterscheidung zwischen den vier Sinnen, die vier verschiedene Lesungen derselben res bieten, wohl wissen.

Die erste Aufgabe einer Übersetzung besteht daher in der Entschlüsselung von Texten, um die Begegnung zwischen Ideen und Kulturen zu ermöglichen: eine Übersetzung impliziert die Begegnung zwischen zwei Enzyklopädien, zwei Welten(3), wobei eine gegenseitige Bereicherung erfolgen kann, welche nicht nur in eine einzige Richtung geht.

Humbold(4) hat die Bedeutung der Übersetzung für den Bereicherungsprozess einer Sprache unterstrichen(5). Madame de Stäel schrieb, dass das Übersetzen zu den wichtigsten Aufgaben der Menschheit gehört, weil dadurch Gedanke und Reflexionen aufeinander treffen:

Se ciascuna delle nazioni moderne volesse appagarsi delle ricchezze sue proprie, sarebbe ognor povera […] se alcuno intenda compiutamente le favelle straniere, e ciò nonostante prenda a leggere nella propria lingua una buona traduzione, sentirà un piacere per così dire più domestico ed intimo provenirgli da quei nuovo colori, da quei modi insoliti, che lo stile nazionale acquista appropriandosi di quelle forestiere bellezze’(6)

Lorenza Rega führt in ihrem Studium über die Kunst der Übersetzung das Beispiel von Hölderlin an, welcher sich lange mit der Metrik des Griechischen beschäftigte, sie in eine deutschen Metrik modifizierte und umschrieb, und somit eine für die damalige Zeit neue Form von deutscher Dichtung schöpfte (7). Ähnlich argumentiert auch Zanzotto, einer der bedeutendsten italienischen Dichter der Gegenwart. Er sei, so der Lyriker, nie der Überzeugung gewesen, dass Dichtung definitiv und somit unberührbar, unantastbar sei; es kann sogar geschehen, dass ein Text durch die Übersetzung verbessert wird(8) und, abgesehen von dem Gelingen der Übersetzung selbst, bestehe gerade in den Grenzen, die uns von der Übersetzung von Dichtung gesetzt werden, eine einmalige Überlegungsgelegenheit über das Übersetzen überhaupt.(9)

Eine solche Begegnung benötigt zweierlei:

Auf der sprachlichen Ebene ist es wichtig, sowohl das volle Verständnis der Sprache des Textes, als auch den umfassenden und artikulierten Überblick der eigenen Sprache zu besitzen. Gleichwichtig ist es, über genügend Zeit zu verfügen, um für alle Zweifel, Schwierigkeiten und Herausforderungen, welche in einem Text auftreten können, eine Lösung zu finden.

Im Falle von älteren Schriften bedeutet eine solche Begegnung das Erwecken zu neuem Leben, sind die Texte für lange Zeit in Vergessenheit geraten, und von niemand in Anspruch genommen worden, so erleben sie eine neue Aktualisierung, die mit dem ‚Kuss von Dornröschen’ vergleichbar ist; zwischen Text und Übersetzer entsteht in der Tat eine Art Liebe, die oft ein Leben lang dauert…(10)

Der Übersetzer soll sich sozusagen in den Text vertiefen können, in das, was Gadamer hermeneutischen Dialog nennt.(11) Aber nicht nur.

Eine solche Begegnung intendiert ein drittes Element, den Leser, welcher den zum neuen Leben erweckten Text aufschlagen wird. Dies impliziert neue Herausforderungen, denn es ist nicht möglich, nur einen bestimmten intendierten Leser vorauszusetzen. Eine Übersetzung muss daher wieder zweierlei berücksichtigen:

Zum einen den Leser, der nur Freude an der Lektüre des Textes haben wird, und wahrscheinlich auch haben möchte, zum anderen den Leser, welcher fähig ist, auch die intertextuelle, die metaphorische Botschaft des Textes nachzufühlen und zu begreifen(12).

