TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr.
März 2010

Sektion 2.5. Übersetzung und Kulturtransfer
SektionsleiterInnen | Section Chairs:
Aleya Khattab (Universität Kairo) und Ernest W. B. Hess-Lüttich (Universität Bern)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Die Siebenschläfer-Legende bei Goethe und Al-Hakim  

Norbert Mecklenburg (Universität Köln, Deutschland) [BIO]

Email: norbert.mecklenburg@uni-koeln.de

 

Meinem Lehrer Erich Trunz in dankbarem Gedenken

Die Siebenschläfer sind die Helden einer sehr alten christlichen Heiligenlegende, deren Handlungsort das spätantike und frühchristliche Ephesus ist. Diese Heiligen werden gleichfalls im Islam verehrt. Denn der Koran handelt von ihnen in einer Sure, die unter Muslimen sehr bekannt ist, weil sie zum Freitagsgebet gehört. Auf seine eigene Weise hat auch Goethe, der weder Christ noch Muslim war, diese Siebenschläfer verehrt, indem er ihnen das schönste literarische Denkmal setzte: Er dichtete ihre Legende einer muslimischen Quelle nach und nahm das Gedicht in seinen West-östlichen Divan auf.(1)

Das Besondere dieser poetischen Transformation bestehtdarin, dass Goethe hier einen bereits mehrfach interkulturellen Stoff, der nicht nur christliche und islamische, sondern auch antike und jüdische Komponenten hat, noch einmal interkulturell, nämlich in seinem Divan-Sinn ‚west-östlich’ bearbeitet, d. h. überkonfessionell, humanistisch und universalistisch umgeformt hat. Dabei entsprach er seiner später in einem Gespräch mit Eckermann (2. Mai 1824) formulierten Maxime, ein religiöser Stoff könne ein guter Gegenstand für die Kunst sein, „wenn er allgemein menschlich ist“.

Im Folgenden soll dieses bewundernswerte interkulturelle poetische Experiment Goethes näher betrachtet werden. Nach Hinweisen auf Entstehung und Überlieferung der Legende wird sein Gedicht Siebenschläfer, das von den Divan-Forschern bisher verhältnismäßig wenig beachtet worden ist, analysiert und interpretiert. Seine künstlerische und geistige Leistung tritt indirekt durch einen sich anschließenden Vergleich mit der dramatischen Bearbeitung der Siebenschläfer-Legende durch den modernen ägyptischen Autor Al-Hakim hervor.  

Die Legende mit dem Titel Siebenschläfer ist das vorletzte Gedicht im Divan. An diesem Text lässt sich Goethes interkulturelle poetische Praxis mit einem ihrer Grundzüge gut beobachten. Dieser Grundzug findet sich nicht nur im Divan, sondern auch im übrigen Werk: Durch poetisches Nachbilden und Umbilden eines vorgegebenen Stoffes aus einem fremden Kulturkreis hebt der Autor einerseits dessen Alterität hervor, legt andererseits einen transkulturellen Kern in ihm bloß. Diesen sieht Goethe in religiösen Überlieferungen als deren allgemein menschlichen Gehalt. So realisiert sich sein interkultureller Ansatz hier als inter- und transreligiöser Ansatz. In ähnlicher Weise hat er auch hinduistische Legenden umgeschrieben.(2)

 

Entstehung und Überlieferung der Legende

Die bereits interkulturelle Tradition der Siebenschläfer-Legende besteht darin, dass sie gleichermaßen islamischer wie christlicher Frömmigkeit zugehört. Ursprünglich sind die Siebenschläfer Heilige aus dem frühen Christentum der römischen Kaiserzeit. Selbst im protestantischen Raum kennt man sie wenigstens insofern, als sie im Kalender vorkommen: Der 27. Juni ist ihr Gedenktag.  In den Acta Sanctorum  erscheint ihre Geschichte kanonisiert als Parabel zum Dogma der Auferstehung des Leibes. In dieser Form findet sie sich im Mittelalter etwa in der Legenda aurea oder in der Kaiserchronik.

Im Islam handelt die Legende natürlich nicht von christlichen, sondern von muslimischen bzw. protomuslimischen Frommen. Ihre Bedeutung ist hier gleichfalls kanonisiert, dadurch nämlich, dass die von den Gläubigen besonders verehrte Sure 18, Die Höhle, von ihnen spricht. Dort steht sie allerdings im Kontext scharfer antichristlicher, implizit auch antijüdischer Religionspolemik. Deren hauptsächlicher Angriffspunkt ist der in islamischer Sicht mangelhafte Monotheismus des Christentums mit seinem Dogma von Christus als Gottessohn. Es gibt dann noch Nebenpunkte wie die richtige Anzahl der Schläfer oder der Schlafjahre – Punkte, deren Strittigkeit einerseits auf die naive, volkstümliche Simplizität dieser Legende hinweist, andererseits darauf, dass man sie von früh an überlieferte, indem man sie variierend umdichtete.

In Dogmenstreit und religiöser Konkurrenz liegt der Ursprung schon der christlichen Siebenschläfer-Legende, egal, was man einstmals in einer Höhle bei Ephesus gesehen oder gefunden haben mag, d. h. ob die Geschichte einen historischen Ursprung hat. Ihre ältesten Zeugnisse finden sich im 6. Jahrhundert zuerst bei dem Syrer Jakobos von Sarug und dann, prägend für die westliche Legendenüberlieferung, bei Gregor von Tours. Das zeigt, wie eng damals die Verbindungen zwischen christlichem Orient und Okzident noch waren. Die Erfindung der Legende hat sicher etwas mit der Imagepflege der Bischofs- und Konzilsstadt Ephesus zu tun: Im 5. Jahrhundert präsentierte sie sich mitsamt ihren die Pilger anziehenden heiligen Stätten als Stadt des rechten Glaubens an die allgemeine Auferstehung, die von den ‚Ketzern’ bestritten wurde.

Die Version der Legenda aurea macht diese Propagandafunktion der Legende, die dann auch an ihrer muslimischen Version haften geblieben ist, überdeutlich.(3) Legendenautoren sind Kompilatoren. Der erste Siebenschläfer-Erzähler, gut denkbar: ein Ephesier aus der Zeit von Theodosius II., kompilierte vermutlich in griechischer Sprache. Er verknüpfte mit einem Wunderbericht aus seiner eigenen Zeit, der die Auferstehungslehre propagieren soll, das ca. 200 Jahre zurückliegende historische Faktum der Christenverfolgung unter dem römischen Kaiser Decius und das beliebte antike Sagenmotiv vom langen Schlaf. Goethe hatte es kurze Zeit vor seiner Nachdichtung der Siebenschläfer in Des Epimenides Erwachen bearbeitet. Durch syrische Übersetzungen verbreitete sich die Legende auch im arabischen Raum, wo Mohammed sie dann kennen lernte, wahrscheinlich mündlich durch Christen oder Juden.

