TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr.
Februar 2010

Sektion 3.9. Gibt es ein Politisches Theater des 21. Jahrhunderts?
SektionsleiterInnen | Section Chairs: Tobias Sosinka (Berlin) und Birgit Fritz (Universität Wien)

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„Tagfinsternis“

Julya Rabinowich [BIO]

Email: julya.rabinowich@yahoo.com

 

Migration ist eine Nachtwanderung durch unbekanntes Terrain. Ohne Taschenlampe. Eine Familie auf der Flucht, endlich angekommen, wartet auf ihren Asylbescheid. Positiv oder negativ? Dieses uns oberflächlich aus den Medien so bekannte und gleichzeitig so fremde Thema, beleuchtet die Autorin auf poetische Weise. Wir erleben einen Ausschnitt zerbrechlichen Familienlebens, das zwischen Tradition und Anpassung hin und her gerissen wird. Kurz stehen diese Menschen im Rampenlicht, ehe sie wieder im Dunkel der Zeit verschwinden wie viele andere ähnliche Schicksale zuvor.

Akt I, Szene 3.

Zargan und Mutter. Decken den Tisch. Mutter stellt Blumenstrauß in Plastikbecher.

Zargan pfeift.

Mutter: Hör auf zu pfeifen. Das ist unanständig.

Zargan: Dann paßt’s ja zu mir. (pfeift weiter)

Mutter (versucht sie zu übertönen): Sei nicht so bösartig, Schwester. Ich will uns allen nur Gutes!

Zargan: Wozu? Wozu die Mühe? Schau dich doch um- Von mir aus könnten wir auch Brot im Hinterhof fressen.

Mutter: Es kommt auf das Gefühl an. Ich will, dass meine Familie schön isst und Freude daran hat.

Zargan: Wir haben doch an nichts Freude.

Mutter: Ich versuche es jeden Tag. Vergiss das nicht. Das ist wichtig, hörst du? Wenn du das verlernst, ist es vorbei.

Zargan (lacht). Ach ja. Es ist bereits vorbei. - Dein Familienessen ist mir so was von egal!

Mutter: Es ist auch deines.

Zargan: Ach so? Wo ist denn mein Mann, wo meine Kinder!

Mutter: Du mußt nicht immer alles verderben.

Zargan: Ja ja, ich weiß. Ich bin verdorben und verderbe den andern auch alles.

Mutter: Du verdrehst mir die Worte im Mund!

Zargan: Da gibt’s dann aber nicht viel zu verdrehen. Meistens sagst du nur „ Ja, Eli. Jawohl, Eli“ .

Mutter: Hör jetzt auf! -Hast du vergessen, wie viel Freude du schon gehabt hast?
Denk an die schönen Dinge. An Dinge, die dich glücklich und stolz machen...Denk an unsere Feste! Beim Tanz warst du immer die Schönste.

Zargan: Mir ist nicht mehr nach tanzen.

Mutter: Das ganze Dorf hat nur Augen für dich gehabt. Die haben alle nur auf dich gewartet. Jeder junge Mann wollte dich als Braut haben. Nur dich. Pause. Nicht mich.

Zargan: Ja,ja... Und, was hab ich davon gehabt? Eine beschissene Beinahehochzeit. Einen reichen Idioten heiraten, dann wäre er stolz auf mich gewesen, der Alte. Hoch hinaus...Idiot zu Idiot, Asche zu Asche.

Mutter: Zargan! Wie kannst du so über Vater sprechen!

Zargan: Eine tote Tochter wäre ihm lieber gewesen als eine entehrte! Glaubst du, das vergesse ich?

Mutter: Vater konnte nicht anders. Und dass Du trotzdem Ilyas geheiratet hast, das hat er akzeptiert…

Zargan: Ha. Er hatte ganz einfach keine Wahl mehr… Ja, gut, es war unser gemeinsamer Plan, dass Ilyas mich entführt. Rechtzeitig entführt. Bevor der Alte mich zum noch Älteren treibt wie Herdenvieh.- Mein Ilyas…

Angst hatte er keine. Nur Sorge um mich.

Mutter: Du hast damals uns alle schlaflose Nächte gekostet, Zargan. Vater hat getobt!

Zargan: Aber er hat nicht mehr „nein“ sagen können! Weißt du, damals war vermutlich die schönste Zeit meines Lebens … Das ist schon ein paar Stunden Schlaf wert, meinst du nicht?

Mutter: Du hast jetzt genug schlaflose Nächte.

Zargan: …Ja, mein Ilyas... mein schöner Ilyas. Mein berühmter Ilyas. Hat der gut tanzen können... Ein Traum. Ein Flug war das...Ja, stimmt, ich bin gerne geflogen...früher. (beginnt ein wenig zu tanzen)
Und was für eine schöne Hochzeit! Mit Musik, mit der Riesentafel, mit hunderten Gästen… So wie ich wollte, genau so, wie ich gewünscht habe…
Du warst ja so selten bei den Dorftänzen dabei...Immer habe ich dich überreden müssen. Du hast recht, die Musik, der Tanz, das war schon was...Ja, ja…

Mutter: Ich habe mich immer geniert.

Zargan: Geniert, für was?

