TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr.
April 2010

Sektion 3.8. Roman und Erkenntnis
Sektionsleiter | Section Chair: Jürgen Heizmann (Montréal)

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Sektionsbericht 3.8.

Roman und Erkenntnis

Jürgen Heizmann (Montréal) [BIO]

Email: jurgen.heizmann@umontreal.ca

 

Der moderne Roman ist zur gleichen Zeit entstanden wie die modernen Wissenschaften. Nach Milan Kundera besteht seine Aufgabe darin, die Lebenswelt des Menschen zu erforschen, die die mathematisch-technisch operierenden Naturwissenschaften aus ihrem Gesichtsfeld verloren haben. Die Geschichte dieser erfolgreichsten aller literarischen Gattungen lässt sich beschreiben als die Geschichte ihrer Entdeckungen auf dem Gebiet der menschlichen Existenz.

In dieser Sektion behandelten wir Erkenntnisleistungen des Romans im 20. Jahrhundert, die unsere Weltsicht beeinflusst oder verändert haben: die Kritik an der Psychoanalyse; die Auseinandersetzung mit dem Mythos; die Einflüsse des Romans auf die Historiographie und auf unsere Art und Weise des Umgangs mit Vergangenheit; der konstruktive Charakter jeglichen Erkennens.

Die Sektion „Roman und Erkenntnis“ besteht aus folgenden sechs Beiträgen:

 Paul Peters (McGill University): Zur Metaphysik des Romans: Kafka und Lukács

Die beiden kakanischen Schriftsteller Kafka und Lukács werden meist als Gegenpole verstanden − und Lukács als der Kritiker, der in einer berühmt-berüchtigten Polemik im Namen des alteingesessenen Realismus des neunzehnten Jahrhunderts die modernistischen Exzesse eines Franz Kafka anprangerte. Der Vortrag möchte indes den Versuch antreten, diese beiden groβen Verehrer und Kenner der Gattung als innovative Theoretiker und Erweiterer des Romans eher zusammenzudenken, als steril gegeneinander auszuspielen. Den Ausgangspunkt dieser eher dialogisch als polemisch angelegten Gegenüberstellung bildet die Untersuchung zweier Texte, welche beide unser Verständnis des Romans revolutioniert haben: Kafkas Proceβ und die etwa gleichzeitig entstandene Theorie des Romans des jungen Lukács. Was diese beiden Texte indes verbindet, ist etwas, was man die metaphysische Dimension des Romans nennen könnte. Wenn es in gewisser Weise den Ruhm Kafkas ausmacht, den Roman, als ausgesprochen weltliche und säkulare Gattung, mit seinem Proceβ-Text wieder emphatisch metaphysiert und sakralisiert zu haben, so geben paradoxerweise gerade einige Begrifflichkeiten des jungen Lukács uns ein Instrumentarium in die Hand, um diese Metaphysierung kritisch würdigen zu können. Denn mit den Stichworten von der „Innerlichkeit“ und der „Zeit“ als den beiden Medien, in denen sich der Roman als Form vorzüglich zu ereignen habe, treten wir dem spezifischen Formgesetz des Proceβ-Romans erstaunlich nahe. Zudem gibt es wenige Romane, die Lukács Wort von der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ so konsequent umsetzen wie der Proceβ Kafkas.

Michael Rohrwasser (Universität Wien): „Dem Jahrhundert an die Gurgel springen.“ Elias Canettis Roman Die Blendung und die Wirklichkeitssuche

Elias Canetti beendet die Arbeit an seinem Roman Die Blendung im Jahr 1930, kann ihn aber erst fünf Jahre später veröffentlichen. Dies führt, durch die Bücherverbrennung, im Jahr 1933, zu einer spezifischen Rezeption. Anfangs plant der Autor eine „comédie humaine“ mit verschiedenen Figuren, die in unterschiedlicher weise das Gleichgewicht zwischen sich und der Welt verloren haben. Der Büchernarr Peter Kein, der im Zentrum der Blendung steht, hält die Augen fest geschlossen und mauert die Fenster zur Umwelt zu − in dieser Figur hat Canetti auch seine Kritik an der zeitgenössischen Psychoanalyse dargestellt, der er vorwirft, sich vor den Wahrnehmungen der Straβe, vor den Mitteilungen ihrer Patienten zu schützen. In dem Brüderpaar Peter und Georges Kein stellt der Autor entgegengesetzte Massenfiguren dar. Der Psychiater Georges darf von der Bedeutung der Masse für die Menschheitsgeschichte Bericht geben, ist aber dennoch nicht als positive Gegenfigur zu dem Sinologen Peter Kein zu verstehen. Die Blendung ist ein antipsychologischer Roman, der den traditionellen Roman auf den Kopf stellt, indem er nicht die äuβere Welt, sondern die Welt im Kopf darstellt.