Hier nun islamisierte man die christliche Version nicht nur, sondern erweiterte sie auch: um Märchenhaft-Erbauliches wie den mitschlafenden Hirtenhund und um alte Motive aus jüdischer und orientalischer Überlieferung: Das herrscherkritische Fliegenmotiv (5-14) kommt wohl aus der Nimrod-Sage, wie sie sich in Saadis Gulistan findet, das Goethe für seine Divan-Studien Anfang 1815 las. Das Motiv der zum reinen Monotheismus führenden Anschauung der gottgeschaffenen Natur gehört zur Abraham-Sage. Es war ein Lieblingsmotiv schon des jungen Goethe, wie u. a. eines seiner Mahomet-Fragmente zeigt. Aus Decius wird Dekianous, ein König und Statthalter eines persischen Kaisers in Kleinasien. Die ganze Hofszene ist zweifellos auch nach dem alttestamentlichen Buch Daniel modelliert. Dessen erstes Kapitel lässt in sehr ähnlicher Konfliktkonstellation gleichfalls junge, schöne und intelligente Günstlinge des Herrschers, hier des babylonischen Nebukadnezar, auftreten. Die Figur des Jamblika könnte derjenigen Daniels nachgebildet sein. Durch weitere Kompilation und Aufschwellung mit allen möglichen Stoffen machten die arabischen Legendenschreiber aus den Siebenschläfern dann „das reinste Heldenepos“.(4)

 

Goethes poetische  Bearbeitung

Eine sehr frühe muslimische Version dieser Art hat Goethe in englischer Übersetzung gelesen und bearbeitet. Seine Bearbeitung wird nun durch Folgendes interessant: Einerseits ist ihr Bezugstext eben nicht etwa eine christliche, sondern – gemäß Divan-spezifischem Interesse an orientalischer Alterität – eine alte muslimische Version der Legende. Was zog Goethe daran an? Andererseits erwartet man von ihm natürlich mit Recht eine kritische Distanz zur Gattung der Legende als religiöse Tendenzliteratur – nicht als volkstümliche Epik, die er vielmehr schätzte und mehrfach auch für die eigene Lyrik nutzte – und ebenso eine kritische Distanz gegenüber aller Religionspolemik. Wie erfüllt der Text diese Erwartung? Wie werden kulturelle Alterität, Interreligiosität und Kritik in Goethes Siebenschläfern poetisch ‚inszeniert’? Das soll die Leitfrage der folgenden Interpretation sein.

Goethe fand seine Vorlage in einer arabischen Legendensammlung, die dem frühislamischen Autor Kab al-Ahbar, († 652 oder 653) zugeschrieben wurde, in englischer Prosaübersetzung von J. C. Rich, der britischer Vertreter in Bagdad war, im dritten Band von Hammers Fundgruben des Orients.(5) Seine balladenförmige Bearbeitung dieser Version hat folgenden Inhalt: Sechs privilegierte junge Männer am Kaiserhof von Ephesus fühlen sich durch das unwürdige Gebaren des Kaisers, der sich als Gott verehren lässt, in ihrem denkend erworbenen Monotheismus abgestoßen. Darum kehren sie sich vom Hof ab. Aus Furcht vor Verfolgung durch den erzürnten Herrscher lassen sie sich dann von einem Schäfer in ein Höhlenversteck führen. Als der Kaiser sie – zusammen mit dem Schäfer und seinem Hund – dort aufspüren und zur Strafe einmauern lässt, nimmt der Engel Gottes sich ihrer an und bewahrt die Leiber der sanft Schlafenden gesund und jung. Nach einer sehr langen Zeit wachen sie plötzlich auf, und einer von ihnen, Jamblika, geht um Nahrung in die Stadt. Diese kommt ihm nun sehr fremd vor, denn inzwischen ehrt sie längst „die Lehre des Propheten Jesus“ (55 ff.), d. h. im Römischen Reich ist das Christentum Staatsreligion geworden. Durch ein mitgenommenes Goldstück und einen Schatz, dessen Ort im Palast er kennt und zeigen kann, weist sich der junge Mann wunderbar als Urahn seiner Sippe aus und kehrt mit großem Gefolge zur Höhle zurück. Kaum hat er sie aber betreten, da verschließt der Engel Gabriel sie hinter ihm und entrückt alle Sieben samt Hund ins Paradies.

In Goethes Vorlage wird diese Wundergeschichte auf 35 Folioseiten weitschweifig und unbeholfen, voller Übertreibungen und religiöser Sentimentalitäten dargeboten. Durch Kürzung, Konzentration, Prägnanz, Verwandlung des Erbaulich-Wunderhaften ins Anschaulich-Humorvolle, kurz gesagt: durch seine überragende Erzählkunst, hat er daraus eine Ballade von – je nach Textwiedergabe – neun bis elf ungleich langen Strophen in vierhebigen reimlosen Trochäen gemacht.(6) Sie ist in Versform und verknappendem Stil dem epischen Divangedicht Der Winter und Timur oder der späteren Paria-Legende verwandt.(7) Balladenhaft, kurzepisch ist auch der rasche Wechsel von Bericht und Figurenrede, von Szenen und Schauplätzen, zwischen Ephesus und der Felsenhöhle. Inhaltlich ist die Ballade aus zwei längeren Hauptteilen und einem kürzeren Zwischenteil aufgebaut, der den großen Zeitabstand zwischen jenen erklärt und überbrückt. Die Hauptteile sind jeweils in drei Unterabschnitte gegliedert, wobei im zweiten Hauptteil der zweite Unterabschnitt seinerseits aus drei Szenen besteht:

  1. Flucht und Strafe
    1. Das Fluchtmotiv: der ungöttliche Kaiser
    2. Aufnahme durch den Schäfer in der Felsenhöhle
    3. Einmauerung als Strafe des Kaisers
  2. Wunderhafter Dauerschlaf (präsentiert als Bericht des Engels vor Gott)
  3. Nach dem Erwachen sehr viele Jahre später
    1. Jamblikas Entschluß, nach Ephesus zu gehen
    2. Jamblika in Ephesus
      1. Beim Bäcker
      2. Beim König
      3. Wundererweis, vor allem durch Schatzfund
    3. Jamblikas Rückkehr zur Höhle und Entrückung der Sieben ins Paradies.

