TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 6.8. Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive
Sektionsleiter | Section Chair: Oliver Ruf (Universität Trier)

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Der Zerfall Jugoslawiens:

„Ausnahmezustand als permanente Struktur“ in der literarischen Verarbeitung

Boris Previšić (Universität Basel, Deutsches Seminar) [BIO]

Email: b.previsic@bluewin.ch

 

Im eigentlichen Vorläufer zu Stato di eccezione (2003), in der Abhandlung Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita, welche den Ausnahmezustand des Konzentrationslagers im Zweiten Weltkrieg aus der Perspektive einer longue durée fokussiert, stellt Agamben den eigentlichen Jetztbezug an zwei prominenten Stellen über den damals aktuellen Zerfall Jugoslawiens her. Zunächst ist dies nicht erstaunlich, schreibt er doch den Homo sacer anfangs der 90er Jahre, in denen der Krieg in Kroatien und Bosnien ganz Europa aufschreckt. (1) Erstaunlich hingegen ist, mit welcher Vehemenz der Autor aufzeigt, dass es sich bei diesen kriegerischen Auseinandersetzungen um eine neue Form des Ausnahmezustands handelt – und dies gerade in doppelter Weise:

  1. Die Auflösung Jugoslawiens ist nicht als Rückkehr in den Naturzustand, sondern als Vorspiel zu einer neuen sozialen Ordnung zu verstehen, in welcher der Ausnahmezustand als „permanente Struktur“ zutage tritt. (S. 49)

  2. Der Ort, an dem dieser neue Ausnahmezustand am deutlichsten zutage tritt, bildet das „Lager der ethnischen Vergewaltigung“, eine völlig neuartige Matrix der Politik (S. 185), in welcher „der Körper der bosnischen Frau von Omarska […] ein perfektes Beispiel für die Schwelle der Ununterscheidbarkeit zwischen Biologie und Politik“ symbolisiert (S. 196).

Der Zerfall Jugoslawiens ist demnach nicht als Rückfall in der Geschichte, sondern als „vorwarnendes“ Ereignis mit „permanenter Struktur“ zu verstehen. Sogar aus historischer Distanz hat diese Analyse des noch heute meist in Medien und Politik euphemistisch definierten „Transitionsprozesses“ in Ex-Jugoslawien Seltenheitswert. Nichtsdestotrotz kann gerade in der Literatur aus dieser Region, welche den Verfall aus interner Perspektive beschreibt, eine Diskurslinie verfolgt werden, welche beängstigend nah an Agambens Argumentation herankommt – und sich dennoch in einem wichtigen Punkt davon unterscheidet, der gleichzeitig den Schlusspunkt dieser Ausführungen bilden soll. Aus diesem Grund soll in einem ersten Teil Agambens Argumentation genauer nachgezeichnet werden, bevor in einem zweiten Teil zwei literarische Beispiele das Signum vom Lager dieses Krieges, von Omarska, umkreisen. Es handelt sich dabei um die fiktionale Verarbeitung des Lagererlebnisses aus der Perspektive einer Frau namens S. im Roman von Slavenka Drakulić Kao da me nema (Split, Feral 1999; Als gäbe es mich nicht), welche mit dem kürzlich erschienenen faktualen Bericht einer Kroatin namens Jadranka Cigelj, mit Appartement 102 – Omarska (2005), ergänzt wird. (2)

 

1. Die Argumentation von Giorgio Agamben

A. Im zweiten Kapitel des ersten Buchs vom Homo sacer, im Kapitel Nómos basiléus, nimmt Agamben das Pindar-Fragment 169 „Nómos ho pánton basiléus“ als Ausgangspunkt: „Nómos, der König aller Sterblichen wie Unsterblichen, / lenkt, Recht setzend, das Gewaltsame mit höchster Hand. Ich beweise es / durch Herakles‘ Taten.“ Darin nimmt Agamben eine Abgrenzung Pindars gegenüber Hesiod vor, der dem „nómos“ die Macht zuteilt, Gewalt und Recht zu trennen (Agamben 1, S. 42). Über eine Anmerkung zu Hölderlins Übersetzung „Das Gesetz, / Von allen der König, Sterblichen und Unsterblichen“ hebt Agamben Carl Schmitts Kritik an Hölderlin hervor, da er „nómos“ als Gesetz übersetzt und dabei dessen Mittelbarkeit anstatt dessen Unmittelbarkeit in der Erkenntnis begründe (S. 43). Carl Schmitt – wie auch Agamben – will vielmehr bei Pindar den Gegensatz zwischen „physis“ und „nómos“ als Voraussetzung für die Ununterscheidbarkeit von Recht und Gewalt, als Vorder- und Rückseite einer Moebiusschlaufe verstanden wissen (S. 46). In einem riesigen Zeitsprung kommt Agamben auf die Rechtspraxis des zwanzigsten Jahrhunderts zu sprechen, in dem „seit dem Ersten Weltkrieg in klar erkennbarer Weise“ der „konstitutive Nexus zwischen Ortung und Ordnung des antiken nómos [der Erde] zersetzt“ werde (S. 48), „il nesso costitutivo fra localizzazione e ordinamento dell‘antico nomos della terra si spezza“ (p. 44). Agamben macht am Ende des Kapitels drei Stufen fest: 1. die Trennung zwischen „Naturzustand“ und „Rechtszustand“, welche durch je eigene Kreise symbolisiert werden, 2. die Verortung des „Rechtszustands“ innerhalb des „Naturzustands“, welche sich im Ausnahmezustand zeigt, 3. das Ineinanderfallen von „Rechtszutand“ und „Naturzustand“, „[w]enn die Ausnahme dazu tendiert, zur Regel zu werden“. (S. 48f.) Und hier schließt Agamben zum ersten Mal mit dem an, „was sich in Ex-Jugoslawien abspielt“ („ciò che sta avvenendo nell’ex Jugoslavia“): „Die staatliche Auflösung der traditionellen staatlichen Organismen“ ist „nicht als eine Wiederkehr des Kampfes aller gegen alle im Naturzustand“ zu betrachten, „der das Vorspiel zu neuen sozialen Verträgen wäre; vielmehr ist es das Zutagetreten des Ausnahmezustands als permanente Struktur“. Es handle sich „um vorwarnende Ereignisse, die wie blutige Boten den neuen nómos der Erde ankündigen“ (S. 49), „si tratta […] di eventi premonitori che annunciano, come messi sanguinosi, il nuovo nómos della terra […]“ (p. 45).