Lidija Baković (Université de Montréal): Erkenntnis und Erzählen in Hermann Brochs Der Tod des Vergil

Hermann Brochs Der Tod des Vergil (1945) ist ein paradoxes Werk. Es ist eine Absage an die Dichtung und zugleich ein Versuch, durch diese neue Horizonte zu eröffnen; es bemüht sich um Erkenntnis, ohne sich der gängigen objektiven naturwissenschaftlichen Methoden der Erkenntnisgewinnung zu bedienen; es will den Tod in „die Reichweite“ unseres Wissens bringen und gibt sein eigenes Scheitern zu; es ist ein Roman, der sich so weit von der traditionellen Romanform entfernt, dass er stellenweise zum Gedicht wird. Dieses Paradoxe, das vor allem im Verhältnis zwischen der Form und dem Inhalt – (Nicht)Vollzug der Erkenntnis − sichtbar ist, wird mit narratologischem Werkzeug genauer untersucht, und zwar vorsätzlich hinsichtlich der Zeit und des Raumes. Der Roman spiegelt nämlich auf beeindruckende Weise das narratologische Hauptprinzip wieder, nach dem der Erzähler und seine Position zum Geschehen der Zugang zur Werkdeutung, und so auch zur Darstellung der Zeit und des Raumes sind. Brochs Erzähler ist nicht nur der Schlüssel, sondern auch der Ort des Geschehens. Im sterbenden Dichter Vergil haben wir ein Ich, das allmählich alle seinen Vorstellungen über sich selbst und die Welt aufgibt, sich sozusagen auflöst, und das dennoch, mit Lukács gesprochen, der Träger einer neuen Totalität werden soll. Das Erzählen „geschieht“ Vergil, während es vollzogen wird. Es gewinnt, durch seine wellenartige Bewegung und ausgesprochene Lyrik gewissermaßen an Dreidimensionalität. Raum und Zeit des menschlichen Daseins werden dann ins Kosmische wie auch in das urzeitig Chaotische transponiert. Das Bewusste und das Unbewusste, Traum und Realität, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Kosmos und ein kleines Zimmer verschmelzen miteinander. Auf diese Weise gelingt es Broch, wenn nicht eine neue Erkenntnis in die Wege zu leiten, so doch den Bewegungen des menschlichen Inneren im ihrem komplexen Ineinander der unbewussten und bewussten Vorgänge auf ganz neue Weise Ausdruck zu verleihen. 

Jürgen Heizmann (Université de Montréal): Metafiktionalität in Thomas Manns Doktor Faustus

„Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman”: nicht zufällig trägt Adornos knappe aber grundlegende Auseinandersetzung mit den modernen Formen der epischen Groβgattung diesen Titel. Denn im Roman des 20. Jahrhunderts erfährt der erzählerische Zugriff auf die Welt radikale Veränderungen, der mit allen Traditionen bricht. Die Modernität von Thomas Manns 1947 erschienenem Spätwerk liegt nicht in der

viel diskutierten aber reichlich albernen Reduzierung des Nationalsozialismus auf die musikalische Seele des deutschen Volkes, sondern im geistreichen Spiel mit den Grundpfeilern der Gattung. So entpuppt sich der Erzähler nicht nur als äuβerst unzuverlässig, er verleugnet auch ständig das literarische Genre und gibt an, eine Biographie schreiben zu wollen − ein Maskenspiel, das auf die Anfänge des Romans zwischen Geschichtsschreibung und Fiktion zurückverweist und zugleich eine ironische Auseinandersetzung mit einer anderen, zu Thomas Manns Zeiten und bis heute sehr populären, semi-wissenschaftlichen Form der Weltaneignung darstellt. In vielen auto-reflexiven Digressionen setzt sich der Erzähler explizit mit den Problemen des Schreibens auseinander, macht auf das Erfundene des Textes und das Irreale der Sprache aufmerksam, die ja nicht einfach eine Analogie der Wirklichkeit ist. Diese Störungen der erzählerischen Konvention, die Mann später in dem Roman Der Erwählte noch weiter treiben wird, zeigen die Naivität des traditionellen Realismus. Aus dieser Metafiktionalität lässt sich Thomas Manns völlig eigenständige Position als Romancier des 20. Jahrhunderts bestimmen, denn er versucht mit ihr, eine Brücke zu schlagen zwischen Tradition und Moderne. Durch seine Ironisierung des Vortrags gelingt es ihm, sich das stolzeste Erbteil der groβen Epik, den homerischen Götterblick des allwissenden Erzählers zu bewahren, wobei er den Leser zugleich immer wissen lässt, dass dieser olympische Blick im 20. Jahrhundert an sich nicht mehr möglich ist.

Adriana Cutieru (Université de Montréal /FU Berlin): Metanarrative Reflexionen über die Erzählbarkeit der Geschichte in Alfred Döblins historischem Roman November 1918

In seinen Aufsätzen zur Literatur betont Alfred Döblin die Eigenständigkeit des Romanautors gegenüber dem Historiker bezüglich der Darstellung der Geschichte. Er macht aufmerksam darauf, dass der Historiker die Illusion des historischen Geschehens unreflektiert, ohne die Thematisierung und die bewusste Aneignung des erzählerischen Vorgangs aufbaut. Daher sei der Autor historischer Romane der wahre Wissenschaftler, der im Gegensatz zum Historiker den Akt des Erzählens ganz bewusst thematisiere und somit über die Darstellbarkeit von historischer Wirklichkeit reflektiere.