Goethe hat seiner balladischen Version der Legende durch rekurrente Motive mehr Zusammenhalt gegeben. Der strafenden Verschließung der Höhle durch den Kaiser am Ende des ersten Teils (32) entspricht die wunderhafte Verschließung am Ende des dritten (98). Wie der Engel Gottes, Gabriel, die Schläfer im Mittelteil beschützt und erhält, so entrückt er sie am Ende. Dreimal wird, als kleines Nebenmotiv, der Hund des Schäfers erwähnt (23-27, 44 f., 93). Dabei streicht Goethe aus seiner Vorlage das grobe Wunder eines Hundes, der spricht und den einen Gott bekennt, behält aber liebevoll ein kleines Sonderwunder bei: Gabriel heilt seine zerschmetterte Vorderpfote. Damit tritt – vom Divan-Zyklus und Buch des Paradieses her gesehen – eines der „begünstigten Tiere“, nämlich das „Hündlein das den Siebenschlaf/ So treulich mitgeschlafen“,(8) erneut auf, diesmal mit seiner vollständigen Geschichte. Das wichtigste rekurrente Motiv des Textes aber ist Gott selbst, weil es einen gedanklichen Zusammenhang stiftet: von der Konfrontation des lächerlichen Gottkaisers mit der Idee des einen Schöpfergottes (3 ff., 14 ff.) über das Zwischenspiel im Himmel, „vor Gottes Thron“ (35), bis zur Vollendung des Wunders „gemäß dem Willen Gottes“ (96).

Diese poetischen Formelemente lassen episch verschmelzen, was in der Vorlage als ziemlich gewaltsame Verknüpfung von heterogenen Formen und Motiven erscheint. Goethes leichthändig anmutende Integration dieses Heterogenen ist ein gar nicht so leichtes Kunststück. Denn bei ihm folgt auf einen szenisch eingebetteten religiösen Weisheitsspruch (I 1) eine Rettungsgeschichte (I 2) und auf diese, eingerahmt durch die beiden Teile der eigentlichen Wundergeschichte (II: Dauerschlaf, III 3: Entrückung), eine Schatzauffindungs- und Wiedererkennungsgeschichte (III 2 c), wie sie auch in Goethes Ballade vom vertriebenen und heimkehrenden Grafen vorkommt.

Poetisch integrierend wirkt vor allem die Kombination eines naiven Grundtons mit einem ironischen Unterton als Begleitstimme. Der Grundton ist der eines ‚didaktischen Realismus’, wie Goethe ihn an Hans Sachs hervorhob, und eines religiösen Humors. Dieser ist im ersten Teil zu satirisch-herrschaftskritischer Komik zugespitzt: Der Gottkaiser lässt sich beim Essen von einer Fliege lächerlich irritieren. Dieser Humor scheut vor drastischer Wunderausmalung: die Leiber, die wie beim Obstlagern gewendet werden,(9) ebensowenig wie vor Rührend-Sentimentalem zurück: der treue Schäferhund als Schlaf-, Wunder- und Paradiesgenosse. Diesen naiven Grundton begleitet ein Unterton lächelnder Ironie, wie sie Goethes intertextuelle Spiele oft charakterisiert. Hier ist das eine poetische und zugleich religiöse Ironie.

Diese Ironie gegenüber dem Stoff  und der Art von Frömmigkeit, die seine Überlieferung bewirkt hat, fließt in Goethes Erzählhaltung und in seine Neuinszenierung der alten Geschichte ein. Die ironische Distanz erscheint paradoxerweise dadurch noch größer, dass der Erzähler das Wundergeschehen in keiner Weise psychologisiert oder rationalisiert, sondern getreu reproduziert und geradezu liebevoll nacherzählt: Naiver Realismus führt naiven Wunderglauben vor. Dabei hat Goethe allerdings das allzu biblische Alter der Nachkommen Jamblikas – sein Enkel soll 170 Jahre alt sein! – weggelassen. Weil das Wunder eines den Leib blühend erhaltenden Schlafs wenigstens entfernte Ähnlichkeit mit natürlichen Wundern wie dem von Falun1809 hat, auf das sich Hebels Kalendergeschichte Unverhofften Wiedersehen bezieht, mag es dem Naturforscher Goethe weniger anstößig erschienen sein als sonstige Legendenwunder.

 

Intentionen der Umdeutung

Selbst die wichtigste Veränderung Goethes gegenüber seiner Quelle ist nur eine graduelle: Er entkonfessionalisiert die Geschichte noch mehr. Schon in der Vorlage erscheint die koranische Vereinnahmung der christlichen Legende für islamische Polemik und Apologetik ebenso verwischt wie deren historischer Hintergrund, die Christenverfolgungen unter Decius (249-251 n. Chr.), das Konzil von Ephesus unter Theodosius II. (434 n. Chr.). Goethe unterstreicht zwar die muslimische Sicht, indem er das christlich gewordene Ephesus als Stadt vorstellt, welche die Lehre „des Propheten Jesus“ verehrt. Seine eigene Auffassung von Jesus entspricht ja „weitgehend derjenigen der Muslime“,(10) übrigens auch derjenigen heutiger nicht christlich befangener Jesus-Forscher. Aber er vermeidet vollständig jeden religionspolemischen Ton, wie er die Koran-Version der Legende prägt, in der nachdrücklich eingeschärft wird, dass Allah keinen Sohn (gezeugt) haben dürfe. Nicht ein spezifisch christliches oder muslimisches Bekenntnis der Männer bildet Anlass und Motiv für ihre Flucht vom Hof, sondern allein ihr reiner, gewissermaßen philosophischer Monotheismus. Diesen leiten sie positiv aus der Anschauung der großen, von Gott geschaffenen Natur ab, negativ aus Beobachtung des lächerlichen, einer kleinen Fliege nicht Herr werdenden Herrschers mit der allzumenschlichen Essensfreude, der sich als Gott verehren lassen möchte.