B. Ein zweites Mal taucht der Jugoslawienkonflikt erst wieder im Schlusskapitel mit der Überschrift „Das Lager als nómos der Moderne“ auf. Der zeitgeschichtliche Hintergrund bei der Niederschrift des Homo sacer bildet den Rahmen; nicht mehr das Ineinander, die fehlende „Ordnung“ („ordinamento“) von Natur- und Rechtszustand im neuen Nómos, als vielmehr die fehlende „Ortung“ („localizzazione“) des Lagers steht im Zentrum der Argumentation, eine „localizzazione dislocante“ (eine „entortende Verortung“ – wie es in der Übersetzung heißt). Sie erfasst „jede Lebensform und jede Rechtsnorm“:

Das Lager als entortende Verortung ist die verborgene Matrix der Politik, in der wir auch heute noch leben und die wir durch alle [seine] Metamorphosen hindurch zu erkennen lernen müssen, in den zones d’attente unserer Flughäfen wie in manchen Peripherien unserer Städte. Es ist das vierte unablösbare Element, das zur alten Trinität von Staat, Nation (Geburt) und Territorium hinzugekommen ist und sie aufgesprengt hat. (S. 185 / p. 197)

Die paradoxe Struktur der „localizzazione dislocante“, welche das neue politische System erfasst, kennzeichnet nicht nur das Lager, sondern auch schon die Transiträume, die von Marc Augé genannten „Non-lieux“. (3) Dadurch wird die Trinität in der Organisationseinheit Staat, in der Grundregel der Nativität, in der Nation, und in ihrer Lokalisierung, im Territorium, völlig durchkreuzt. „In dieser Perspektive müssen wir das Wiederauftauchen der Lager in einer in gewissem Sinn noch extremeren Form in den Territorien („nei territori“) von Ex-Jugoslawien sehen.“ Dabei betont Agamben, dass dieser Prozess – wie man noch heute im offiziellen Sprachgebrauch euphemistisch weismachen will – gerade nicht einer Transitionsphase oder einer „Wiederholung von Nationalstaatsbildungen wie in Europa des 19. Jahrhunderts“, sondern vielmehr einem „unheilbaren Bruch mit dem alten nómos“ gleichkomt („una rottura immedicabile del vecchio nómos“). Und dann bringt es Agamben auf den Punkt:

Vielmehr handelt es sich […] um eine Verschiebung der Bevölkerungen und der menschlichen Leben entlang völlig neuer Fluchtlinien [una dislocazione delle popolozioni e della vita umana secondo linee di fuga interamente nuove]. Daher die entscheidende Bedeutung der Lager der ethnischen Vergewaltigung. Wenn die Nazis nie daran gedacht haben, die „Endlösung“ durch Schwängerung der jüdischen Frauen [ingravidando le donne ebree] in die Tat umzusetzen, dann deshalb, weil das Prinzip der Geburt, das die Einschreibung des Lebens in die nationalstaatliche Ordnung sicherte, noch irgendwie funktionierte. (S. 185 / p. 197)

