TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. Februar 2010

Sektion 3.10. Komparatistik und Weltliteratur in der Epoche der Globalisierung
Sektionsleiterin | Section Chair: Mária Bieliková (Matej-Bel-Universität Banská Bystrica, Slowakei)

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Welchen Beitrag kann der Konstruktivismus
zur Hebung der literarischen Komparatistik leisten?

Roman Mikuláš (Slowakische Akademie der Wissenschaften - Bratislava/Slowakei) [BIO]

Email: usvlmik@savba.sk

 

Fangen wir mit zwei mittlerweile schon klassischen Zitaten an.

Der Problemkreis, den wir [...] zu erfassen versuchten, hat sich als äußerst umfangreich erwiesen. [...] Wenn wir uns daher immer wieder bemühten, in dieser Fülle von Aufgaben auf Zusammenhänge hinzuweisen, so war dies sicherlich durch die Notwendigkeit gegeben, überhaupt einen Überblick zu gewinnen. Dahinter stand jedoch auch als ein sehr wesentliches Anliegen, auf diese Weise die Kohärenz der Vergleichenden Literaturwissenschaft als einer wissenschaftlichen Disziplin zu beweisen.“(1) 

Dieses einleitende Zitat stammt von Zoran Konstantinović aus seinem im Jahr 1988 erschienenen Buch Vergleichende Literaturwissenschaft. Ein anderes Zitat habe ich aus der berühmten Theorie der Literatur von Wellek und Warren entnommen. Hier heißt es:

Vergleiche zwischen Literaturen neigen dazu, wenn sie nicht die Ganzheit der Nationalliteraturen mit in Betracht ziehen, sich auf äußerliche Probleme der Quellen und Einflüsse, der Verbreitung und des Ruhms zu beschränken.(2)

Diese Aussagen, wenn auch nicht mehr ganz aktuell, sind in mehrfacher Hinsicht symptomatisch, sowohl für das Selbstverständnis der literarischen Komparatistik, wie auch für die Literaturwissenschaft im allgemeinen. Durch die scheinbare bzw. angestrebte Eigenständigkeit der Disziplin wurden in der Komparatistik einige Aspekte eingekapselt bzw. es haben sich hier Verfahren und Fragestellungen verselbständigt und zwar je in Hinblick auf das Moment der Komparation, wodurch sich das Untersuchungsobjekt in seiner Komplexität zwangläufig auffächert. Es scheint, dass das Problem, mit dem sehr hohen Grad an Komplexität der Beobachtungsdimensionen theoretisch fertig zu werden, eine nicht geringzuschätzende Herausforderung für die Komparatistik darstellt, wenn man die Aussage von Konstantinović in diesem Sinne interpretiert. Es geht also um die theoretische Integration einer multidimensionalen Betrachtungsweise in einer Disziplin der Kulturwissenschaften, wo man es mit Erfahrungswirklichkeiten zu tun hat, die in ihrem Prozesscharakter bizarr erscheinen und in ihrer Komplexität selbst schon das Ergebnis kognitiver Leistungen sind und trotzdem jeder kognitiven Leistung vorauseilen.

Auch Sibylle Moser erkennt dies als ein wesentliches Problem:

Die zentrale Frage scheint mir, wie mit dem Anspruch, unterschiedliche Disziplinen in eine kulturwissenschaftliche Theoriebildung zu integrieren, methodologisch umgegangen wird.(3) 

Dabei stehen Kontingenzerfahrungen bei jeder Beobachtungshandlung in den Kulturwissenschaften sozusagen auf der Tagesordnung:

Sinnhafte Selektionen sind [...] kontingent, da stets auch andere Selektionen aus dem Horizont von Möglichkeiten denkbar sind.(4) 