Natürlich bleibt Goethes Siebenschläfer-Version der muslimischen auch dadurch näher als der christlichen, dass Monotheismus vom Islam reiner, zumindest unstrittiger verkörpert wird als vom Christentum. Das gehört zu den Grundvoraussetzungen von Goethes lebenslangem Interesse am Islam. Schon im ersten Mahomet-Dramenfragment des jungen Autors, Teilen kann ich euch nicht, einem Monolog des jungen Mohammed in Odenform, gelangt der – nach dem Muster Abrahams gezeichnete –  Prophet denkend und die Natur betrachtend vom Gestirnglauben zu reinerer Gotteserkenntnis und wird damit seinerseits das Muster eines allgemeinen religiösen Fortschritts zum Monotheismus.(11) Und in dem Divan-Nachlassgedicht Süßes Kind, die Perlenreihen , das in denselben Monaten entstand wie Siebenschläfer, werden Abraham, Moses, David, Jesus und Mohammed als die religiösen Vordenker des Monotheismus aufgereiht und gepriesen.(12)

Solche Repräsentanten einer reinen Gottesverehrung stellt Goethe, der hier in der Rolle eines muslimischen Legendenerzählers, aber zugleich mit einer überkonfessionellen, inter- und transreligiösen Intention spricht, auch mit den sieben Schläfern heraus.(13) Hätte aber für diese Intention das Anfangsstück der in der Quelle sehr langatmigen Legende nicht ausgereicht, dessen Kern ein prägnantes Apophthegma gegen den spätantiken religiösen Kaiserkult bildet? Was konnte Goethe an der weiteren langen Wundergeschichte finden, dass er sie so vollständig und getreu nacherzählte? Die Position des Gedichts im Kontext des Zyklus, insbesondere im Buch des Paradieses, ist zwar markant und charakteristisch: Den hochfliegenden Ton der Paradiesphantasien und -mysterien löst – vor dem darauf direkt folgenden lyrischen Schlusswort des Dichters – herabstimmend eine einfache Wundergeschichte ab, in der das Paradiesmotiv nur mehr den Ausklang bildet. Aber da Goethe das Gedicht Siebenschläfer bereits vor der Komposition des Chuld Nameh geschrieben hat, muss die Legende, unabhängig von ihrem zyklischen Stellenwert, ihr Eigengewicht haben. Worin kann es bestehen?

Erich Trunz gibt darauf die folgende Antwort: „Die Erzählung ist Sinnbild für das Heilige mitten in der irdischen Welt und passt darum in das Buch des Paradieses, das die Beziehung beider Welten zum Gegenstand hat.“ (14) Diese Deutungsformel wird zwar dem Zykluskontext gerecht, aber den Gehalt der Legende selbst droht sie ins unverbindlich Erbauliche zu entleeren. Denn worin genau bestünde hier, außer in dem ebenso trivialen wie surrealen Wunder, „das Heilige“? Genauer, so meine ich, trifft auch auf dieses Gedicht des Buches des Paradieses Goethes eigene Formel vom „fröhlichen Umtausch irdischer Glückseligkeit mit der himmlischen“ zu, die er für das letzte Divan-Buch prägte.(15) Denn in dieser Formel ist auch die glückliche weltliche Ausstattung und Stellung der vom Kaiser geliebten jungen Männer festgehalten, die das Wunder dann in ihrer jugendlichen Schönheit und freimütigen Geistigkeit ‚verewigt’, und zwar ganz ohne Märtyrerleiden, Opfer, selbstloses Guthandeln wie in sonstigen Heiligenlegenden. Jedenfalls haben diese jungen, feinen und klugen Herren nichts von religiösen Fundamentalisten an sich, eher etwas von privilegierten Snobs, die über den groben Soldatenkaiser niedriger und provinzieller Herkunft – Decius kam aus dem Balkan – zu spotten wagen, auf hohem Niveau, versteht sich.

Ephesus war in der Kaiserzeit die bedeutendste Metropole in Kleinasien, eine der glänzendsten hellenistischen Großstädte. Wenn Goethe seine jungen ephesischen Intellektuellen als Monotheisten sozusagen aus reiner Vernunft stilisiert, dann verfälscht er ihr christliches Bekennertum keineswegs, sondern entspricht sehr genau der geistes- und religionsgeschichtlichen Situation der Kaiserzeit. In ihr hatte sich monotheistisches Denken durch den Einfluss der griechischen Aufklärung, insbesondere der Stoa, weithin durchgesetzt. Radikale Aufklärer wie die Sophisten, namentlich Kritias, hatten sogar Religion als solche als Herrschaftsideologie entlarvt. Wenn philosophische Aufklärung auch auf relativ kleine Kreise beschränkt blieb, so war die Tendenz zum Monotheismus durch den Kult des Sol Invictus, des Sonnengottes, oder des Theos Hypsistos, des höchsten Gottes, sehr weit verbreitet. Goethe selbst hat sich einmal, „in Ernst und Scherz“, also mit der ihm eigenen religiösen Ironie, zur religiösen Sekte der „Hypsistarier“ bekannt, die im 4. Jahrhundert, während die sieben Monotheisten aus Ephesus noch in ihrer Höhle schliefen, in Kappadokien lebten.(16) Die christlichen Sekten hatten also vermutlich sogar einige Mühe, ihre Dogmen nicht nur gegen Polytheismus und Kaiserkult, sondern auch gegen die reineren monotheistischen Tendenzen in der Spätantike durchzusetzen.(17)

Der römische Kaiserkult, in Asien intensiver betrieben als im Westen des Reiches, verlangte, den regierenden Kaiser als Gott zu verehren und ihm Opfer zu bringen. Die Christen kannten hier ebenso wie die Juden keinen Kompromiss. So wurden sie grausam verfolgt. Erst im dritten Jahrhundert gestaltete sich die politische Lage für sie günstiger. Unter Severus Alexander gab es an seinem Kaiserhof zahlreiche Christen. Kaiser Philippus Arabs war sogar besonders christenfreundlich. Sein Nachfolger Decius dagegen fiel aus Gründen staatlicher Einheitsideologie in religiösen Kaiserkult und Christenverfolgung zurück. Dieser Rückfall musste privilegierte Christen, Monotheisten und freie Geister hart treffen. Das ist die historische Situation, in der wir uns die Jünglinge von Ephesus etwa so denken können, wie sie sich auch Goethe, auf dem Stand seiner Kenntnis der Spätantike, gedacht haben dürfte.