Es geht also nicht nur um eine Reorganisation bzw. Homogenisierung des neuen Staates nach ethnischen Kriterien und eine damit verbundene Verschiebung von großen Bevölkerungsgruppen, wie wir sie beinahe ein Jahrhundert zuvor aus anderen europäischen Kontexten her, aus der Nationalstaatsbildung Polens, Griechenlands, der Türkei oder Deutschlands, kennen. Es geht nicht einmal mehr um die „Endlösung“, sondern um einen Eingriff ins biologische, ins nackte Leben selbst, in „la nuda vita“. Dies führe – so Agamben weiter – zu „zunehmend deliranteren normativen Definitionen der Einschreibung des Lebens in den Staat [piú deliranti definizioni normative dell’inscrizione della vita nella Città]“. Die Schlussfolgerung lautet: „Das Lager, das sich mittlerweile fest in seinem Inneren eingelassen hat, ist der biopolitische nómos des Planeten.“ (S. 186) [„Il campo, che si è ora saldamente insediato al suo interno è il nuovo nómos biopolitico del pianeta.” p. 198] Dieser Gedanke kulminiert im letzten „Schwellenkapitel“ in der Ununterscheidbarkeit von zoé und biós, von biologischem und politischem Körper (S. 193). Nach einer ganzen Reihe von Beispielen, u.a. des „Muselmanns“, wird das letzte der Gegenwart genannt: „Da wäre der Körper der bosnischen Frau von Omarska, ein perfektes Beispiel für die Ununterscheidbarkeit zwischen Biologie und Politik.“ (S. 196) Im italienischen Original ist dieser Satz lediglich in einen Satzteil verpackt, der umso markanter ausfällt: „[…] come il corpo della donna bosniaca a Omarska, perfetta soglia di indifferenza fra biologica e politica“ (p. 209) „Der Körper der bosnischen Frau“ ist nicht einfach „Beispiel“, wie dies die Übersetzung suggeriert. Vielmehr ist er die „Schwelle“ schlechthin: „perfetta soglia“. Damit fallen Beispiel und Verfahren bei Agamben zusammen, nennt er doch dieses letzte Kapitel – wie auch zwei vorangehende (4)– schlicht und einfach „soglia“. Auf dieser „Schwelle“ soll nun zur beschriebenen Faktualität in der Literatur gewechselt werden, zu den zwei Frauenberichten aus dem bosnischen Lager.

 

2. „Kao da me nema“ von Slavenka Drakulić und „Apartmanm 102“ von Jadranke Cigelj

Das Schicksal der fiktiven Figur S. im Roman Kao da me nema (Als gäbe es mich nicht) von Slavenka Drakulić ist schnell zusammengefasst: Sie wird als junge Gebirgsdorflehrerin im Spätfrühling 1992 von einem jungen serbischen Soldaten abgeschleppt, auf einen Bus verladen und in ein Lager transportiert, welches nicht genannt wird. Dort erlebt sie unsagbare Grausamkeiten und Hinrichtungen an den Männern. Sie hat gewissermaßen Glück im Unglück und kommt in den so genannten „Frauenraum“, in dem sie regelmäßig von den Soldaten an der Front vergewaltigt wird. Bald kommt sie als distinguierte Städterin aus dem Stadtteil Grbavica in Sarajevo in den Genuss, Geliebte des ebenso distinguierten Lagerkommandanten zu werden. Fast ein halbes Jahr später gelangt sie dank eines Austauschtransports mit den anderen Frauen nach Zagreb in ein Durchgangslager. Hier wird festgestellt, dass sie schon im fünften Monat schwanger ist – zu spät für eine Abtreibung. Sie entscheidet sich, das Kind nach der Geburt zur Adoption freizugeben, um nicht weiter diesen „Tumor“ (Drakulić, S. 13) – wie sie sagt – bei sich zu haben. Nach der Zwischenstation in Zagreb gelangt sie nach Stockholm, wo sie schließlich ihr Kind zur Welt bringt. Den Plot erzähle ich hier bewusst noch nicht zu Ende. Denn was die Autorin Slavenka Drakulić ihrer Protagonistin widerfahren lässt, nennt eine andere Schwelle als diejenige von Agamben. Zum zweiten Plot: Die Rechtsanwältin und damalige HDZ-Aktivistin Jadranka Cigelj, welche in der Ich-Form in Apartman 102 berichtet, wohnt in der nordwestbosnischen Gemeinde Prijedor, welche am 30. April 1992 von den bosnischen Serben im Verbund mit dem Überbleibsel der jugoslawischen Volksarmee eingenommen wird. Wer wie sie nicht Serbe ist, muss ein weisses Armband tragen und ist Terror und Willkür ausgesetzt. Am 14. Juni 1992 kommt Jadranka Cigelj für fast zwei Monate ins genannte Lager Omarska, ein ehemaliges Bergwerksgelände zwanzig Kilometer nördlich von Prijedor. Dreitausend, meist bosnische Muslime, werden dort umgebracht. Jadranka Cigelj ist eine von 37 gefangen gehaltenen Frauen in Omarska, fünf von ihnen werden getötet.