Kontingenzerfahrungen sind also das, was ein Komparatist grundsätzlich und auch theoretisch bewältigen muss. Dazu braucht er eine neue Art von Epistemologie, eine, die holistisch, antiontologisch und antidualistisch ist. Es kommt darauf an, mit welchen Unterscheidungen operiert wird. Wir nehmen etwas als etwas bestimmtes wahr, weil unserer Wahrnehmung eben diese Unterscheidung zugrunde liegt. Die Unterscheidung reduziert die Komplexität und ergibt Sinn:

Die unendliche Weltkomplexität wird also vom System auf eine Umwelt reduziert [...] Zwischen Umwelt und System besteht ein grundsätzliches Komplexitätsgefälle [...] Dass die Umwelt stets mehr Möglichkeiten enthält, als das System verarbeiten kann, ist allerdings kein Manko. Vielmehr sichert der Erhalt dieses Gefälles den Bestand des Systems. Ohne Gefälle keine Differenz, ohne Differenz zur Umwelt kein System.(5) 

Die Reduktion der Komplexität macht (erzeugt) Sinn. Plumpe und Weber stellen fest:

Im Falle sozialer Systeme sind Grenzen Sinngrenzen.(6) 

Die Reduktion der Komplexität durch Selektion ermöglicht das Entstehen eines kontingenten Bereichs gegenseitiger Orientierung. Dabei spielen Kommunikationsmedien eben eine Schlüsselrolle, denn:

Vor dem unendlichen und indifferenten Gemurmel gewinnen auf Medien zugeschnittene Kommunikationen eine spezifische Kontur.(7) 

Wird also in der Komparatistik eine theoretische Integration einer Vielzahl von Beobachtungsdimensionen angestrebt, so kann dies nur auf einer metatheoretischen Ebene geschehen. Sibylle Moser schreibt deshalb:

Statt interdisziplinärer Addition ginge es demnach um die  transdisziplinäre Integration von theoretischem und empirischem Wissen [...](8) 

Durch die Überwindung der Dimension der nationalphilologischen Fragestellungen eröffnet sich der Bereich kultureller Universalien, die den Blick vom literarischen Text einer Nationalliteratur als Untersuchungsgegenstand der Literaturwissenschaft auf Literaturprozesse lenkt, die unter der Bezeichnung „literarische Kommunikation“ Eingang in die Literaturwissenschaft gefunden haben. Aus systemtheoretischer Sicht bestehen soziale Systeme als autopoietische Systeme aus Kommunikationen. Bei dem Begriff Autopoiese handelt es sich übrigens um einen Neologismus, dessen Urheber H. R. Maturana ist:

Dieses Wort 'Autopoiese' schlug ich zur Bezeichnung derjenigen Systeme vor, die sich dadurch auszeichnen, daß sie Netzwerke der Produktion ihrer Komponenten sind. Das Netzwerk ist dabei zugleich das Ergebnis der Produktion der Komponenten. So gesehen ist Autopoiesis die Organisationsform von Systemen, die Netzwerke der Produktion von Komponenten sind. Diese bringen durch ihre Interaktionen das Netzwerk hervor, das sie produzierte und dabei seine Grenze festlegte.(9)

Gebhard Rusch meint:

 [...] dass autopoietische Systeme selbstreferentielle Systeme sind, d. h., sie beziehen sich im Prozess der Aufrechterhaltung ihrer Organisation ausschließlich direkt und indirekt auf sich selbst.(10)

Rusch vertritt hiermit die Meinung, dass jedes Element des kognitiven Systems nur in dessen Beziehung zur Struktur und nur auf der Basis der Struktur eines Systems erfasst werden kann. Das wiederum besagt, dass jede Information ihre Berechtigung und Relevanz nur im Bezug zu dem jeweiligen informational geschlossenen System hat.

Auch nach Luhmanns Ansicht sind soziale Systeme autopoietische Systeme, die ununterbrochen Kommunikation aus Kommunikation hervorbringen. Kommunikation versteht sich als eine system-interne Hervorbringung von Sinn, also als ein selbstreferentieller Prozess. Wir sehen, dass der Begriff der Autopoiesis in diesem Kontext einen Schüsselbegriff darstellt. Autopoietische Systeme sind Systeme, die sich selbst hervorbringen und erhalten.