Goethe spricht in diesem Zusammenhang von Stoff, Gehalt und Form:

„Den Stoff sieht jedermann vor sich, den Gehalt findet nur der, der etwas dazu zu tun hat, und die Form bleibt ein Geheimnis den Meisten“(13)

Damit ist die Brücke zum nächsten Punkt, zur Interpretation geschlagen worden, denn indem die Übersetzung einen intendierten Leser im Visier hat, verschmelzen Interpretation und Begegnung zu einer Verhandlung zwischen dem ursprünglichen Text samt der Kultur, aus der er entsprießt, und dem neuen Text, einschließlich der dazugehörigen Kultur und dem Erwartungshorizont des intendierten Lesers.

Dies bedeutet, dass die Begegnung sich mit der Zeit modifiziert, dass während der ursprüngliche Text immer gleich bleibt, die dynamisch konzipierte Übersetzung immer wieder neu formuliert und neu vermittelt werden muss: Der ursprüngliche Text altert nicht, die Übersetzung wohl(14)…ich berücksichtige hier die Fragestellungen der Edition von älteren Texten und der damit verbundenen Interpretationen nicht, es ist klar, es handelt sich um DIE BEGEGNUNG…

Die Auseinandersetzung, ist nicht immer einfach, Gadamer stellte fest, dass angesichts der Komplexität eines Textes, der Übersetzer sich mit einem ständigen Verzicht konfrontiert sieht(15), …und die Fragen, die eine Übersetzung mit sich bringt, sind schon von Schleiermacher gestellt worden(16):

Soll der Übersetzer den Text zum Leser bringen, oder den Leser zum Text?

Und, noch komplexer: soll der Übersetzer den Leser zur Zeit und zur Kultur, in der der Text entstanden ist, führen, oder Zeit und Kultur für den ‚modernen Leser’ zugänglich machen?

Ist es wichtiger, den Inhalt oder die Form zu vermitteln? Augustin hatte wohl bemerkt, dass es besser sei von den Linguisten ermahnt, als von dem Volk nicht verstanden zu werden…und Martin Luther ist seinem Rat bekanntlich gefolgt…(17)

Dennoch, wie… Wie, soll man es erreichen? Durch welche Strategien?(18) 

Dieser Aspekt ist im Fall von älteren Texten von primärer Bedeutung, Eco führt in seinem Buch einige Beispiele an…

Wie kann man dem modernen Leser zu verstehen geben, dass die Situation ‚x’, welche heutzutage undenkbar wäre, im Mittelalter gang und gäbe war? In dem – so Eco – die dargestellten Romanfiguren gelassen reagieren und somit für die Zeitmäßigkeit der Gegebenheit zeugen(19). Ein noch gravierenderes Problem stellt die Bedeutungswandlung der Wörter dar: einige haben ihre Form nicht geändert, bezeichnen aber in der älteren Sprache etwas anderes als in der neuen…ich denke z.B. an das Wort scham(20), das im Mittelhochdeutschen der Angst vor dem Verlust der Ehre entspricht, die zugleich Verlust der Identität bedeutet, und die Fähigkeit hervorruft, sich selbst zu kontrollieren. Oder auch an bescheidenheit, die ihren Ursprung im Bescheidwissen hat und in der Ritterlehre das Unterscheidenkönnen zwischen Richtigem und Falschem bezeichnet(21).

Es sind nur zwei Beispiele unter vielen möglichen, die jedoch zeigen, wie schwierig der schon erwähnte hermeneutische Dialog im Fall von älteren Texten wird, wie jeder Aspekt durchdacht werden muss, da jeglicher Kontakt mit dem Autor fehlt und die Texte oft noch Thema umschichtiger Interpretationen sind.

Soweit zur Theorie…

Das Mittelalter erlebte für lange Zeit das Beisammensein von Sprachen und Kulturen, Begegnung und Interpretation waren zur damaligen Zeit hoch aktuell, denn je mehr das Latein sich von den Sprachen des Volkes entfremdete, desto wichtiger wurde es, die Texte dem Volk näher zu bringen…

In dieser Hinsicht war die Entstehung der Bettelorden vorbildlich, weil sie das Wort Gottes dem Volk auf die Plätze brachten und dadurch den regen Austausch von Stoffen und Predigten förderten. Sie waren außerdem die ersten, die narrative Elemente in die Sermonen einfügten…

Im 12. und 13. Jh. war es auch üblich, Predigten, die in einem bestimmten Ort in der Volkssprache verfasst worden waren, lateinisch nieder zu schreiben(22), um deren Verbreitung unter den Gelehrten zu ermöglichen; die gleichen Predigten konnten dann, dank einer weiteren Übersetzung, in einer anderen Volksprache münden. Etwa das, was in der modernen Welt mit der englischen Sprache geschieht, die manches Mal nur eine Brückenfunktion annimmt.