In erzählter Zeit, in Ort des Geschehens und in der Perspektive ist der vorliegende Augenzeugenbericht Cigeljs kongruent mit dem Romanplot von Drakulić: Beide Geschichten spielen zu Kriegsbeginn in Bosnien 1992, als innerhalb von acht Monaten zwei Millionen Zivilisten von ihrem Zuhause vertrieben wurden. Radikaler hätte sich der neue Schnitt, der sich „entlang völlig neuer Fluchtlinien“ manifestiert, nicht äussern können. Im Roman von Drakulić ist die Mutter von S. Serbin, der Vater Muslim, ein durchaus normales Herkunftsmuster: „Deshalb hat sie gedacht, von einer Volkszuordnung wäre sie ausgenommen – bis gestern, bis zu der Ankunft der bewaffneten Männer und Soldaten im Gebirgsdorf.“ (Drakulić, S. 35) Das Zentrum beider Plots bildet der so genannte „Frauenraum“, der bei Cigelj dem titelgebenden „Appartement 102“ entspricht. Zwar gibt es den graduellen Unterschied, dass nur im „Frauenraum“ bei Drakuli? die Frauen den Soldaten jeglicher Willkür ausgesetzt sind. Ebenso werden die Frauen von „Appartement 102“ Opfer sexueller Übergriffe – doch dies außerhalb ihres Raumes; denn sie sind primär für die kärgliche Essensausgaben an die Internierten und zum Tode Verurteilten zuständig. Dieser Ausnahmezustand innerhalb des Ausnahmezustands bildet einen nochmals eigenen Raum, von dem aus die Verbrechen, scheinbar abwesend, nur aus der Ferne oder vom Rande wahrgenommen werden, obwohl man sich mitten im Grauen befindet:

Die Bewohnerinnen des „Frauenraumes“ müssen lernen, dass es für sie keine klaren Grenzen zwischen Tag und Nacht gibt. Tagsüber schlafen oder dösen die Mädchen. Nachts spürt man die Angst im Zimmer. Mit der Abenddämmerung beginnt das Lauschen und Rätseln. Sie hören schon von weitem, wenn Autos oder Lastwagen ankommen. (Drakuli?, S. 81)

Die Verwischung jeglicher Zeiteinteilung im „Frauenraum“ kontrastiert mit dem klaren Tagesablauf in der „Lagerhalle“ bzw. mit den regulierten Essensausgaben; ebenso steht die erhöhte Aufmerksamkeit, die jedem Geräusch gilt, im Gegensatz zu dem, was man von der Aussenwelt weiss. So wird der Protagonistin S. erst bei der Überführung an die kroatische Grenze im Bus bewusst, dass sich das Land seit acht Monaten im Krieg befindet und dass dies inzwischen dem Normalzustand entspricht: „S. hört, wie der Fahrer dieses Wort sagt: Krieg. Er spricht es ganz normal aus, während S. sich noch nicht einmal nach so vielen Monaten im Lager völlig daran gewöhnt hat.“ (Drakuli?, S. 133) In der meist unterkühlten, leicht distanzierten Perspektive nimmt die Erzählerin in der dritten Person eine intern fokalisierte Position ein, welche bei noch näherem Hineinzoomen in ihre Gefühlswelt sporadisch in einen inneren Monolog in der Ich-Form kippt, der im Original wie in der Übersetzung kursiv gesetzt ist.

Sie reden über Folterungen mit Strom im anderen Lager. Offenbar haben sie das mit eigenen Augen gesehen und sprechen nun darüber. Es fallen Wörter wie Elektrokabel, Säge. Allein von diesen Wörtern glaubt sie den Verstand zu verlieren.

Wie kann ich irgend jemandem die Isoliertheit erklären, in der wir gehalten wurden? Man erfuhr alles, aber die Informationen waren unzuverlässig, nicht bestätigt. Obwohl das neben einem [dir] passiert, glaubt man [glaubst du] es nicht. Und selbst wenn du es glaubst, so kannst du nicht daran denken, es würde dich umbringen. Du glaubst es erst, wenn du es siehst. Vielleicht ist gerade diese absichtliche Blindheit das, was man Selbsterhaltungstrieb nennt... (Drakuli?, S. 51f. / O: s. 48)

Bei der Erzählung über die nicht beschreibbaren Grausamkeiten gleitet die Erzählerin auf einer allgemeineren reflektierten Ebene in die Ich-Form ab: „Kako mogu bilo kome objasniti izoliranost u kojoj su nas držali?“ Gleichzeitig wechselt sie unversehens in die grammatische Vergangenheit, womit sich die Erzählposition der Ich-Person auch zeitlich von der Sie-Erzählung dermaßen absetzt, dass das Vorhergehende in einem historischen Präsens erscheint. Eine irritierende Durchmischung der Zeitebenen von (erinnernder) Erzählung und Reflexion ist die Folge. An diese Stelle schliesst sich die Erörterung der notwendigen „Blindheit“ an. Aber als ob auch diese nicht in der Ich-Form möglich wäre, weicht die Ich-Erzählerin sehr schnell auf das Du aus: „Iako se to događa pored tebe, ti ne vjeruješ.“ Dieses Du könnte sich an jemanden, beispielsweise an den Leser oder die Leserin, richten. Aber hier scheint es vielmehr die Einheit von erinnernder und erinnerter Erzählerin aufzubrechen, damit ein innerer Dialog zur Aufarbeitung des Traumas möglich wird. Im Anschluss an diese Stelle folgt der Eintrag „Bosnien, Juni 1992“, in welchem sie sich ihrer Identität versichert:

Sie muss sich überzeugen, dass es sie noch gibt als Person, als S., zumindest anhand der Sachen, die ihr gehören. Ihre Identität ist ihr bis zu diesem Jahr niemals fraglich erschienen. […] Jetzt aber ist ein Schattenreich entstanden, in dem andere Regeln herrschen. (Drakuli?, S. 52)

Gerade im Krieg, der unter dem Vorwand von Identitätszuweisungen geführt wird, bricht die persönliche Identität auseinander. Was vorher nicht „fraglich erschienen“ ist, kann nur noch über die letzte Habe bewiesen werden. Die Behauptung von Identität im offiziellen nationalistischen Diskurs und deren gleichzeitig stattfindender Verlust scheinen in diesem „Schattenreich“ des Lagers, des Ausnahmezustands, wie Vor- und Rückseite einer Moebiusschlaufe zusammenzugehören. Die aufgebrochene Erzählposition ist so als Resultat einer verhängnisvollen Politik der intendierten Eindeutigkeit zu verstehen, auf die sogar die Täterseite mit Verlegenheit reagiert, da sie eine Lüge darstellt. (5) Dass man sich darüber ausschweigt, versteht sich beinahe von selbst. Die Frauen berichten nicht, was ihnen zugefügt wird:

Wir waren im Verbergen von Gedanken und Gefühlen so geschickt geworden, dass an perfektes Schauspiel grenzte. Nur mit dem Unterschied, dass an diesem Ort ein erfolgreiches Schauspiel einen Tag Überleben ausmachte. (Cigelj, S. 179)

Doch nicht nur die Opfer untereinander verbergen das Ihnen Zugefügte; besonders gegenüber den Tätern wird die Lüge perpetuiert, wird die Lüge „permanent“:

Ž. rief eine Frau nach der anderen zu sich und stellte allen dieselbe Frage: „Wer wurde vergewaltigt? Wer war der Vergewaltiger?“ Allen sagte er dasselbe: Sollte so etwas passieren, müssten wir es ihm sagen und er würde die Täter bestrafen. Wir antworteten alle das Gleiche: „Niemand hat uns vergewaltigt und wir haben ruhig geschlafen in der vergangenen Nacht.“ (Cigelj, S. 184)

Durch dieses Verschweigen wird die nationalistische Lüge noch viel effizienter verbreitet. Sie hat vor allem ein Ziel: Dieses besteht weniger in der Zerstörung der politischen Integrität einer Person, als vielmehr in der Zerstörung des biologischen Körpers. In der Prolepse gleich zu Beginn von Drakuli?s Roman, nach der Geburt ihres Vergewaltigungskindes, bemerkt die Protagonistin S. einen „Riss, der sich nicht schließen will“ (Drakuli?, S. 14) und der auf eine ganze Serie von Ereignissen zurückzuführen ist. Erst an deren Ende steht die Vergewaltigung. Zunächst ist es die Reduktion auf das nackte Leben bei der Überführung ins Lager: „An einem einzigen Tag wurden wir alle auf ein Mindestmaß zurückgeführt, auf das bloße Dasein [na golo postojane].“ (S. 33 / s. 31) Im Folgeschritt „verwandeln sich“ die Körper „in einen Teil der Maschinerie, deren Funktionieren und deren Zweck sie erst ahnt“ (Drakuli?, S. 40). Genau hier bringt Drakuli? das auf den Punkt, was Agamben in Ausnahmezustand „biopolitische Maschine“ nennt. (6) Das fast tadellose Funktionieren dieser Maschine basiert vorab auf der Unterteilung in Frauen von „falschem Blut“ und in Soldaten mit „rechtem Blut“. Dies macht die Frauen im „Frauenraum“ austauschbar (S. 82); der Mechanismus überträgt sich auf die Opfer, welche selber zu Täterinnen werden, wenn sie die frisch geborenen Vergewaltigungskinder auf der Stelle eliminieren. (7) Die Reduktion der biopolitischen Maschine erfasst aber auch die Täter: „Für S. ist klar, auch jene sind Gefangene, ohne Individualität, ohne Gesicht. Ihre Körper, ihr Wille gehören ebenfalls nicht ihnen, sondern der Armee, dem Anführer, der Nation.“ (Drakuli?, S. 82) Damit nivelliert die Erzählerin nicht den Unterschied zwischen Tätern und Opfern. Vielmehr gelingt es ihr, die „Maschine“ des Ausnahmezustands, der sich überall festsetzt, klar zu umreissen. Denn er ist umso wirksamer, je besser sich Täter und Opfer kennen – ein Phänomen, das sich wie ein roter Faden durch beide Berichte zieht.