Sind die Siebenschläfer Sinnbild in einem Goetheschen Sinn, dann wohl weniger für „das Heilige“ als für das Wunder, dass Geistig-Schönes Zeiten überdauern und Kulturgrenzen überschreiten kann. In Goethes Version der Legende verkörpern sie mit dem Ernst religiösen Bekennermuts, sei dieser nun christlicher, muslimischer oder hypsistarischer Provenienz, zugleich die Schönheit freier Geister. Somit liegt nur der naiv-epische, legendenhafte Schwerpunkt am Ende des Textes, der geistige Schwerpunkt jedoch an seinem Anfang. Die dann folgende Wundergeschichte, versteht man sie sinnbildlich nicht in religiösem, vielmehr in Goethes Sinn, verspricht genau das, was seine erzählende Würdigung der sechs freien Geister von Ephesus einlöst: Verewigung durch lebendig haltendes Eingedenken.

Paradies ist – diesseits christlicher und muslimischer Jenseitsvorstellungen – dort, wo „das Schöne, stets das Neue, / Immer wächst nach allen Seiten“. So lautet die entmythologisierende Formel im Schlussgedicht Gute Nacht.(18) Dieses Gedicht ist nicht nur ein Abschiedswort des Divan-Dichters an seine Lieder und Leser, sondern auch ein deutender Metatext zu Siebenschläfer. Die Bitte des Dichters, wie die Sieben aus Ephesus mit Gabriels Hilfe „frisch und wohlerhalten“ zu bleiben, so ins Paradies bzw. Elysium zu kommen und dort mit „Heroen aller Zeiten“ zusammenzutreffen, lässt sich nicht nur als postmortale Wunschphantasie, sondern auch metonymisch lesen: nämlich in Bezug auf das Fortwirken seiner Werke. „Lieder“ und „Glieder“ reimen sich dann nicht zufällig, sondern sind sogar identisch, wie die beiden Imperative des Gedichtanfangs dann Identisches meinen. Und so wie in diesem Gedicht Gute Nacht Gabriel als Engel der Mnemosyne angerufen wird, der die Glieder bzw. Lieder des Dichters hüten soll, so hat Goethe seinerseits, eben mit der Nachdichtung der Legende von den Siebenschläfern, genau diese Funktion Gabriels ausgeübt und die Geistestat der sechs Ephesier auf seine Weise gegenwärtig gehalten.

Auch durch Goethes Version der Siebenschläfer scheint damit wie durch andere Divan-Gedichte jenes „weltliche Evangelium“ durch, jener transreligiöse und transkulturelle Humanismus, der die Religionen und Kulturen, aus denen dieser Legendenstoff entnommen ist, mit ihrem Besten ins „allgemein Menschliche“ aufhebt.

 

Al-Hakims Siebenschläfer-Drama

Im Folgenden möchte ich Goethes Siebenschläfer mit einer dramatischen Bearbeitung des gleichen Stoffes durch den modernen ägyptischen Autor Al-Hakim vergleichen. Das ist in interkultureller Hinsicht sehr lehrreich, weil dabei die üblichen west-östlichen Polarisierungen auf der Strecke bleiben. Taufik Al-Hakim (1898-1987) gehört zu den Pionieren der modernen Literatur in Ägypten. Berühmt wurde er in den dreißiger Jahren durch Romane und das Theaterstück Ahl al-Kahf, deutsch: ‚Die Leute der Höhle’. Es wurde 1928 geschrieben, 1933 publiziert und zwei Jahre später als erste Produktion des ägyptischen Nationaltheaters aufgeführt. War diese Inszenierung auch ein Misserfolg, so gilt das Drama selbst jedoch als erstes wirkliches Theaterstück der arabischen Literatur.(19) Dieses Werk besteht aus einer freien Bühnenbearbeitung der gleichen Legende, die auch Goethe in seiner Ballade Siebenschläfer umgeschrieben hat. Und wie Goethe hat auch Al-Hakim an die islamische Tradition dieser christlichen Legende angeknüpft – jedenfalls auf den ersten Blick. Denn in der Buchausgabe des Stücks ist gleichsam als Geleitspruch noch vor der Liste der Personen ein Vers der Sure Die Höhle abgedruckt. Dieser vom Autor herausgegriffene Koranvers (18.12) weist auf die phantastisch lange Schlafdauer hin, die zu Kontroversen Anlass gegeben hatte, auf die in der Sure polemisch Bezug genommen wird.

Dieser Schein pietätvollen Gedenkens an verehrte Heilige trügt jedoch. Denn in keiner Weise lässt sich das Werk als dramatische Bearbeitung der Koran-Version dieser Legende oder ihrer muslimischen Tradierung und erbaulichen Ausschmückung verstehen. Es unterhält zu dieser Tradition keinerlei Beziehung, ausgenommen das vorangestellte Koran-Zitat und das Motiv der Schlafdauer von 309 Jahren (Sure 18.25). Religiöses im dogmatischen Sinne, der Ursprung der spätantik-frühchristlichen Siebenschläfer-Legende, spielt weder in christlicher noch in islamischer Gestalt eine nennenswerte Rolle. Ein konturloser christlicher Herrscher, ein bieder frommer Erzieher, einander komisch widersprechende Priester, ein nach Heiligenkult süchtiges Volk werden mit einer ironischen Distanz dargestellt, die weiter geht als die kritische Distanz des Islam gegenüber religiösem Kult um Menschen. Das Stück ist kein religiöses Theater, kein ‚geistliches Spiel’, vielmehr ein geistreiches Spiel mit einem religiösen Stoff.

Stofflich schöpfte Al-Hakim neben islamischer,(20) namentlich der auf Ibn Abbas zurückgehenden Tradition(21) auch aus westlicher Überlieferung der Legende, wie er sie in Gibbons Decline and Fall of the Roman Empire finden konnte. Sein Stück ist jedoch ein hoch abstraktes dramatisches Gedankenexperiment über Liebe und Zeit, Leben und Vergänglichkeit. Aus christlichen Heiligen macht der ägyptische Autor verstörte Überlebende eines Massakers und eines surrealen Schlafwunders. Einen von ihnen erhebt er zusammen mit einer Partnerin, die er ihm gibt, zum Helden einer religiös überhöhten romantischen Liebe nach dem berühmten Motto ‚Liebe ist stärker als der Tod’. Das Dogma der Auferstehung, als deren Präfiguration die sieben Schläfer von Ephesus in die Frömmigkeitsgeschichte eingegangen sind, dient in dem Stück nur als Denkfolie und rhetorisches Mittel zur Inszenierung der Idee einer ‚ewigen’ Liebe zwischen Mann und Frau. Angesichts dieser bewussten, freien Distanz des Stückeschreibers A-Hakim zur religiösen Tradition mag das Koran-Motto, das ein Kernproblem des Stücks mittelbar anspricht, nämlich die Unvorstellbarkeit dieses Wunders, auch eine legitimierende Rolle gespielt haben: als vorbeugender Schutz gegen mögliche Einsprüche islamischer Autoritäten.