Mutter: Dafür, dass du so leicht warst und so anmutig, jede Bewegung, jeder Schritt von dir. Dafür, dass du so stolz bist. Und ich... so unvollkommen dagegen.

Zargan: Jeder wie er kann, Petimat. -Du hast mich auch für eine Schlampe gehalten wie all die andern, gib es zu!

Mutter: Ich habe dich immer für deinen Mut bewundert. Ich weiß nur nicht, ob deine Entscheidung richtig war…

Zargan: Du hast noch nie eine Entscheidung für dich getroffen, da kannst du leider nicht mitreden. Eli hat Vater gefragt, Vater hat ja gesagt, und dann hast du ihn geheiratet. So simpel. So dumm.

Mutter: Du hast zahlen müssen für deine Art.- Was hast du jetzt davon?
Ich -, ich bemühe mich. Aber diese Liebe muss ich erst erarbeiten, die Liebe, die dir einfach in den Schoss gelegt wurde. So viel Liebe...

Zargan: Das was du hast, hat dir keiner genommen. Schweig!

Mutter: Verzeih mir...

Zargan: Ich wusste, was ich wollte. Ja. Aber ich habe nicht gewusst, was ich bekomme.

Mutter: Ich hätte Vater niemals widersprochen. So etwas ist gefährlich. Schau dir an…

Zargan: Was? -Es war nicht schwer. Pause. Ich habe mit Zinsen und Zinseszinsen gezahlt für meinen Willen.- Aber du. Feig. Feig und gehorsam. Na gut...was soll ich auch anderes von dir erwarten als Unterwerfung.

Mutter: Ach ja? Schau dir an, wo du jetzt bist, zwei Jahre später. Hat es sich etwa gelohnt?

Zargan: Glaubst Du, ich sehe nicht, wie die andern mich anglotzen? Glaubst du, ich sehe nicht, dass du dich auch schämst?!

Mutter: Ich stehe immer zu dir. Das solltest du langsam wissen. .

Zargan: Sicher! Du, du hast doch keine eigene Meinung, keinen eigenen Willen. Eli hier, und Eli da, und für die Kinder geb ich alles...Wo bist du denn überhaupt? Warum sollte ich dir irgendwas bedeuten? Du hast doch schon so viele Lieben um dich...

Mutter: Du bist meine Schwester.

Zargan: Eine Schande bin ich.

Mutter: Unsere Mutter hat sich dein Reisegeld von ihren Arzneikosten abgespart, Zargan.

Zargan: Jaaa.... Aber vor ihren Brüdern, da hat sie anders geklungen. Ich erinnere mich sehr gut daran, glaub mir.-

Mutter: Sie wollte dich retten.

Zargan: Ihre eigene nackte Haut wollte sie retten, sonst nichts! Sie wollte keine Schuldgefühle! Kein nagendes Untier, das jeden Tag in ihren Eingeweiden wütet, so wie meines! Keinen Tag ist es still, immer spüre ich, wie es sucht und sucht und rastlos gräbt...Bald ist kein Fleisch mehr zwischen Haut und meinen Knochen...Rache sage ich, Rache hätte ich gebraucht, um mich zu reinigen. Rache!

Mutter: Bring mir doch die Gläser aus der Küche...

Zargan: Und du weißt, du weißt, wer seine Schuld an mir nicht abgegolten hat.

Mutter: Sei still! Eli hat dich dort rausgeholt!

Zargan: Er hätte mich rächen sollen! Blut mit Blut abwaschen. Aber er hat es nicht getan. Der feige Hund!

Mutter (knallt Teller auf den Tisch.) Halt dein Schandmaul! Auf der Stelle!

Zargan (lacht):Mein Schandmaul sagt Dinge, die ihr gar nicht gerne hört, ich weiß... Ihr und eure heile Familie! Ihr Reinen und Hehren! Warte nur... Ich seh' s schon kommen: Du wirst deine Kinder an diese Welt verlieren! Glaubst du, ich weiß nicht, wie leicht das geht?

Mutter: Wie kannst du-! Warum willst du mir immer wehtun? Ich habe dir doch nichts getan!

Zargan(lacht):Gott atmet ein - Gott atmet aus. Und dein Leben ist vorbei. Vorbei!

Mutter: Zargan, ich warne dich.

Zargan: Du willst mich schlagen? Ich bitte dich, bring mich nicht zum Lachen!
Sieh lieber zu, daß du dein kleines, trügerisches Glück unter Kontrolle behältst.

Mutter: Immerhin habe ich etwas zu behalten.

Beide erstarren. Pause.

Zargan (schreit): Ich halt es nicht mehr aus hier! Diese- elenden vier Wände! (stürzt hinaus)

Mutter weint am Tisch. Hinein Madina.

Madina: Mama....

Mutter: Hallo...Hallo, meine Süße.

Madina. Weinst du wieder? Ach, Mama...

Mutter: Ich weine nicht. Ich weine nicht...Alles vorbei.... Schau, die schönen Blumen....

Madina: Ich hab sie doch selbst gepflückt.

Pause.


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For quotation purposes:
Julya Rabinowich: „Tagfinsternis“ - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/3-9/3-9_rabinowich.htm

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