So bietet die Bekanntschaft vor dem Krieg oftmals den eigentlichen Anlass zur Vergewaltigung. Beispielsweise trifft Cigelj bei einem Verhör auf einen Mann, der ihr „bekannt“ ist. Er gibt ihr zu verstehen, dass sie oftmals mit demselben Bus zur Arbeit gefahren seien, er ihr aber offenbar nicht aufgefallen sei: „Jetzt kannst du keine desinteressierte Dame mehr spielen. Jetzt wirst du reden müssen!“, droht er ihr, bevor er ihren Willen gewaltsam bricht. (Cigelj, S. 185f.) Auf die Spitze treibt dies Drakuli? in einer Episode, in welcher das Mädchen A. von einem Soldaten in der zu Beginn des Krieges noch ungewöhnlichen schwarzen Uniform der berüchtigten Arkan Tigers beim Namen gerufen wird. Es stellt sich heraus, dass er sie und ihren Bruder gut kennt, worauf sie sich ihm freudig anschließt. Das Resultat dieser Wiederbegegnung:

Das Wesen, das am Abend des folgenden Tages in den „Frauenraum“ zurückkommt, ist nicht mehr A. Sie ist nicht wiederzuerkennen. [...] Diese befindet sich nicht mehr in dem Körper, den sie vor sich sehen. (Drakuli?, S. 90f.)

Ihr Körper wird durch Einritzungen nationalistischer Symbole verunstaltet. Doch kaum beginnen die Wunden zu verheilen, stirbt sie. Die sich erinnernde Erzählerin fügt der Episode an: „Das schlimmste war, der junge Mann hat sie tatsächlich gekannt, er war ein Freund ihres Bruders gewesen.“ (Drakuli?, S. 91, kursiv von der Autorin) Die Maschine, welche sich die Verquickung von Freund und Feind in einer Person zur Hilfe nimmt und somit jegliche zwischenmenschliche Beziehung aushebelt, bedient sich der Vergewaltigung als ultima ratio des Ausnahmezustands gleich in doppelter Weise: Erstens stellt die Vergewaltigung eine Schande für die Frauen vom Land dar, denn „wenn bekannt wird, dass sie geschändet sind, können sie nicht wieder ins Dorf zu ihren Männern oder den Eltern zurückkehren“ (S. 63). Mit der Vergewaltigung gelingt es dieser „Maschinerie“, nicht nur Bekannt- und Freundschaften, sondern letztlich die engste Familienbande zu zerstören. Zweitens wird die aufs nackte Leben reduzierte Person in ihrer Körperlichkeit (als letztes Residuum von Individualität) endgültig gebrochen. Dies wird auch entsprechend von den Tätern so formuliert, doch Cigelj kann ihrem Vergewaltiger immerhin entgegnen: „Du hast mich nicht gebrochen. Du hast mich wie eine Frau begehrt. Dabei könnte ich deine Mutter sein!“ (Cigelj, S. 182) Bei Drakuli? tönt es ähnlich: „S. spürt keinen Schmerz. Etwas in ihr ist zersprungen. Sie ist ganz ruhig und ganz ausserhalb ihrer selbst.“ (S. 69) Und: „S. sagt sich, das sind ihre Beine, doch sie spürt sie nicht. Als gäbe es mich nicht, denkt sie.“ Genau an diesem titelgebenden Kulminationspunkt überschreitet die fiktionale wie die faktuale Augenzeugenschaft eine Schwelle, welche Agamben gar nicht betritt.

 

3. Verfahren wider die Struktur des Ausnahmezustands

Die fiktionale und monoperspektivische Erzählhaltung von Drakuli? kontrastiert eklatant mit der faktualen Ich-Erzählung Cigeljs, welche einerseits durch Vor- und Nachwort bereits einen Rahmen erhält, andererseits durch längere Einschübe aus Tagebuch-Einträgen des in Prijedor zurückgebliebenen Miki Jakimovski ständig durchbrochen wird. Dazu kommen Rückblenden der Autorin ins Jahr 1991, als der Krieg bereits in Kroatien wütete und noch niemand in Bosnien daran zu denken wagte, dass es dort noch viel schlimmer kommen würde. Doch im fiktionalen wie im faktualen Erzählen wird vor allem eines zum Ausdruck gebracht: die schiere Unmöglichkeit des Berichten-Müssens. Drakuli? wählt darum eine implizite interne Fokalisierung, welche Nicht-Wissen und Nicht-alles-Erzählen-Müssen legitimiert. (8) Cigelj hingegen macht in ihrem polyperspektivischen Erzählmodus explizit gleich zu Beginn, im Begleitwort zur deutschen Übersetzung, auf Leerstellen aufmerksam:

Die Schilderungen sind nur ein kleiner Ausschnitt der schrecklichen Wirklichkeit, denn manches habe ich nicht aufgeschrieben, weil es dafür keine Worte gibt und nicht vorstellbar ist für Menschen, die nie einen Krieg erlebten. (Cigelj, S. 10)