Die wichtigsten Änderungen: Al-Hakim hat die Handlung von Ephesus nach Tarsus verlegt. Der erste und letzte Akt des vieraktigen Stücks spielt in der Höhle al Raqim – der Name stammt aus dem Koran (18.9) und bedeutet vielleicht nur ‚Höhle des Schlafes’(22) –, die beiden mittleren in der Säulenhalle des Königspalasts. Um der dramatischen Konzentration willen hat er von der Legende nur die zweite Hälfte gestaltet, das Geschehen nach dem Aufwachen der Langschläfer, und die Gruppe der sechs jungen Höflinge des römischen Kaisers Decius  – bei Al-Hakim: Dikyanos, König von Tarsus – auf zwei reduziert. Mishlinya ist der Verlobte von Dikyanos’ Tochter Priska gewesen, die heimlich zum Christentum übergetreten war und ihn und seinen Freund vor dem drohenden Massaker gewarnt und dadurch gerettet hat. Nun glaubt er ihr in der gleichnamigen und ihr verblüffend ähnlichen Tochter des neuen, christlichen Königs wieder zu begegnen. Marnush ist etwas älter und hat durch die Flucht Frau und Sohn zurückgelassen, die er nun, nach dreihundert Jahren, natürlich nicht mehr findet, nur auf dem Friedhof. Der Schäfer Yamlikha hat nur seinen Hund Qitmir, der wie in der alten Legende das Schlafwunder mitgemacht hat.

In dem Drama treten diesen drei Wunderschläfern, außer Nebenfiguren, drei vom Autor hinzuerfundene Personen gegenüber: der – namenlose – König von Tarsus, seine Tochter Priska und deren alter Erzieher Gallias. Priska ist die wichtigste von ihnen, denn aus ihrer Begegnung mit Mishlinya, die beide zutiefst irritiert, entsteht der Hauptkonflikt des Dramas: Zunächst muss Priska den ihr unverständlichen Liebesbekundungen des hübschen jungen, in Wahrheit über 300 Jahre alten Mannes begegnen, findet dann jedoch plötzlich ihre Traumliebe in ihm und verliebt sich ihrerseits. Als auch in Mishlinya über die mühsame und harte Erkenntnis seines Irrtums und des Zeitabgrundes zwischen ihnen ein neues Liebesverlangen obsiegt, jetzt nicht mehr zu der einstigen, erinnerten, sondern zu der zweiten, realen Priska, ruft sie ihn scheinbar zur Vernunft. Scheinbar, denn in der Liebenden reift, wie der Schluss des Stücks zeigt, die Bereitschaft zu irdischer Entsagung bei gleichzeitiger Erwartung himmlischer Erfüllung. Als die drei Männer in die Höhle zurückgekehrt sind, weil jeder von ihnen erkannt hat, dass er in der anderen, neuen Zeit nicht leben kann, und dort nacheinander freiwillig verhungernd sterben, lässt sich auch Priska in der Höhle einmauern.

Diese romantisch-heroische Liebesgeschichte ist Teil eines Gesamtgeschehens, des Schlafwunders. So phantastisch dieses ist, so realistisch wird es jedoch präsentiert. Dieser Widerspruch, der ans Absurde grenzt und an Pirandello erinnert, dessen Stücke Al-Hakim in Paris gesehen hatte, führt hier dazu, dass die Personen einander oder sich selbst ständig für wahnsinnig, verrückt, übergeschnappt erklären. Vor allem die Verstörung der Männer aus der Höhle über das am eigenen Leib erfahrene und dennoch unbegreifliche Zeitwunder steht neben der Liebeshandlung thematisch im Zentrum des Stücks. Das zeigt sich daran, dass die drei Erwachten auf ihr gemeinsames Problem geradezu typologisch unterschiedlich reagieren. Jeder vertritt sozusagen einen anderen Weltanschauungstyp. Darum ist eine Interpretation des Stücks wenig plausibel, welche die drei Männer, die viel Geschichte verschlafen haben und sich darum in der neuen Welt nicht zurechtfinden, „in ihrer Gesamtheit gleichsam den orientalischen Menschen der heutigen Zeit“ verkörpern sieht.(23) Diese Interpretation verrät allzu durchsichtig ihren westlichen Orientalismus. Sollen sich etwa alle ‚Orientalen’, die mit dem Westen nicht klarkommen, nach dem Vorbild der Männer von Tarsus freiwillig ins Jenseits begeben?

Al-Hakim hat die weltanschauliche Differenz zwischen seinen drei Schläfern gewiss allgemeingültiger gedacht, als es ein Denken nach dem Orient-Okzident-Schema erlaubt, dem er freilich auch zuneigte. Yamlikha, der Schäfer, ein einfacher Mann aus dem Volk, dessen Frömmigkeit von einer religiösen Erweckung geprägt ist, reagiert naiv jenseitsgläubig und intuitiv. Einerseits gehen in seinem Bewusstsein Traum und Leben, Zeitlichkeit und Ewigkeit ohnehin ineinander über; andererseits erkennt er sehr schnell und scharf, dass er in dieser unbegreiflichen Weise und unter diesem fremden Volk, das auch ihn als Fremden betrachtet, nicht leben kann und will. Marnush ist von seinem Christentum enttäuscht, weil der Vorgeschmack von Auferstehung, den er erlebt, ihm eher wie ein Alptraum vorkommt. Im Kern diesseitsorientierter Realist geblieben, der den Verlust seines höchsten Gutes, Frau und Sohn, nicht verwinden kann, glaubt er an ein Weiterleben nach dem Tod nur in der Erinnerung Nachlebender, die er nicht hat, streift darum schließlich alles ab und stirbt: „Nackt, wie ich geboren wurde… Keine Gedanken, keine Gefühle… und kein Glaube…“.