Die Autopoiesis der Kommunikation produziert Kommunikation aus Kommunikation - nie aus Bewusstseinszuständen.(11)

Der Begriff der Kommunikation im Diskurs des RK genauso wie in der Systemtheorie und der Literaturwissenschaft wird in Zeiten ihrer Hochkonjunktur teilweise inflationär gebraucht. Im Zeichen der Kommunikation kam es zu fundamentalen Veränderungen in der Ausrichtung der Sozialwissenschaften, man fing an soziale und kognitive Prozesse als Kommunikationsprozesse zu reflektieren. Im Diskurs des Konstruktivismus sind Kommunikationskonzepte von P. Watzlawick(12) a H. Maturana(13) prominent vertreten.

Nach Watzlawick ist jedes Verstehen Kommunikation, was schließlich bedeutet, dass soziale Systeme eigentlich nicht anders können, als zu kommunizieren. Infolgedessen ist die Wirklichkeit als kognitive Leistung ein Produkt der Kommunikation. Im Vorwort zu seinem Buch Wie wirklich ist die Wirklichkeit schreibt Watzlawick entsprechend:

Dieses Buch handelt davon, dass die sogenannte Wirklichkeit das Ergebnis von Kommunikation ist. Diese These scheint den Wagen vor das Pferd zu spannen, denn die Wirklichkeit ist doch offensichtlich das, was wirklich der Fall ist, und Kommunikation nur die Art und Weise, sie zu beschreiben und mitzuteilen. Es soll gezeigt werden, dass dies nicht so ist; [...] Es soll ferner gezeigt werden, dass der Glaube, es gäbe nur eine Wirklichkeit, die gefährlichste all dieser Selbsttäuschungen ist.(14) 

Das konstruktivistische Konzept der Kommunikation ersetzt die Referenzsemantik durch eine Instruktionssemantik, wo Kommunikationsmittel nicht über Bedeutungen verfügen, sondern diese erst in der Kommunikation zugewiesen bekommen.

Das komplexe System Literatur wird laufend im Prozess der literarischen Kommunikation konstruiert und je komplexer die Erfahrungswelt erfahren wird, um so zwingender wird die Erfahrbarkeit der Komplexität literarischer Kommunikationsprozesse durch die literarische Komparatistik eingefordert. Die Folge dieser Einsicht ist die Herausbildung einer interkulturellen Germanistik bzw. einer komparatistischen Imagologie, die durchaus auf dem erweiterten Kulturbegriff konstruktivistischer Provenienz aufbauen.

Durch die wechselseitige Bedingtheit des Beobachtens und des Beobachteten, also des Untersuchungsobjekts und dessen, wie es kommuniziert wird, entsteht ein kontingentes Verhältnis. Dabei kann jede Unterscheidung ihrerseits im Akt des Beobachtens unterschieden werden und mit anderen Unterscheidungen in Zusammenhang gebracht werden. Hier ist der Akt des Vergleichens an der Schnittstelle verschiedener Disziplinen angesiedelt. Die Bewältigung der Komplexität der Kontexte heißt, konstruktivistisch gesprochen, ein Akt der Komplexitätsminderung durch Selektion. Das bedeutet, die Komplexität der gelebten Wirklichkeit entsteht durch Selektionen des kulturellen Programms. Folglich kann man nur verstehen, was man auch gemacht hat. Für Gebhard Rusch erscheint das Verstehen:

 [...] als ein kognitiv sozialer Mechanismus zur Selektion erwünschter Denk- und Verhaltensweisen, als ein Mechanismus zur Selektion von Kognitionen, in dessen Dienst die jeweiligen [...] Fähigkeiten des Auffassens und Begreifens gestellt sind. Die Kriterien solcher Selektionen sind aber historisch und kulturell kontingent, nicht psychisch und sozial universell.(15)  