Und dennoch: Im wiederholten Benennen der Leerstellen verschwinden diese nicht, sondern treten immer deutlicher hervor. Damit macht die überlebende Zeugin zweierlei Sachverhalte bewusst: erstens die Unmöglichkeit, alles im Medium der Sprache zu erfassen; zweitens den Tatbestand, dass mit jedem Versuch, das Unbeschreibliche zu beschreiben, ein Schritt über eine weitere Schwelle gewagt wird. Verklausuliert kommt das bei Drakuli? zum Ausdruck, wenn sie die Täter beschreibt – welche sich mit dem Aufsuchen des „Frauenraums“ der „biopolitischen Maschine“ entziehen wollen: „Für einen Augenblick meinen sie, etwas anderes zu sein, wenn sie auf der Schwelle zum ‚Frauenraum‘ stehen. Herren zu sein.“ (Drakuli?, S. 82) Überraschenderweise folgt diesem allgemeinen Gedankengang der konkreten Schwelle zum „Frauenraum“ keine Vergewaltigungsszene, sondern eine Episode, in welcher sich S. mit einem jungen und unsicher auftretenden Soldaten zurückzieht, der „seinen Kopf an ihre Brust“ lehnt und einschläft (S. 84). Obzwar darauf für beide eine drakonische Strafe folgt, ermöglicht diese Leerstelle etwas anderes, das den Mechanismus des „permanenten Ausnahmezustands“ zumindest zeitweilen aushebelt und so etwas wie gegenseitige Anerkennung von Würde und Körper der Person, von bios und zoe, erlaubt. Ebenso berichtet Cigelj neben dem Grauen im Lager Omarska von ihrer Liebesgeschichte mit dem muslimischen Mediziner Doktor Esad, der unter gefährlichsten Umständen jeweils in den Raum der Frauen, ins Appartement 102, gelangt. Bei einer der letzten Begegnungen, nachdem er bei einem Verhör mit einem Gummiknüppel zusammengeschlagen worden war, gelingt es ihr, die Wache so zu überlisten, dass sie im Waschraum zueinander finden:

So sehr wünschte ich mir Wärme, fühlte mich aber schmutzig und der Liebe nicht würdig. Ich könnte ihm nicht sagen, dass ich nicht mehr die Frau war, die ihm früher gefallen hatte. Ich war ein Wrack, das von der Wut unserer Wärter gegen Wände des Hasses geschlagen wurde. Und dann, als ob er die gesamte Kraft der Vergangenheit gesammelt hätte, streckte er seine Arme aus und trotz gespielten Ärgers versank ich in ihnen. Der Kuss war ein Impuls aus der Zeit, aus der wir herausgerissen waren. Es war der Wunsch zu leben und endlos zu lieben an einem Ort voller Schmerz und Hoffnungslosigkeit. (Cigelj, S. 201f.)

Doktor Esad wird in Omarska am 4. August 1992, einen Tag nach der Abfahrt von Jadranka Cigelj ins Lager Trnopolje, ermordet. Sie überlebt und hinterlässt uns diesen Bericht, um die scheinbar unabwendbare Logik des Ausnahmezustands zu durchbrechen. Zwar auf andere Weise, doch mit derselben Konsequenz geht Drakuli? in ihrem Roman mit ihrer Protagonistin S. um, welche ihr in Schweden geborenes Kind zur Adoption frei geben will, um so ihrer Vergangenheit im Lager vermeintlich auf immer zu entrinnen. Gleichzeitig geht ihr durch den Kopf, dass „diesen Kriegskindern beschieden [ist], in Lüge aufzuwachsen“ (S. 204), womit sich die Logik des Krieges fortsetzen würde. Darum kann sie sich nicht mehr von ihrem Neugeborenen abwenden, der neben ihr liegt:

Nur sie kann ihm zeigen, dass der Hass, in dem er gezeugt wurde, in Liebe verwandelt werden kann. Sein kleiner Körper wendet sich. Sie berührt seine Wange und sein Haar. Eines Tages wird sie ihm sagen, er ist ihr Kind, nur ihres. Einen Vater hat er nicht. Und das ist die Wahrheit. (S. 205)

Damit bieten sowohl faktualer Bericht wie auch die Romanvorlage Lösungsvorschläge, welche der aufgezwungenen Logik einer „völlig neuen Matrix“ zwar in die Augen schaut, ihr aber eigene Strategien entgegensetzt. Diese nehmen die „Verschiebung […] der menschlichen Leben entlang völlig neuer Fluchtlinien“ nicht einfach so hin. Gerade im Hinblick auf das antizipierende Moment dieses Konflikts erscheinen global inszenierte Konfliktlinien in einem neuen Licht, in dem der „Ausnahmezustand als permanente Struktur“ erscheint. Der „Körper der bosnischen Frau von Omarska“ bietet nicht einfach ein Beispiel, sondern in seiner Verarbeitung eine alternative „Schwelle“ des Durchbruchs gegen diese Struktur.