Deutsche Bischöfe und Klöster schickten gelehrte Schreiber nach Paris, um die neuesten Vorträge und Predigten zu bekommen, und junge deutsche Kleriker wurden sogar zu diesem Zweck an der Sorbonne ausgebildet(23), denn Übersetzungen vermitteln Texte und ermöglichen die Begegnung zwischen Text und Leser.

Auf demselben Weg sind auch die literarischen Werke in den verschiedenen Volkssprachen zueinander gekommen, es begann die großartige Zeit der Übersetzung und der Adaptation, die zur Verbreitung von literarischen Strömungen in ganz Europa führte, ich denke an Artus, an Tristan, an Karl den Grossen, an die höfische Lyrik…

Die Fragestellungen der Gelehrten zu diesem Thema ließen dann nicht lange auf sich warten.

Jehan de Meun, der Ende des 13. Jh.s den Livres de Confort de Philosophie von Boetio für Phlipp den Schönen übersetzte, behandelt sie in der prefatio zum Werk:

Ja soit que tu entendes bien le latin, mais toutevois est de moult plus legiers a entendre le françois que le latin. Et por ce que tu me deis –lequel dit je tieng pour commandement- que je preisse plainement la sentence de l’aucteur sens trop ensuivre les paroles du latin, je l’ai fait a mon petit pooir si comme ta debonnaireté le me commanda. Or pri touz ceulz qui cest livre verront, s’il leur semble en aucuns lieus que je me soie trop eslongniés des paroles de l’aucteur ou que je aie mis aucunes fois plus de paroles que l’aucteur n’i met ou aucune fois mains, que il me pardoingnent. Car se je eusse espons mot a mot le latin par le françois, li livres en fust trop oscurs aus gens lais, et li clers neis moiennement letré ne peussent pas legierement entendre le latin par le françois.(24)

Jehan de Meun rechtfertigt seine Interpretation des Textes und erklärt die Gründe, die ihn dazu geführt haben: er wollte jene obscuritas vermeiden, die die Unverständlichkeit des Textes verursacht und ihn verstummen lässt, statt weiter oder wieder zu beleben.

Die Interpretation und die Vermittlung berücksichtigt daher einerseits die Inhalte, andererseits die Formen, mit denen es dem Übersetzer gelingt, die Inhalte zu vermitteln.

Die Fragestellung kompliziert sich im Fall von Dichtung.

Dante ist meines Wissens der erste gewesen, welcher die Meinung der Unübersetzbarkeit von Dichtung vertritt. Er begründet seine Position mit der Darlegung der drei Komponenten der Lyrik: fictio, retorica, musica.

Mit fictio ist die Aussage gemeint, der Sinn, mit retorica der ästhetische Aspekt, welcher aus ornatus und ordo besteht, mit musica schließlich Reim und Metrik. Während fictio und rhetorica vermittelt werden können, ist musica nicht nachahmbar und Dichtung infolgedessen nicht übersetzbar(25):

E perciò sappia ciascuno che nulla cosa per legame musaico armonizzata si può de la sua loquela in altra trasmutare senza rompere tutta sua dolcezza e armonia. E questa è la cagione per che Omero non si mutò di greco in latino come l’altre scritture che avemo da loro. E questa è la cagione per che li versi del Salterio sono sanza dolcezza di musica e d’armonia; ché essi furono trasmutati d’ebreo in greco e di greco in latino, e ne la prima trasmutazione tutta quella dolcezza venne meno.(26)

Das Problem wurde auch von Gottfried von Strassburg etwa 90 Jahre vor Dante in dem berühmten Literaturexkurs des Tristan behandelt. Zwar spricht Gottfried nicht explizit von Übersetzung und behandelt das Thema nicht in einer gesonderten, theoretischen Abhandlung, sondern, nach antikem Muster, im Bereich eines Dichterdiskurs, indem er seine Zeitgenossen nennt und ihre Werke bewertet(27). Die Einschätzung, bzw. Ablehnung erfolgt jedoch unter dem Gesichtspunkt ihrer dichterischen Fähigkeit, Wort und Sinn –retorica und fictio- in Einklang zu bringen, denn wer unverständlich wirkt, gefährdet sowohl die ethische als auch die ästhetische Aussage des Textes endgültig.