Ich möchte nun, nachdem ich oben auf die wichtigsten Aspekte der konstruktivistischen Epistemologie (Autopoiesis, Kommunikation, Verstehen, Beobachten) im Hinblick auf die oben kurz angedachte Problematik der theoretischen Integration der multidimensionalen Beobachtungsperspektive eingegangen bin, nun auch auf das Verhältnis der Systemtheorie zum Konstruktivismus zu sprechen kommen und die Begründung der wissenschaftstheoretischen Essenz der sog. konstruktivistischen Literaturwissenschaft knapp darlegen.

Es ist vor allem die Systemtheorie, die sich in entscheidenden Punkten auf die Erkenntnistheorie des Konstruktivismus beruft. Die radikal-konstruktivistische Ausrichtung der Literaturwissenschaft bietet Möglichkeiten zur Anwendung von systemtheoretisch fundierten analytischen Forschungsverfahren. Damit sichert sich die Literaturwissenschaft selbst ihre Position im interdisziplinären Kontext der empirisch verfahrenden Sozialwissenschaften. Sibylle Moser meint entsprechend:

Die allgemeine Systemtheorie ist aufgrund ihrer undualistischen, prozessorientierten Argumentation prädestiniert, methodologische Hinweise für die Integration unterschiedlicher Wissensbestände zu geben.(16) 

Ihr Sinn besteht gerade darin, die kommunikative und kognitive Selbstorganisation von Systemen auszuloten. Sie beschreibt Texte, die im Umfeld der literarischen Kommunikation entstehen, als Indizien für Bedingungen, unter denen sie kommuniziert werden. Die hermeneutische Problematik des „richtigen Verstehens“ wird im Lichte der konstruktivistischen Literaturwissenschaft völlig umgekrempelt. Die Trennung von Kommunikationsmittel und Bedeutung macht dann Sinn, wenn das Verhältnis zwischen dem Text und dem Rezipienten problematisiert wird und wenn wir nach jenem Anteil fragen, der bei der Rezeption dem Text zukommen soll. In hermeneutischen Verstehenskonzepten wird immer von der Vorrangstellung des Textes in diesem Verhältnis ausgegangen. Schmidt schlägt etwas anderes vor:

Die Frage, ob der Text oder das kognitive System die entscheidenden Schiedsrichter in Bedeutungskonflikten sind, muss [...] umformuliert werden. Die Zeichen einer Sprache materialisieren semiotisch kommunikative Erfahrungen einer Gesellschaft. Sie beziehen sich nicht auf sprachunabhängige Objekte in „der Realität“, sondern sie beziehen sich auf eine soziale Praxis und nicht auf ontologische Gegebenheiten. [...] Meines Erachtens ereignet sich die Regulierung der Bedeutungsproduktion in dem geschlossenen Zirkel [...] von Operationen und Orientierungen zwischen den Polen Kognition, Medien, Kommunikation und Kultur [...] gehört Bedeutung nicht dir oder mir, sondern unserer Kultur in dir und mir.(17)

