TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 2.6. Übersetzung als Kulturkontakt. Übersetzungsverfahren am Beispiel von Ingeborg Bachmanns Prosanstitel
SektionsleiterInnen | Section Chairs: Kurt Bartsch (Graz, Österreich) und Larissa Cybenko (Lviv / Lemberg, Ukraine)

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Rezeption und Übersetzung Ingeborg Bachmanns in Korea

Von Anfang der 1970er Jahre bis Ende der 1990er Jahre

Jung-Nam Kim (BIO)

Email: coreagirl@hotmail.com

 

1. Die Imagebildung Bachmanns in der Rezeption der siebziger Jahre

Ingeborg Bachmann war zu Lebzeiten für den koreanischen Leser praktisch unbekannt. Die Bachmannrezeption in Korea beginnt in den siebziger Jahren, als die deutschsprachige Literatur in Korea ganz generell einen Aufschwung erlebt. In diesen Jahren wird der kulturelle Austausch zwischen Korea und Deutschland durch das deutsch-koreanische Handelsabkommen quantitativ verstärkt, dies zeigen die damals vervielfachten germanistischen Einrichtungen an den koreanischen Universitäten, die als eine Voraussetzung für die Rezeption der deutschen Literatur und Sprache betrachtet werden können.(1) Ein Jahr nach ihrem Tod, mit dem im Jahr 1974 übersetzten Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“, kommt Bachmann in die Reichweite des koreanischen Lesepublikums. Dieses Hörspiel wird das literarische Bild Bachmanns in Korea für die nächsten zehn Jahre mehr oder weniger festlegen. Die literarische Gattung „Hörspiel“ selbst war in der ersten Phase der Rezeption in den 7siebziger Jahren in Korea schon nicht mehr sehr aktuell. „Der gute Gott von Manhattan“ wurde dort nie als Hörspiel gesendet und eher als Lesestoff aufgenommen. Was die koreanische Leserschaft an Bachmann bewundert und schätzte, war in erster Linie die Thematik der „Sehnsucht der absoluten Liebe“. Die frühe Imagebildung Bachmanns als Autorin des Hörspiels „Der gute Gott von Manhattan“ spielte weiter kontinuierlich eine wichtige Rolle im Verlauf der Rezeption, vor allem bei dem sog. normalen Lesepublikum.

Die folgenden Sätze auf einer koreanischen Internetseite, mit denen das Hörspiel potenziellen Lesern vorgestellt wird, sind von der koreanischen Schriftstellerin Hyerin Jeon, die das Hörspiel in ihrem Tagebuch Ende der fünfziger Jahre zum ersten Mal erwähnt hat.:

„Liebe (in diesem Hörspiel) ist ein großes Unterfangen des Aufgebens, das heißt, ist Aufgeben des Kontakts mit der Wirklichkeit, Aufgeben des Alltags, freiwilliges Aufgeben des Ichs für die Liebe und den Geliebten und, am Ende, das Aufgeben des Lebens selbst.“(2)

Obwohl die bedeutenden Prosawerke Bachmanns auch in diesen Jahren übersetzt werden, der Roman „Malina“ 1974 und der Erzählband „Das dreißigste Jahr“ 1975, bekamen sie damals nicht viel Aufmerksamkeit. Die Zeit war in dieser ersten Rezeptionsphase noch nicht reif, die Rezeptionsvoraussetzungen waren noch nicht gegeben, die komplexe poetische Sprache in ihren Prosawerken zu verstehen und das literarisches Thema der Sprachskepsis oder Sprachutopie blieb koreanischen Lesern eher fremd.

 

2. Rezeption in den achtziger Jahren: Lyrik-Übersetzungen

Die Lyrik Bachmanns wurde erst zeitversetzt im Jahr 1985 zum erstenmal ins Koreanische übersetzt, gefolgt von Übersetzungen in den Jahren 1986, 1987, also viele Jahre nach ihrer Imagebildung als Autorin des Hörspiels „Der gute Gott von Manhattan“. Die Lyrik wird seitdem nur in einer Auswahl gelesen, die am häufigsten übersetzten Gedichte zeigen wiederum den thematischen Schwerpunkt „Liebe“, diese Tendenz könnte wieder auf das in den Siebzigern schon festgelegte Image von der Autorin zurückzuführen sein. Die populärsten Gedichte Bachmanns findet man sogar auf koreanischen Internetseiten zusammen mit populären koreanischen Gedichten. „Erklär mir, Liebe“ oder „Weiße Tage“ sind gute Beispiele.