Gottfried vergleicht solche Dichter mit den betrügerischen Alchimisten, deren Worte in den schwarzen Büchern der Magie gesucht werden müssen, um verstanden zu werden, und definiert sie als Leugner und Betrüger

vindaere wilder maere,
der maere wildenaere,
die mit den ketenen liegent
und stumpfe sinne triegent,
die golt von swachen sachen
den kinden kunnen machen
und ûz der bühsen giezen
stoubîne mergriezen.
4665 ff.

sone hân wir ouch der muoze niht,
daz wir die glôse suochen
in den swarzen buochen.
4688 ff.(28)

Als positives Beispiel zitiert Gottfried dagegen Hartmann von Aue, der Dichter, welche als erster die von Chrètien de Troye auf Altfranzösisch verfassten Werke ins Mittehochdeutsche übertrug:

Hartman der Ouwaere,
âhî, wie der diu maere
beide ûzen unde innen
mit worten und mit sinnen
durchverwet und durchzieret!
4621 ff.

Hartmann wusste mit seiner Sprache den Sinn einer Erzählung zu vermitteln und gebrauchte dazu klare und deutliche Worte, die den Zuhörern Freude bereiten und den Sinn nicht betrüben:

wie er mit rede figieret
der âventiure meine!
wie lûter und wie reine
sîniu cristallînen wortelîn
beidiu sint und iemer müezen sîn!
si koment den man mit siten an,
si tuont sich nâhen zuo dem man
und liebent rehtem muote.
4626 ff.(29)

Ähnliches Lob spendet er Heinrich von Veldeke, dem Autor der deutschen Fassung des Eneas-Romans. In den Augen Gottfrieds bestand Veldekes Verdienst darin, dass er als erster auf Deutsch dichtete – indem er aus der französischen Vorlage übersetzte.

Gottfried betrachtet infolgedessen die Kunst Veldekes als ersten Ansatz der Blütezeit der deutschen Dichtung und verwendet, um das auszudrücken, das Bild vom Pfropfen:

er inpfete daz êrste rîs
in tiutischer zungen.
dâ von sît este ersprungen,
von den die bluomen kâmen,
dâ sî die spaehe ûz nâmen
der meisterlîchen vünde.
und ist diu selbe künde
sô wîten gebreitet,
sô manege wîs zeleitet,
daz alle, die nu sprechent,
daz die den wunsch dâ brechent
von bluomen und von rîsen
an worten unde an wîsen.
4738 ff.

Das Bild vom Pfropfen drückt optimal das Konzept von Begegnung und Bereicherung aus, das zu Beginn erläutert wurde, denn erst durch die Begegnung mit dem ‚fremden’ Text ist Heinrich fähig geworden, im Bereich Sprache und Dichtung neue Wege zu wagen und zu gehen…

Gottfried bespricht die Dichter anhand der rhetorischen Norm, wie sie in der Antike und dann im Mittelalter von Galfred von Vinsauf in der Poetria nova(30) vorgelegt wurde, wobei sich das Ideal der perspicuitas als grundlegend erweist, denn sie allein bewirkt im Publikum jenen ästhetischen Genuss, der den Zugang zum Werk ermöglicht und dessen lehrhaften Inhalt zur Entfaltung bringt.

Interessanterweise bespricht Gottfried die Lyriker nicht, er beschränkt sich auf das Lob der Minnesänger, der nahtegalen, indem er den Akzent auf die Musikalität der Lieder setzt, Lieder die auf Mittelhochdeutsch verfasst und nicht in andere Sprachen übertragen wurden. (4751-58). Insofern ist seine Position mit der von Dante wenn nicht identisch, so aber mindestens gut vergleichbar…

Das Übersetzen von Dichtung im strengen Sinne des Wortes bleibt dem Mittealter fremd und verbreitet sich erst in der Renaissance in der Folge des Klassizismus.(31)

In der Renaissance forderten die neuen, aus Griechenland eingeflossenen Werke die Literaten erneut heraus.