Wir sehen, dass sich hier der Kognitionsbegriff von Maturana zur Klärung von Kommunikations- und Verstehensprozessen durchgesetzt hat. Erst auf der Basis der Kommunikation lässt sich ein Verstehensbegriff aufbauen. Aus individualpsychologischer Sicht lässt sich daher auch kein Unterschied zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen machen. Erst wenn die kommunikativen Orientierungsakte als Verstehen bzw. Nicht-Verstehen ausgewiesen werden, entstehen kulturell spezifische Selektionen von Denkmustern und Handlungsstilen. Der Gegenstand der Untersuchung des Verstehens sind also soziale Übereinkünfte hinsichtlich der Kognitionen und das Verstehen wird also als ein sozialer Mechanismus aufgefasst. Die Theorie der literarischen Rezeption sollte von der Annahme von Konventionen ausgehen, welche die Verarbeitung literarischer Texte steuern, es handelt sich um konsensuelle Aspekte. Und da der Orientierende in der literarischen Kommunikation nicht direkt anwesend ist und der Text sozial und kontextuell sozusagen losgebunden ist, so sollte man meinen, dass ein Verstehen im Grunde nicht möglich ist. Das jedoch ist schon ein klassisches hermeneutisches Problem.(18) Im Verhältnis Text - Rezipient, also wenn das Verstehen problematisiert wird, gehen hermeneutische Verstehenskonzepte bisher immer von einer fundamentalen Bedeutung des Textes für den Prozess der Rezeption aus. Vor dem Hintergrund dieser Annahmen schlägt S. J. Schmidt folgendes vor:

Das Hauptaugenmerk literaturwissenschaftlicher Forschung wandelt sich in dieser Perspektive von Objekten zu Prozessen, von Identitäten zu Differenzen, von Wahrheit zu Kontingenz, von Wissensinhalten zu Verfahren des Wissensgewinns, von Objektivität zu Viabilität.(19) 

Vor dem Hintergrund dieser konstruktivistischen Überlegungen zur Kommunikation erscheint auch die folgende Aussage von Wellek und Warren bizarr:

„Vergleichende“ oder „allgemeine“ Literatur gehen notwendig ineinander über. Wahrscheinlich wäre es besser, einfach von „Literatur“ zu sprechen.(20) 

Bizarr deswegen, weil solange Differenzierungen wie Kulturkreis, Nation usw. im Umlauf sind, es doch auch Unterschiede beobachtet werden, die diese Differenzierungen „empirisch“ stützen müssen, also irgendwie auch kommuniziert werden müssen. Es wird hinsichtlich dieser Differenzierungen Kommunikationsmodelle geben, die für die Natur der Unterschiede einstehen werden. Sibylle Moser weist darauf hin, dass:

die selbstorganisierten Ordnungen [...] neue emergente Phänomene (darstellen), die nicht kausal auf die Eigenschaften einzelner Komponenten  zurückgeführt werden können. Die Identität komplexer Gegenstände der Welt besteht nicht in einer spezifischen Substanz, sondern im prozessualen Zusammenhang, in dem sie eingebettet ist.(21) (Moser, Akteurinnen, S. 185)

Die Komplexität literarischer Kommunikationsprozesse wird gerade durch die Ausdifferenzierung des Rasters der wissenschaftlichen Beobachtung generiert und macht diesen differenzierten Blick erst erforderlich. Damit erklärt sich die wechselseitige Bedingtheit des beobachteten Objekts und der Art und Weise seiner Beobachtung. Mit anderen Worten: Komplexität entsteht grundsätzlich dadurch, dass man reduziert. Komplexitätsreduktion ist daher gleichzusetzen mit Komplexitätsproduktion. Die konstruktivistische Literaturwissenschaft setzt ein konventionalisiertes Handlungssystem der Literatur voraus und untersucht die darin ablaufenden Prozesse auf verschiedenen Emergenzebenen.(22) Sie integriert Ansätze der Pragmalinguistik, der Kognitionstheorie und der allgemeinen Systemtheorie. Die konstruktivistische Literaturwissenschaft ist ein Beispiel für eine disziplinäre Umsetzung des einheitswissenschaftlichen Gedankens, der sich jedoch nicht als Reduktion auf eine basale Theorie versteht. In welchem Verhältnis die systemtheoretisch und die konstruktivistisch ausgerichtete Literaturwissenschaft zueinander stehen erklärt Sibylle Moser am Beispiel der Empirischen Theorie der Literatur folgendermaßen:

In ihrer radikalkonstruktivistischen Ausprägung arbeitet die ETL primär mit der Beschreibung kognitiver Operationen sowie kognitiven Verhaltens. In ihrer kulturalistischen Orientierung hingegen dominiert die Ebene der Handlungsbeschreibung und der sozialen Interpretation.(23)

Die Verzahnung radikal-konstruktivistischer und systemtheoretischer Ansätze hat im Begriff des systemischen Konstruktivismus ihren Ausdruck gefunden, den Jansen wie folgt charakterisiert:

Im systemischen Konstruktivismus verknüpfen sich zwei Strömungen: die Kognitionstheorie und die Theorie der Sozialsysteme.(24) 

und weiter:

Die Systemtheorie strebt den Status einer Grundlagenwissenschaft an; sie will durch methodische und erkenntnistheoretische Reflexionen zu einem neuen vereinheitlichten Wissenschaftsverständnis führen, das auf systematischem Denken beruht. Das Ziel ist eine operative (an Operationen orientierte, auf Operationen bezogene) Erkenntnisphilosophie.(25)

und weiter:

In der Systemtheorie geht es um systemische Prozesse, um die Frage, wie es zu Systembildungen kommt [...] wie es zum Aufbau von Ordnung kommt.(26) 

Durch die autopoietische Organisation entsteht die Einheit des Systems, während die Ausdifferenzierung der Systeme durch ihre verschiedenen Strukturen gewährleistet ist, die im Unterschied zu der invarianten Organisation, variabel, also dynamisch sind. Die Struktur wird von den Elementen des Systems gebildet, die im gegebenen Fall die Einheit des Systems gewährleisten und die für die Umsetzung der eigenen Organisation im System verantwortlich sind. Die Autopoiesis muss deshalb als ein dynamischer Prozess verstanden werden, wobei die Dynamik die Struktur betrifft, es handelt sich also um strukturelle Veränderungen des Systems, die der Aufrechterhaltung der Invarianz der Organisation und der Sichterstellung der Identität des Systems dienen. Daraus folgt, dass autopoietische Systeme organisationsmäßig Systeme darstellen, die  in der zirkulären Logik der Relation der Struktureinheiten als Einheiten dieser Relation geschlossen sind. Der Glaube an Kausalzusammenhänge, bzw. an die unumstößliche Logik deduktiver Aussagen wird im Konstruktivismus durch diese zirkuläre Logik aufgelöst:

Man glaubt heute unbedingt an die Verbindung von einer Ursache mit einer Wirkung. Das erscheint mir als eine entsetzlich triviale Vorstellung von den Zusammenhängen in der Welt.(27) 

Zusammenfassend lässt sich folgendes sagen: Die konstruktivistische Literaturwissenschaft setzt ein konventionalisiertes Aktionssystem der Literatur voraus, sie ist sogar darauf angewiesen und sie erforscht Prozesse, die in ihm auf verschiedenen Emmergenzebenen ablaufen. Der Emmergenzbegriff in der Intention des Radikalen Konstruktivismus bedeutet eine neue Qualität der Wirklichkeit.(28) Auf der epistemologischen Ebene geht der Radikale Konstruktivismus von der basalen Reduktion der Komplexität aus, also von einem Konzept, das der Systemtheorie sehr nahe steht.

Es gibt Systeme, weil Komplexität in einer bestimmten Art und Weise und in Hinsicht auf eine bestimmte Problemlösung wahrgenommen und reduziert wurde.(29)

Es hat sich die Idee durchgesetzt, dass Systeme Beobachterkonstruktionen sind, also das, was man mittlerweile als kognitive Realität bezeichnet. Zu den zentralen Komponenten Luhmanns Systemtheorie gehören das autopoietische System und der Begriff der Kommunikation. In der Tat argumentiert der Radikale Konstruktivismus im geschlossenen Kreis des epistemologischen Paradoxons der Fundierung des Gekannten durch das Gekannte. Es ist die Kategorie der Autopoiesis, die nebst der Kognition und der Kommunikation zu der Trias der exponiertesten Kategorien der RK überhaupt gehört.