Das mangelhafte Interesse für die geschichts- bzw. gesellschaftskritischen Aspekte der Bachmannschen Lyrik hängt wiederum mit dem mangelnden Verständnis für die deutsche und europäische Nachkriegsgeschichte in Korea zusammen. „Die Frankfurter Vorlesungen“ und die meisten Essays von Ingeborg Bachmann sind bis zum heutigen Tag nicht ins Koreanische übersetzt. Die unterschiedliche Geschichtlichkeit lässt den Rezeptionsverlauf unterschiedliche Wege gehen. Im Gegensatz zur Rezeption Bachmanns in nicht deutschsprachigen europäischen Ländern, in der es an erster Stelle um die kritische Einstellung gegenüber der Gesellschaftsordnung und Geschichte geht, war koreanischen Lesern und Leserinnen auf Grund anderer geschichtlicher und gesellschaftlicher Erfahrungen und Einstellungen diese Thematik nicht so leicht zugänglich. Die steigende Anzahl wissenschaftlicher Abhandlungen seit den neunziger Jahren aber zeigt, dass diese Thematik ernsthaft studiert wird und dieser Leseart von Bachmanns Texten mehr Aufmerksamkeit zuteil wird. Diese Art der Rezeption Bachmanns beginnt erst in den neunziger Jahren.

Als ein Bachmannleser ist der koreanische Schriftsteller Mun-Yol Lee zu erwähnen, der mit dem Roman “Jeder, der fällt, hat Flügel“ Ingeborg Bachmann der koreanischen Leserschaft in Erinnerung bringt. Der Roman, der im Jahr 1988 veröffentlicht und kurz darauf verfilmt wurde, erzählt die tragische Liebe zweier Menschen, die sich dem vorgezeichneten Alltag verweigern. Der Inhalt des Romans, in dem zwei Menschen unter der Annahme der Unvereinbarkeit von Liebe und Realität nur ihrem Gefühl folgen und in dem die Protagonistin durch ihr Beharren auf der Priorität der Liebe stirbt, erinnert durchaus an das Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“ von Bachmann. Auf einen Versuch des Mannes, gemeinsam zu einem geregelten Leben zurückzukehren, reagiert die Protagonistin mit folgenden Sätzen:

„... Ich will nicht, dass alles Gute und Schöne auf eine ungewisse Zukunft vertröstet wird, und das Heute nur der Aufschub für das Morgen ist ... wenn du mich liebst, bitte verstehe mich, ich bin zu müde, um auf das spätere Glück zu warten. Ich will heute und jetzt das Leben genießen. Versuch nicht mich mit dem schönen Wort Hoffnung zu überreden“(3)

Nachdem Sie ihre Wohnung in Amerika aufgegeben und sich auf eine lange Europareise geflüchtet haben, landen Sie letztlich in der österreichischen Stadt Graz. Sie ahnen, dass Sie nicht mehr ins normale Leben zurückkehren können. In dieser Situation der Ausweglosigkeit, in der Vorahnung des Todes, sagt die Protagonistin:

„... Erinnerst du dich an ein Gedicht von Bachmann, das wir früher einmal gemeinsam gelesen haben - Jeder, der fällt, hat Flügel -, das Hinunterfallen ist für uns die einzige Chance zu fliegen, selbst wenn der Sturz Tod bedeutet, aber deswegen sehen unsere ausgebreiteten Flügel noch größer und schöner aus, findest du nicht? “(4)

 