Als Petrarca 1353 in Besitz einer griechischen Fassung der Ilias kam, fühlte er sich wie ein Tauber der Musik gegenüber, er war unfähig, es zu verstehen und verspürte schmerzhaft seine eigenen, bis dahin ungeahnten Grenzen(32). Das Thema Übersetzung wurde daher aktueller den je.

Infolgedessen verfasste Leonardo Bruni(33) 1420 einen kleinen Traktat, de interpretatione recta, in dem die Probleme des Übersetzens behandelt werden.

Seine Bedingungen und Voraussetzungen für eine korrekte Übersetzung lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Die größte Schwierigkeit besteht nach Bruni darin, das System des ornatus in einer fremden Sprache wiederzugeben.

Die Herausforderung der Kunst des Übersetzen erscheint somit als erkannt(34).

Später sind es die großen Diskussionen im Bereich der Bibelübersetzung, die das Thema noch einmal beleben, und infolgedessen entwickeln sich ab den 16.Jh. die theoretischen Beiträge in ganz Europa.

Diadori zeigt in ihrer Ausführung über die Geschichte der Übersetzung wie früh einige Aspekte erkannt wurden und sozusagen feste Bestandteile dieses Faches wurden(35).

Dazu gehören:

Am Ende des 18. Jh.s kommt es, so Diadori, zu einem Wendepunkt, der nach George Steiner(36) dem Werk von Tyler (1791) zu verdanken ist.

Die Theorie des Übersetzens wird nicht mehr nur als Begleitung zum Handwerk empfunden, wie dies, laut Steiner, von Cicero bis Tyler der Fall gewesen ist, sondern hat sich zum selbständigen intellektuellen Prozess im Bereich der hermeneutischen Untersuchung entwickelt: somit ist der Weg, der zu einer modernen Theorie führt, endgültig offen.

Einen Aspekt für sich bilden die belles infidèles von Nicolas Pierrot d’Ablancourt(37), der im 17. Jh. die Texte absichtlich manipulierte, um zur Entwicklung der Nationalen Literaturen beizutragen, und die romantischen Züge, infolgedessen der Übersetzer sich angesichts der Betrachtung des Kunstwerkes zum schöpferischen Genie entwickelt(38).

Soviel zur Geschichte…Um zur ursprünglichen Frage zurückzukehren und sich dem Ende zu nähern, muss wiederholt die Frage nach der Lage des heutigen Übersetzers von älteren Texten gestellt werden.

Die Unmöglichkeit, sich mit dem Autor auseinanderzusetzen, schlimmer noch, eine Interpretation des Textes liefern zu müssen, die auch alle früher verfassten berücksichtigen muss, bringt die Gefahr mit sich, sich dem Text auf eine Art und Weise zu nähren, die von zu vielen Ansichten gelenkt ist, und insofern die primäre Kommunikation zwischen Text und Übersetzer beeinflusst und dadurch gefährdet.

Jede Übersetzung hat den Erwartungshorizont des eigenen intendierten Lesers im Blick und erscheint somit dem nächstfolgenden als überholt oder ungenügend.

Es kann nicht geleugnet werden, dass die bereits existierenden Editionen und die verschiedenen Forschungsarbeiten das Werk des Übersetzers beeinflussen.

Hinzu kommt, aufgrund mangelnder Zeit und der fehlenden Bereitschaft, sich mit den Texten zu beschäftigen, die Gefahr, dass nicht aktualisierte Stoffe in Vergessenheit geraten. Ich habe mit Schreck erfahren, dass die meisten Schulbücher in Italien neuerdings eine Paraphrase der Commedia von Dante anbieten, statt, wie gewöhnlich, den Text mit den Erklärungen in den Anmerkungen. Bis vor kurzer Zeit war es noch üblich, den Text mit dem Lehrer zu lesen und sich die Erläuterungen zum Text am Rand zu notieren, aber jene Zeit scheint endgültig zu Ende zu sein, und wir müssen dafür sorgen, dass diese wichtigen Texte weiter gelesen werden.