 

Literatur:

 


Anmerkungen:

1 Konstantinović, Z. (1988): Vergleichende Literaturwissenschaft. Bestandsaufnahme und Ausblicke. Bern u.a.: Peter Lang, 167
2 Wellek, R./Warren, A. (1985): Theorie der Literatur. Königsstein: Athenäum Verlag, 49
3 Moser, S. (2001a): Vernetzte AkteurInnen, komplexe Systeme. Literaturbeobachtung als transdisziplinäre Kulturwissenschaft. In: Burtscher-Bechter, B./Sexl, M. (Hg.): Theory Studies? Konturen komparatistischer Theoriebildung zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Innsbruck u.a.: Studien Verlag, 175-197, 181
4 Plumpe, G./Weber, N. (1993): Literatur ist codierbar. Aspekte einer systemtheoretischen Literaturwissenschaft. In: Schmidt, S. J. (Hg.): Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag, 9-44, 12
5 Ebd., 11
6 Ebd., 12
7 Ebd., 17
8 Moser, S. (2001a), 182
9 Riegas V./ Vetter Ch.: "Gespräch mit Humberto R. Maturana". Übers. von Paul Stanton. In: Riegas, V. u. Vetter, Ch. (Hg.): Ein Gespräch mit Humberto R. Maturana und Beiträge zur Diskussion seines Werkes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993, 35f.
10 Rusch, G. (1987): Erkenntnis, Wissenschaft, Geschichte: von einem konstruktivistischen Standpunkt. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 46
11 Ebd., 43
12 Watzlawick, P. (1976): Wie wirklich ist die Wirklichkeit. Wahn, Täuschung, Verstehen. München: Piper, Neuausgabe 1978
13 Maturana, H. (1982): Biologie der Kognition. In: Maturana, H.: Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epistemologie. Braunschweig / Wiesbaden: Vieweg, 32-80
14 Watzlawick, P. (1976): Wie wirklich ist die Wirklichkeit. Wahn, Täuschung, Verstehen. München: Piper, Neuausgabe 1978,  7
15 Rusch, G. (1992): Auffassen, Begreifen und Verstehen. In: Schmidt, S. J. (Hg.): Kognition und Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 214-257,  216
16 Moser, S. (2001a), 183
17 Schmidt, S. J. (1996): ‚System‘ und ‚Beobachter‘: Zwei wichtige Konzepte in der (künftigen) literaturwissenschaftlichen Forschung. In: Fohrmann, J. /Müller, H. (Hg.): Systemtheorie der Literatur. UTB, W. Fink-Verlag,  106-134, 124, 125
18 Rusch, G (1992), 250
19 Schmidt, S. J. (1996), 130
20 Wellen, R./Warren, A. (1985), 51
21 Moser, S. (2001a), 183
22 reflexive Operationen, Verhalten, Handlungen
23 Moser, S. (2001b): Komplexe Konstruktionen. Systemtheorie, Konstruktivismus und empirische Literaturwissenschaft. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag, 41
24 Jensen, S. (1999): Erkenntnis – Konstruktivismus – Systemtheorie: Einführung in die Philosophie der konstruktivistischen Wissenschaft. Opladen/ Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 408
25 Ebd., 365
26 Ebd., 370
27 Foerster, H. von / Pörksen, B. (2004): Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme, 53 f.
28 Vgl. Krohn, W./Küppers, G. (Hg.) (1992): Emergenz. Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
29 Krieger, D. J. (1996): Einführung in die allgemeine Systemtheorie. München: Wilhelm Fink, 18; zitiert nach Moser, S. (2001b), 71

3.10. Komparatistik und Weltliteratur in der Epoche der Globalisierung

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Roman Mikuláš: Welchen Beitrag kann der Konstruktivismus zur Hebung der literarischen Komparatistik leisten? - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/3-10/3-10_mikulas17.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-02-22