3. Die neunziger Jahre: Gesellschaftskritik und Feminismus

Die erzählende Prosa Bachmanns wird in den neunziger Jahren neu ins Koreanische übersetzt, „Das dreißigste Jahr“ und „Malina“ 1992, „Simultan“ 1996. Diese Prosawerke erleben große Resonanz in der koreanischen Literatur und allgemein im Kulturbereich. Jetzt erst werden besonders ihr Roman und ihre Erzählungen sowohl von koreanischen Schriftstellern als auch von GermanistInnen gründlich studiert, d. h., Bachmann wird in ihrer kritischen schriftstellerischen Auseinandersetzung mit dem männerdominierten Gesellschaftssystem entdeckt. Vor allem der Roman „Malina“ spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle. Die Resonanz wird besonders innerhalb der koreanischen Germanistik spürbar, 42 Prozent der literaturwissenschaftlichen Arbeiten über den Roman „Malina“ werden allein in den späten neunziger Jahren verfasst. In der literarischen Diskussion wird Ingeborg Bachmann häufig zitiert, aber nun nicht mehr als die Verfasserin des Hörspiels „Der gute Gott von Manhattan“, sondern als Autorin der genannten Prosawerke.

Die Abhandlung mit dem Thema „Liebe als Kunstwerk“ der koreanischen Germanistin Kyo-Chun Shin, die mit einer Arbeit über Ingeborg Bachmann promoviert hat, zeigt diese Art der Interpretationstendenz in der koreanischen Literaturwelt:

„Das Dasein als Schriftsteller ist für Ingeborg Bachmann ein Kampf gegen all das Vorgegebene, sei es die gesellschaftliche Denkweise bzw. das auf ihr aufgebaute System, die Ordnungsgesetze und Institutionen und darüber hinaus dieses Leben selbst, das all das beinhaltet. Der strenge und kühle Blick und der Spürsinn eines Schriftstellers basieren auf den „Regeln der Liebe“, die ein anderes Leben erträumen lassen, das in einem andern System funktioniert und aus einer anderen inhaltlichen Substanz besteht.“ (5)

Die Stimmungsänderung, die das Interesse für Bücher beeinflusst, ist in Korea sehr dynamisch, denn diese Gesellschaft ist immer auf der Suche nach etwas Neuem. Die rasante Geschwindigkeit dieser Veränderungen ist in Europa so nicht zu erleben. Bestimmte Bücher sind auf dem koreanischen Buchmarkt entweder sehr gefragt oder werden total ignoriert, Bestsellerbücher kommen mit dieser Geschwindigkeit und verschwinden auch rasch. Ingeborg Bachmann gilt nicht als viel gelesen und nach wie vor als schwer zugängliche Autorin, aber als konsequent gelesen.

Bachmanns Literatur erlebt ihre Neuentdeckung vor allem bei der weiblichen Leserschaft. Es lässt sich durchaus sagen, dass Ingeborg Bachmann in diesen Jahren aus koreanischer Sicht als feministische Autorin neu interpretiert wird, als Teil der feministischen Bewegung in Korea. Die feministische Lesart Bachmanns und anderer Autorinnen ist in der koreanische Literatur etwas relativ Neues. Der Schwerpunkt der jüngeren koreanischen Literatur neigt sich sehr stark sozialen Problemen zu, die in der rasant sich verändernden wirtschaftlichen Situation entstehen, der Entfremdung zwischen der jungen und der alten Generation, zwischen oberen und unteren Gesellschafsschichten(6). In solcher Auseinandersetzung gab es keinen Platz für die spezifisch feministischen Fragen, die als grundlegendes Gesellschaftsproblem im europäischen Raum schon vor Jahrzehnten den wissenschaftlich unterstützten Diskurs wachgerufen haben. Die ernsthafte Auseinandersetzung mit Frauenrechten innerhalb der Familie und Gesellschaft beginnt in Korea erst Anfang der Neunziger. Da in dieser Gesellschaft dieses Thema (Feminismus) neu und ungewohnt ist, werden Einflüsse und Anregungen fremdsprachiger Literaturen aufgenommen. Die Postmoderne, die französischen Philosophen Jacques Derrida oder Jacques Lacan sind dafür gute Beispiele. In diesem Milieu wird Bachmann als schreibende Frau und mit ihrer meisterhaft gelungenen gesellschaftskritischen literarischen Leistung als Musterbeispiel betrachtet.