Und schließlich auch die Tatsache, dass, angesichts der ständigen Trivialisierung von Stoffen, welche zum gemeinsamen europäischen Erbe gehören – wobei ich an ein weites und flexibles, nicht geschlossenes und rigides Konzept von Europa denke - Forscher und Wissenschaftler extrem vorsichtig im Bereich der Aktualisierung geworden sind.

Dennoch, wenn die Texte nicht übersetzt werden, sind sie für viele verloren.

Es ist also wichtig, womöglich die Kette der bereits existierenden Interpretationen zu unterbrechen und wieder von vorne anzufangen, den Text aufmerksam zu lesen und zu entscheiden, welche Aspekte unbedingt wichtig und welche dagegen zweitrangig sind.

Es muss, wo es möglich ist, eine Verbindung mit dem Herausgeber des Textes hergestellt werden, um die Distanz zum Text selbst zu reduzieren und eventuelle Unklarheiten, Zweifel u.s.w. zu klären.

Im Falle einer Reduzierung des Textes muss eine Auswahl getroffen werden, die alle Aspekte berücksichtigt und nicht nur einige bevorzugt(39), denn in der Auswahl der Passage besteht die erste Interpretation, welche, wenn möglich, mit dem Herausgeber besprochen werden soll.

Die Interpretation darf nicht zu weit gehen, der Übersetzter darf sich nicht an die Stelle des Autors setzen.

Die Wahl der Prosa anstelle von Versen in der Übersetzung von Epik liegt dem modernen Leser näher und verursacht eine Freude, welche vielleicht mit der des ursprünglichen Lesers vergleichbar ist(40).

Die Übersetzung des Sir Tristrem von Claire Fennel bietet ein gutes Beispiel. Obwohl sie in Prosa übersetzt, achtet sie sehr auf die Syntax: die kurzen Sätze und der Balladenähnliche Rhythmus sind dem Text treu und erreichen eine Schönheit, welche die Lektüre angenehmen werden lässt, wie aus dem folgenden Beispiel, einer Episode des Leben in dem Wald ersichtlich wird:

Tristrem on an hille stode,
As he biforn hadde mett;
He fond a wele ful gode,
Al white it was, þe grete;
þer to Tristrem zode
and hende Ysonde, þe swete.
Þat was al her fode,
And wilde flesche þai ete
And gras
Sir Tristrem
CCXXVIii (III XIX)(41)

Tristrem sale una collina,
che ha scoperto prima:
trova una bella sorgente,
molto abbondante e chiara.
Là si reca Tristrem,
e la dolce, amabile Ysonde.
È tutto lì il loro cibo,
e mangiano la selvaggina
ed erbe:
non sono mai stati così felici
un anno meno tre settimane

Um die zeitliche Distanz zu unterstreichen ist es möglich, eine moderne Syntax, jedoch bestimmte archaische Wörter zu verwenden, oder von Mal zu Mal zu einem archaischen Satzbau zu greifen(42). Die Wahl der Wörter darf aber nicht von ungefähr sein, Fennel z.B. versucht die ‚Einfachheit’ des Textes wiederzugeben, indem sie auf jeglichen Überfluss verzichtet. Ein wahrer ästhetischer Genuss ist nur bei der Lektüre des Originals möglich, dennoch, eine gute Übersetzung vermittelt den Text weiter, und soll dafür sorgen, dass er auch gelesen wird, und zwar nicht nur von dazu ‚gezwungenen Studenten’.

Es muss also von Fall zu Fall die Wahl getroffen werden, die als die beste, oder als die weniger schmerzhafte erscheint, ohne Loyalität und Respekt für den Text selbst beiseite zu lassen.

Um kurz und bündig zu schließen: ist es nicht besser, loyal das zu vermitteln, was der Text uns sagt, anstatt der Versuchung nachzugehen, eine Kunst nachzuahmen, die uns fremd geworden ist?