Mishlinya dagegen überspielt als Idealist des Glaubens und der Liebe, dem neuen Leben zugewandt, zunächst alle Zweifel. Sie scheinen ihn dennoch immer wieder einzuholen. Die Vergangenheit, der er und seine Gefährten ohnehin zugehören, droht sein neues Leben zu verschlingen. Kurz vor seinem Tod jedoch ringt er sich heroisch dazu durch, an ein anderes, nicht irdisches neues Leben zu glauben, d. h. an die Auferstehung: Deren glaubt er sich darum gewiss, weil er ein Herz habe, das liebt. Und die Erfahrung, auch von Priska geliebt zu werden, macht ihn glücklich, als er in ihren Armen stirbt. Priska selbst, die ihm aus ebensolchem Heroismus, aus dem festen Glauben, das Herz sei stärker als die Zeit, bald nachsterben wird, eine wahre Heilige der Liebe, bestätigt ihm beim Abschied: „Ja, bis wir uns wieder sehen…“ Sie belehrt Gallias, der sie beim Abschied als Heilige ansprechen möchte, es genüge zu wissen und zu überliefern, dass sie eine Frau ist, die liebte. Aida läßt grüßen.

 

Vergleichende Bewertung

Al-Hakims in vieler Hinsicht bewundernswert moderne Pionierleistung, seine aus dem Siebenschläfer-Motiv herausgesponnene dramatische Parabel, hinterlässt dennoch aus mehreren Gründen einen zwiespältigen Eindruck. Sein systematisches Spiel mit Parallelen zwischen Religion und Liebe dürfte zwar keinem direkten religionskritischen Interesse daran entspringen, einen Glauben an Auferstehung zu säkularisieren; aber um die Liebe zwischen den Geschlechtern als Ideal aufzuwerten, erotisiert er Religiöses und sakralisiert Erotisches – für Orthodoxe ein ketzerisches Ärgernis, für Moderne eine konservative Torheit. Eher konservativ klingt die Parole: Liebe ist stärker als die Zeit (61, 113), eher ketzerisch die andere: Liebe ist stärker als die Religion (82). Wenn aber der Himmel der Religion und der Himmel der Liebe ineinander verschwimmen, wenn die Erwartung der Auferstehung wie eine Verabredung von Verliebten für das nächste Treffen klingt, dann ist das weder konservativ noch ketzerisch, sondern wohl eher ein wenig kitschig zu nennen.

Gedanklich mit geradezu mathematischer Exaktheit durchkonstruiert, dramaturgisch aus alltagssprachlichen Dialogen realistisch modelliert, ist das Drama dennoch ein ‚unmögliches’ Experiment, das sich ungewollt selbst dekonstruiert. Je realistischer das Zeitwunder als Faktum präsentiert wird, desto unvorstellbarer muss es erscheinen, wie den Beteiligten selbst so auch dem Zuschauer: Welche Schauspieler könnten es schaffen, über 300 Jahre alte Menschen glaubwürdig darzustellen? Wie sollte diese Wundergeschichte den Kampf des Menschen gegen die Zeit angemessen symbolisieren können, den Al-Hakim als Thema des Stücks hingestellt hat? Er wollte damit eine typisch ‚ägyptische Tragödie’ gegen die griechische ausspielen, deren Thema der Kampf des Menschen gegen das Schicksal sei.(24) Aber er wollte gleichzeitig ein interkulturelles Experiment machen, nämlich mit den Augen der griechischen Tragödie auf die islamische Mythologie blicken und dadurch „a fusion of the two mentalities and literatures“ herbeiführen.(25) Ob diese Fusion gelungen ist, erscheint fraglich.

Die Liebesromanze zwischen Mishlinya und Priska ist einerseits idealistisch überhöht, andererseits krankt sie an ziemlicher Unreife beider Partner: Der junge Mann stülpt seine Erinnerung an unerfülltes männliches Begehren blind über die Realität, bis er sie endlich zur Kenntnis nehmen muss, um dann sogleich, erstaunlich mühelos, dieses Begehren auf die neue junge Frau zu übertragen. Und diese kippt nach geduldigem, vernünftigem Widerstand gegen das Missverständnis des Werbenden in plötzliche Verliebtheit um, weil er ihre Traumliebe erweckt habe, und opfert sofort ihre Individualität, die er ihr gerade gnädig zugestanden hat. Wie die beiden beim Wiedersehen im Paradies mit Priska I klar kommen werden, die sie dort antreffen müssen, haben sie wohl nicht bedacht. Hat es der Autor?

Am zwiespältigsten wirkt Al-Hakims Stück also letztlich nicht erst durch die Widersprüche seiner experimentellen Machart oder seiner Liebes-Metaphysik, sondern schon durch die unvermeidlichen Folgen der Stoffwahl, durch den gewagten Zugriff auf ein uraltes Relikt christlich-muslimischer Erbaulichkeit. Das weckt die skeptische Frage im Geiste von Marnush, ob aus religiösem Unsinn poetischer Sinn erwachsen kann. Diese Frage kann an beide Autoren gerichtet werden. Aber genau an diesem Punkt wird auch der Unterschied des Schauspiels Ahl al-Kahf zu Goethes Bearbeitung des Legendenstoffs besonders deutlich, die gleichfalls ein gewagtes Experiment ist, wie ich meine, ein rundum gelungenes.

Auf den ersten Blick scheint Al-Hakims Stück mit seinem Ineinanderspielen von erotischer Liebe und Religion dem Geist von Goethes Divan paradoxerweise verwandter zu sein als das gänzlich frauen- und erotiklose Divan-Gedicht Siebenschläfer im Chuld Nameh. Aber während der moderne ägyptische Autor ziemlich unzeitgemäß romantisch eine irdische Liebe, oder genauer: zwei, nämlich die Liebe Mishlinyas zu Priska I und Priska II, so stark idealisiert und entmaterialisiert, dass sie mit himmlischer nahezu zusammenfällt, dient in Goethes Divan die poetische Inszenierung des muslimischen Paradieses als symbolische Darstellung jenes Stücks Paradies auf Erden, das erotische Liebe schaffen kann.

Um den Vergleich beider Siebenschläfer-Bearbeitungen auf das Markanteste hin zuzuspitzen: Die Dramatisierung der Legende durch Al-Hakim, der sich im modernen Theater gut auskannte, ist abstrakt modernistisch, gerade indem sie das Wunder-Geschehen so ‚realistisch’ darstellt, dass es fast absurd anmutet – eben ein ‚unmögliches Experiment’. Entsprechend forciert wirkt es, wie der Autor die archaische Geschichte nicht etwa in der Art von Shaw oder Anouilh mit ironischer Distanz umerzählt, sondern ihr eine unzeitgemäß idealistische Liebes-Metaphysik aufzwingt. Es sei denn, man sähe hierin einen zeitbezogenen kulturreformerischen Impuls, gegen eine traditionell-muslimisch-patriarchalische Auffassung der Beziehung von Mann und Frau gerichtet, ähnlich wie zur gleichen Zeit der türkische Autor Selahattin Batu Goethes Iphigenie zu einer Kritik des Harems umgeschrieben hat.(26) Mit seiner Priska-Erfindung mag der Autor auch seinen Ruf, misogyn zu sein, haben revidieren wollen.