Das folgende Zitat ist von der bekannten koreanischen Lyrikerin und Universitätsprofessorin Hye-Soon Kim:

„Eine deutsche Lyrikerin, Ingeborg Bachmann versucht der Welt, der Gesellschaft und Kultur durch die Weiblichkeit neue Horizonte zu eröffnen ... und die Probleme der Gesellschaft durch Infragestellung mittels weiblicher Sprache zu lösen ... leider bleibt die Thematisierung durch ihren früheren Tod bestehen.“(7)

Der eben zitierte Satz stammt aus einem Gespräch in einer Kultursendung mit dem Thema „Ist der Feminismus in der Literatur notwendig?“, wo hauptsächlich über koreanische Literatur und AutorInnen gesprochen wurde. Das zeigt, dass Ingeborg Bachmann jetzt in Korea als eine allgemein bekannte Autorin etabliert ist, über die man im Fernsehen oder Radio im Zusammenhang mit feministischen Themen häufig zu hören bekommt. Bachmann ist vor allem durch ihren Roman „Malina“ im feministischen koreanischen Milieu bekannt.

Mit der ersten Übersetzung des Romans „Malina“ ins Koreanische im Jahr 1974 war zwar die damalige Verkaufsanzahl mit ca. 10.000 relativ hoch, aber das Buch verschwindet schnell wieder aus den Buchhandlungen. Erst als nach fast zwanzig Jahren das Prosawerk neu übersetzt auf den Buchmarkt kommt, findet es eine verständnisvollere Aufnahme beim koreanischen Lesepublikum. Die komplexe Konstruktion des Romans, die europäische Zeitgeschichte, Psychologie und Philosophie und die in Europa schon lange diskutierte Geschlechterproblematik, die anspruchsvolle Sprache von Bachmann, ermöglichen koreanischen LeserInnen verständlicherweise keinen leichten Zugang.

Die Prosawerke von Bachmann enthalten sehr viele Interpretationsmöglichkeiten, und dieser literarische Reichtum ist es, der geschätzt wird:

„... verwundert nicht, dass Bachmanns Prosa heute von der Literaturwissenschaft zu den faszinierendsten Texten gezählt wird. Für eine feministische Forschung bestätigt sie ihre Geltung immer wieder von neuem dadurch, dass die Lektüre Einsichten in kulturelle Konstruktionen von Geschlecht, Sprache und Macht ermöglicht, die auch in den neunziger Jahren unser ‚Heute’ mitbestimmen.(8)

Bachmanns Literatur ist in Korea auch zwanzig Jahre nach ihrer ersten Vorstellung nicht gealtert, schließlich ist heute auch das Prosawerk zu einem wichtigen und aktuellen Diskussions- und Forschungsthema in Korea geworden.

 


Anmerkungen:

1 Die Anzahl der Germanistik-Institute an koreanischen Universitäten stieg von 4 zu Beginn der siebziger Jahre auf 27 Ende der siebziger Jahre. Unju Son, „Lehramt für deutsche Literatur und Sprache und Germanistik in Korea“, In: Deutsche Literatur, 2000, S. 448-468
2 http://novelpia.x-y.net/ver5/book/book_14.htm
3 Mun-Yol Lee, „추락하는 것은 날개가 있 다 (Jeder, der fällt, hat Flügel), Dshaju Munhaksa Verlag, Seoul, 1988, S. 240
4 Ebda, S. 270
5 Kyo – Chun Shin, „Liebe als Kunstwerk“. In: „Beiträge zur Germanistik“, Seoul, Institut für Germanistik an der Hankuk Universität für Fremdsprache, 1996, S. 142.
6 Byong-ik Kim „Grenzerfahrungen“, Die koreanische Literatur der Gegenwart, Bielefeld, Pentragon, 1997, S. 14ff
7
8 Franziska Frei Gerlach, „Schrift und Geschlecht“, Feministische Entwürfe und Lektüren von Marlen Haushofer, Ingeborg Bachmann und Anne Duden, Berlin, Erich Schmidt Verlag, 1998, S. 232.

2.6. Übersetzung als Kulturkontakt. Übersetzungsverfahren am Beispiel von Ingeborg Bachmanns Prosa

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For quotation purposes:
Jung-Nam Kim: Rezeption und Übersetzung Ingeborg Bachmanns in Korea - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/1-6/2-6_jung-nam17.htm

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