Man muss als Übersetzer von älteren Texten auch die eigenen Grenzen erkennen, wir sind zum größten Teil Experten, Forscher, Philologen, zum Teil auch Erzähler, das Schreiben gehört zu unserem Werk, aber wir sind zum größten Teil keine Dichter – vielleicht wäre es angebrachter, Felder zu vermeiden, die uns nicht gehören…

 

Texte

 

Sekundärliteratur

 


Anmerkungen:

1 Im Laufe dieses kurzen Beitrags werde ich weder auf das Verhältnis zwischen Griechisch und Latein, noch auf das zwischen Griechisch, Latein und den anderen Sprachen der Antike eingehen, weil dies eine Behandlung für sich beanspruchen würde. Genauso wenig werde ich die für das Mittelalter bedeutende Unterscheidung zwischen den zwei Typologien von Übersetzungen, zum einen die Vertikale, von dem wichtigen und auch symbolisch geprägten Lateinischen zu den Volksprachen, zum anderen die Horizontale, zwischen den Volkssprachen selbst, beachten, weil dies zu weit führen wurde.
2 Literalsinn, allegorisch-ekklesiologischer Sinn,  tropologisch-moralischer Sinn und anagogisch-eschatologischer Sinn.
3 Vgl. U. Eco,  42006, S. 162
4 Vgl. U. Eco, 42006, S. 162, mit Hinweis auf Wilhelm von Humbold, 1816.
5 Vgl. Auch U. Eco, 42006, S. 15
6 Vgl. A. L. G. de Stäel, in Pietro Giordani, 1816, S. 9-18.
7 Vgl. L. Rega, 2001.
8 Eco behandelt die Fälle, die dem Übersetzter als zweideutig erscheinen können und unterscheidet vier verschiedene Situationen: a. der Ausdruck ist auch im Original zweideutig und wird als solcher von dem ursprünglichen Leser empfunden/verstanden; b. der ursprüngliche Autor hat einen Aufmerksamkeitsfehler begangen, welcher durch die Übersetzung ersichtlich wurde. Wenn der Autor noch am Leben ist, kann es im Gespräch mit dem Übersetzer zu einer  Lösung kommen, es handelt sich um eine Vermittlung; c. der ursprüngliche Autor wollte nicht zweideutig sein, wird aber als solcher von dem Übersetzer empfunden, der seinerseits diesen Aspekt hervorheben möchte: es handelt sich um eine Bereicherung; d. der originale Text ist gewollt zweideutig, der Übersetzer muss nach dem Weg suchen, es zu vermitteln; vgl. U. Eco, 42006, S. 112.
9 Cfr. A. Zantotto, .1995, S. 26 ff. Er warnt mit erstaunlicher Anschaulichkeit vor einer neuen Armut, die im Bereich der Sprachen, vgl. dazu S. 30.
10 Vgl. über die Beziehung zwischen Übersetzung und Hermeneutik U. Eco, 42006, S. 230 und L. Rega, 2001, S. 58.
11 Vgl. U. Eco, 42006, S. 249.
12 Vgl. U. Eco, 42006, S. 213.
13 Nach Goethe sind Stoff und Gehalt übersetzbar, die Form nicht, Vgl. L. Rega, 2001, S. 89, Anm. 23., der Punkt Form im Bereiche von Übersetzung von Kunst wird im Laufe des Beitrages noch einmal behandelt.
14 Vgl. L. Rega, 2001, S. 58.
15 Ähnlich U. Eco, 42006, S. 93, auch weil der Übersetzer mit den Erwartungen des Herausgebers und des Verlags zurechtkommen soll und von Fall zu Fall schwierige Entscheidungen treffen muss.
16 Vgl. U. Eco, 42006, S. 192.
17 Cfr. Folena, 1991, S. 11, mit Bezug auf Roncaglia, 1965. Wir kennen wahrscheinlich alle noch aus der Schulzeit den Drang schnell erfahren zu wollen, was in einem Roman geschieht, so dass man alle Beschreibungen und -schlimmer noch-, alle Autorkommentare übersprang…ich denke gerade an Werke wie Die Verlobten von Manzoni oder Krieg und Frieden von Tolstoi…
18 Vgl. auch U. Eco, 42006, S. 171.
19 Vgl. U. Eco, 42006, S. 189
20 Über die Bedeutung von scham vgl. D. Kartschoke, 1988, S.183 ff.
21 Über den Wandel in der Bedeutung von bescheidenheit s.D. Kartschoke, 1988, S. 186 f.