In diesen poetologischen Gedanken nimmt Döblin den Vorrang der Diegesis über die Mimesis in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorweg; Er ist nicht nur ein Fortführer der großen Realisten des 19. Jahrhunderts und ein Repräsentant des Modernismus, sondern auch ein Wegbereiter des so genannten Postmodernismus, da er in seinem Werk alle erzähl-technischen Elemente zur Beschreibung der Wirklichkeit vereint, die bei allen diesen Autoren anzutreffen sind.

Diese Komplexität seines erzählerischen Werkes lässt sich auch in seinem historischen Roman November 1918 erkennen, vor alleman der Verquickung der Mimesis und der Diegesis, die mal illusionsbildend, mal illusionszerstörend ist. So entsteht durch die Verbindung der Illusion der treuen Abbildung der Wirklichkeit mit den illusionsbildenden und illusionszerstörenden Kommentaren des Erzählers eine Spannung zwischen Ambivalenz und Kohärenz, die auf eine fragwürdig gewordene historische Wirklichkeit hinweist. So pendelt die Stimme des Erzählers zwischen der allwissenden Stimme des Erzählers und der Stimme eines Objekts der Geschichte: Mal ist er der Beteiligte an der Geschichte, mal der Historiker, mal der Dichter; ein Objekt der überwältigenden Geschichte und somit fast eine Figur der eigenen Erzählung, mal der Berichterstatter objektiver historischer Informationen, mal der phantasierende Dichter, der die Erzählung aus seiner Zauberkiste hervorbringt und sie als solche enthüllt.   

Dieses Zusammenspiel zwischen Mimesis und Diegesis spielt eine wichtige Rolle zum Verständnis des Geschichtsbildes, das in Döblins historischem Roman herrscht. Die Vielfalt von Erzählern, die verschiedenartige Diskurse vertreten, die mehr oder weniger motiviert sind, wurde von der literarischen Kritik als trivial, pedantisch, tendenziös und ästhetisch fragwürdig betrachtet. Diese Inkonsistenzen des Erzählers, die aus heiterem Himmel erscheinen, in die Erzählung, in die Diegese eingreifen und die Illusion der Mimesis zerstören, ist ein erzählerisches Experiment ohnegleichen. Das Spiel mit den parodischen, stilisierten, mündlichen Diskursen, mit Mimesis und Diegesis letzen Endes, ist ein Versuch, die Fülle und die Vielfalt der Wirklichkeit durch eine komplexere Darstellung zu fassen, die vom stilistischen Kanon des traditionellen Realismus zugelassen wurde. Auch wenn diese unkonventionelle Darstellungsweise auf einen ersten Blick als unrealistisch betrachtet werden können, sind sie, so David Lodge, „a way of continuing to exploit the resources of realism while aknowledging their conventionality.“

Alice Staškova (Karlsuniversität Prag): Raum und Geschichte. Zu Georges Perecs Roman(en) La Vie mode d´emploi

In dreifacher Hinsicht soll die Konstitution des Raums im Roman La Vie mode d´emploi (1978) von George Perec untersucht werden, um jeweils, vom Phänomen aus, das Verhältnis von Roman und Erkenntnis sowie von Literatur und Praxis zu befragen. Bezogen auf den Roman selbst wirft die spezifisch Perecsche Konstitution des literarischen Raums, die denkbare Romantechniken bis hin zur Entgrenzung von Text und Bild virtuos ausnutzt, die Frage nach dem Verhältnis von Folge und Sinn im literarischen Text auf. Diese Problematik besitzt ihre unmittelbare Aktualität in der heute sich verbreitenden editorischen Praxis, in der Fassungen, Änderungen und Entwürfe buchstäblich vor Augen geführt werden, ohne eine hierarchisierende Anleitung zur Hand zu geben, die eine einzige lineare Lektüre vorschriebe. Zweitens tut sich mit der expliziten Intertextualität des Romans sowie dem Plural romans im Untertitel ein Raum der Literatur auf, in dem Romane aus unterschiedlichen Epochen miteinander in Verbindung treten. In dieser selbstreflexiven Bewegung meldet sich, uneingelöst, die alte Frage nach der philosophischen Grundlage der Romangattung: Erkenntnistheorie (Bachtin) oder Geschichtsphilosophie (Lukács)? Schließlich aber drängt sich in diesem Roman durch das angsterregende Spiel von Elementen, dessen einzige Regel die Wiederholung ohne Differenz zu sein scheint, die Sehnsucht nach der Geschichte auf. Im Vollzug des Textes wird, nachdem alle Teleologie verabschiedet wurde, die Bedingung der Möglichkeit von Gedächtnis, Erinnerung und Geschichte reflektiert.


3.8. Roman und Erkenntnis

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For quotation purposes:
Jürgen Heizmann: Sektionsbericht 3.8.
- In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/3-8/3-8_sektionsbericht.htm

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