Goethes balladische Bearbeitung dagegen hält sich einerseits viel treuer an die muslimische Quelle und stimmt viel passender den naiven Erzählton der Legende an. Andererseits artikuliert sie zwanglos zwischen den Zeilen gegenüber dem Wunder- und Auferstehungsglauben, dessen Produkt sie reproduziert, ironische Distanz. Ihre Heiligen sind freie Geister und mutige Kritiker religiöser Verbrämung der Arroganz der Macht. Al-Hakim muss einen transkulturellen Anspruch für seine dramatische Parabel von Liebe und Zeit als „eternal story of humanity“  mühsam konstruieren, indem er seine Figuren auf ein motivähnliches japanisches Märchen von „Orashima“ hinweisen lässt (45 f., 116). Zu dieser Geschichte vom Fischer Urashima Tarô, den eine Meeresfee für einen kurzen Lebensabschnitt entführt, der sich dann aber als vier Jahrhunderte lang erweist, gibt es auch in der orientalischen, indischen, europäischen Märchenliteratur Parallelen, insofern ist das Motiv in der Tat transkulturell.(27) Goethe dagegen vertraut unangestrengt auf die Verallgemeinerungsfähigkeit seiner exemplarischen Geschichte von Helden der Aufklärung aus finsterer Zeit. Bei Al-Hakim wird Weiterleben nach dem Tod in Gestalt von Erinnerung und Überlieferung nur bitter zynisch angesprochen, nämlich vom Realisten Marnush: als bloßes Scheinleben zwischen den Deckeln eines Buches (108). Goethe dagegen inszeniert mit seinen Siebenschläfern zugleich die Befähigung der Dichtung zu lebendig haltendem Eingedenken.

 


Anmerkungen:

1 Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan. Studienausgabe, hg. v. Michael Knaupp, Stuttgart 1999, S. 255-258. – Nach dieser Ausgabe (abgekürzt: Knaupp) wird im Folgenden zitiert; Verszahlen werden in Klammern eingefügt.
2 Norbert Mecklenburg: Poetisches Spiel mit kultureller Alterität: Goethes „indische Legende“ Der Gott und die Bajadere. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 33 (2000), S. 107-116; ders.: Propheten und Poeten. Oriente und Religionen in Goethes interkulturellen literarischen Spielen. In: Norbert Mecklenburg: Das Mädchen aus der Fremde. Germanistik als interkulturelle Literaturwissenschaft, München 2008, S. 340-360; hier S. 348-351.
3 Jacobus de Voragine: Die Legenda aurea, übers. v. Richard Benz, 4. Aufl., Heidelberg 1963, S. 545, 548.
4 Michael Huber: Die Wanderlegende von den Siebenschläfern, Leipzig 1910, S. 570. – Vgl. auch Hermann Kandler: Die Bedeutung der Siebenschläfer (Ashab al-kahf) im Islam, Bochum 1994.
5 Zusammenfassung bei Knaupp, S. 883 f.
6 Eine ausführliche vergleichende Analyse  bei: Nicola Tumparoff: Goethe und die Legende, Berlin 1910, S. 152-181.
7 Das hebt Trunz in seinem Divan-Kommentar der Hamburger Ausgabe hervor (Bd. 2, S. 629). 
8 Knaupp, S. 252, v. 15 f.
9 Bereits in der Koran-Sure 18 heißt es in Vers 18: „Wir kehrten sie nach rechts und links“.
10 Katharina Mommsen: Goethe und die arabische Welt, Frankfurt am Main 1988, S. 290.
11 Norbert Mecklenburg: xxx
12 Knaupp, S. 497, v. 13-28; vgl. dazu Norbert Mecklenburg: Der Liebe Lampendochte. ((Fs. Drux)) xxx …. Fs. Drux.
13 Tumparoff: Goethe und die Legende, S. 143.
14 Hamburger Ausgabe, Bd. 2, S. 543.
15 Knaupp, S. 647.
16 Brief an Riemer vom 7. 10 1826; an S. Boisserée vom 22. 3. 1831; vgl. Peter Meinhold: Goethe zur Geschichte des Christentums, Freiburg 1958, S. 278-282.
17 Rudolf Bultmann: Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, Reinbek 1962; Polymnia Athanassiadi / Michael Frede (Hg.): Pagan Monotheism in Late Antiquity, Oxford 1999.
18 Knaupp, S. 259.
19 Introduction. In: Tawfiq al-Hakim: The People of the Cave [Ahl al-Kahf]. A Play in Four Acts, übers. von Mahmoud El Lozy, Kairo 1989, revidierte Ausgabe 1994, S. 5. – Im Folgenden wird aus dem Werk nach dieser Ausgabe zitiert;
20 Kandler: Die Bedeutung der Siebenschläfer, S. 71 f.
21 Denooz (Anm. 24), S. 358.
22 Christoph Luxenberg: Die Syro-Aramäische Lesart des Qur’an, Berlin 2000, S. 65 ff.
23 Kindlers Literatur Lexikon, 1. Aufl., München 1986, Bd. 2, Sp. 846.
24 P. Starkey: Philosophical Themes in Tawfiq al-Hakims Drama. In: Journal of Arabic Literature 8 (1977), S. 136-152; hier S. 137.
25 Farouk Abdel Wahab: Modern Egyptien Drama, Minneapolis 1974, S. 30.
26 Norbert Mecklenburg: Iphigenie und ihre türkische Verwandtschaft. In: Dauer im Wechsel? Goethe und der Deutschunterricht, hg.v. B. Lecke, Frankfurt am Main 2000, S. 451-460.
27 Laurence Denooz: Ahl al-Kahf ou l’influence d’un mythe japonais sur une légende christiano-coranique. In : Journal of Arabic Literature 37 (2006), S. 355-375.

2.5. Übersetzung und Kulturtransfer

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TRANS
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INST

For quotation purposes:
Norbert Mecklenburg: Die Siebenschläfer-Legende bei Goethe und Al-Hakim - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/2-5/2-5_mecklenburg17.htm

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