22 Le Goff, 1982, S. 147 ff. unterstreicht die volkssprachliche, mündliche Tradition der Sermonen und der damit eng verbundenen Exempla Tradition, obgleich uns in den meisten Fällen lateinisch geschriebene Texte erhalten geblieben sind.
23 Vgl. Schönbach, 1890, S. 26 ff.
24 Vgl. Folena, 1991, S. 24, mit Bezug auf: L. Dedeck-Héry, (Hrsg) Boethius De consolatione, by Jean de Meun, in Medieval Studies, XIV (1952), S. 165-275.
25 Vgl Folena, 1991, S. 29 ff., mit Bezug auf De vulgari eloquentia, II,IV; Die Meinung wird auch von Goethe vertreten, Vgl. Rega, 2001, S. 89, Anm. 23; ähnlich Andrea Zanzotto, italienischer Dichter der Gegenwart, welcher seine Werke in seiner eigentlichen Muttersprache, der venetischen, verfasst, vgl. A. Zanzotto, 1995, S. 7.
26 Vgl. Folena, 1991, S. 29, es handelt sich um die Querelle zwischen Volkssprache und Latein in Dante, Convivio I, VII
27 Im Prolog äußert er sich ausdrücklicher darüber; er meint, dass viele Autoren die Geschichte von Tristan und Isolden erzählt haben, aber nur einige haben es korrekt verstanden und wiedergegeben, vgl. vv. 131-134. Alle Zitate aus dem Tristan aus der Ausgabe von R. Krohn.
2829 Vgl. P. Mazzadi, 2000, S. 184 ff.
Vgl. P. Mazzadi, 2000, S. 180.
30 Vgl. Galfred von Vinsauf in E. Faral, 1958, S. 194-262.
31 Während sich in Frankreich des 12. und 13. Jh.s eine rege ars poetica entwickelte, blieb für Italien die ars dictandi ausschlaggebend. Dies erklärt einerseits warum die dichterische Produktion lange auf sich warten ließ, zum anderen warum Italien eine führende Position in Bezug auf die Technik der Übersetzung beibehielt: um die ars dictandi erweitern zu können, benötigte man die Übersetzungen der Klassiker, der Rhetorik und der Werke Ciceros, vgl. dazu Folena, 1991, S. 33.
32 Vgl. Folena, 1991, S. 55.
33 Bruni (Arezzo 1370, Florenz 1444), Philosoph, Humanist und Literat, war tätig in Florenz in der ersten Hälfte des 15. Jh.s.
34 Vgl. Folena, 1991, S. 62-69. Folena unterstreicht die große Rolle des italienischen Humanismus im Bereich der Reflexion über die Kunst der Übersetzung und kritisiert die Position Coserius, welcher die Studien aus dem italienischen Raum ignoriert und die modernen Ansätze der Kunst der Übersetzung später datiert, vgl. S. 70. ab S. 71 verfasst und synthetisiert er die Geschichte der Begriffe Übersetzen, Übersetzer und Dolmetscher in den europäischen Varianten, welche sich durch die Arbeit von Bruni durchsetzten.
35 P. Diadori, www.siena-art.com/diadori (letzter Zugriff 5.5.2010)
36 Vgl. G. Steiner, 1975.
37 Dieser Ausdruck wurde zum ersten Mal von dem französischen Schriftsteller und Philosoph Gilles Ménage (1613-1692) verwendet, als er das Werk von d’Ablancourt (1606-1664) kommentierte.
38 Vgl. P. Disdori, www.siena-art.com/diadori (letzter Zugriff 5.5.2010)
39 Im Fall von Tristan soll nicht nur die Liebesgeschichte, sondern auch das kriegerische Dasein dargestellt werden.
40 Vgl. L. Rega, 2001, S. 67.
41 Zitate aus dem Sir Tristrem aus der Ausgabe von C. Fennell.
42 Vgl. L. Rega, 2001, S. 78.

2.5. Übersetzung und Kulturtransfer

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


TRANS
 Inhalt | Table of Contents | Contenu  17 Nr.
INST

For quotation purposes:
Patrizia Mazzadi: Übersetzen aus dem Mittelhochdeutsch: eine Herausforderung? - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/2-5/2-5_mazzadi17.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-05-05