Literatur:

 


Anmerkungen:

1 In den beiden späteren Büchern aus dem „Homo sacer-Zyklus“, in Stato di eccezione (2003) und Che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone (1998), geht Agamben nicht mehr auf die hier im folgenden skizzierten Argumente im Zusammenhang mit dem Zerfall Jugoslawiens ein.
2 Die Augenzeugenberichte über diesen Krieg, aber auch die fiktionalen Verarbeitungen sind äusserst zahlreich – sowohl in der serbokroatisch-bosnischen Literatur wie auch in anderen Literaturen, insbesondere in der deutschen. Für die Auswahl, welche auf Drakuli? und Cigelj fiel, sprechen vor allem Gender-Argumente und der Handlungsort Omarska. In dieser Reinform sind mir keine weiteren Auseinandersetzungen mit der Lagererfahrung im jüngsten bosnischen Krieg bekannt.
3 Augé wirft einen neuen Blick auf eine veränderte Welt, in der die wichtigsten Lebensmomente in der Welt der „Übermoderne“ in die so genannten „Non-lieux“ ausgelagert werde. Dabei wird aber nicht der eigentliche Gegensatz zwischen Ort und Nicht-Ort ausgespielt. Vielmehrt handelt es sich um „fliehende Pole“. (Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Frankfurt am Main, 1994. S. 94) Exemplarisch kann in diesem Konzept dargestellt werden, wie der Transitraum, das Transitlager, im allgemeinen zum Ausnahmezustand mit „permanenter Struktur“ wird, wovon das Lager Omarska lediglich eine Subkategorie bildet. Vor allem im später besprochenen Roman Kao da me nema von Slavenka Drakuli? werden die Transiträume vom Vernichtungslager in Bosnien über die Transitlager in Kroatien und Schweden auf derselben Ebene abgehandelt. Lediglich die Vorzeichen ändern sich ein wenig.
4 Die Schwellenkapitel liegen jeweils am Schluss der drei Teile im Homo sacer. Um die enge Verbindung zwischen Leben und Souverän im Ausnahmezustand als Einführung zum zweiten Teil, welcher wie das ganze Buch denselben Titel trägt, aufzuzeigen, übernimmt Agamben den Begriff der Schwelle von Benveniste: „Damit das Opfer heilig wird, muss es, wie Benveniste erklärt, ‚aus der Welt der Lebenden ausgeschlossen werden und […] die Schwelle überschreiten, die die beiden Welten trennt: dies ist der Zweck der Tötung‘.“ (Agamben, Homo sacer, S. 77) Dabei zitiert er Émile Benveniste, Indoeuroäische Institutionen. Wortschatz, Geschichte, Funktionen (1969), Frankfurt am Main, 1993, S. 441. Die zweite Schwelle verallgemeinert den Begriff des Homo sacer: „Wir sind alle homines sacri, d.h. nicht opfer-, aber tötbar.“ (Agamben, Homo sacer, S. 124).
5 Diese Fraktion findet deutlich bei der Aufforderung des Hauptmanns an S., welche mittlerweile als Geliebte bei ihm sporadisch Unterschlupf findet, von sich zu erzählen, ihren Ausdruck: „Seine Aufforderung verwirrt sie. Über sich erzählen? Über welches Ich, fragt sie ihn. Nun ist auch er verlegen. Über das frühere Leben natürlich. Wie sie hier lebt, interessiert ihn doch nicht!“ (Drakuli?, S. 104) Einen noch deutlicheren Niederschlag findet diese Identitätsspaltung in früheres und jetziges Leben später im Text: „Wenn sie sich umdreht, sieht sie sein verschlafenes Gesicht, sein vorheriges Leben und die jetzige Lüge.“ (Drakuli?, S. 118) Mit dieser Bezeichnung findet sich die Protagonistin in bester Gesellschaft mit dem noch während des Krieges 1995 erschienenen Essaybandes von Dubravka Ugrešić, Kultur der Lüge (Kultura laži). Im gleichnamigen Essay zeigt sie, indem sie Vance Owens Erklärung aufnimmt, man lebe in Ex-Jugoslawien „mit der Kultur der Lüge“ (Ugrešić, S. 105), wie die Lüge in diesem Krieg zur Wahrheit mutiert. Exemplarisch und in diesem Zusammenhang relevant nimmt sie Bezug auf das Medienereignis vor dem Krieg, als ein serbischer Bauer namens Martinović „angeblich mit einer Flasche im After auf seinem Feld gefunden wurde“ (S. 109). „Nach Martinović folgten zahlreiche, von den serbischen Medien aufgeblähte ‚Beweise‘ für den ‚Genozid‘ der Albaner an der serbischen Minderheit im Kosovo.“ (S. 110) Darauf die Schlussfolgerung: „Wie in den fluchbeladenen balkanischen Ländern schließlich jede Lüge zur Wahrheit, jedes gesagte Wort zur Realität wird, so sollte sich wenige Jahre später ein männlicher, vom psychologischen Gesichtspunkt betrachtet zutiefst homosexueller Krieg ereignen und die Strategie der Vergewaltigung zum brutalen Alltag werden. Vergewaltigt werden natürlich Frauen, die an alldem keine Schuld tragen und deren Körper als Medium zur Entsendung männlicher Botschaften dienen.“ (S. 110)
6 „[D]ie Möglichkeit selbst, Leben und Recht, Anomie und nómos zu unterscheiden, fällt mit ihrer Verbindung in der biopolitischen Maschine [con la loro articolazione nella macchina biopolitica] zusammen. Das nackte Leben ist ein Produkt der Maschine [La nuda vita è un prodotto della macchina biopolitica] und nicht etwas, das vor ihr existiert […].“ (Agamben, Ausnahmezustand, S. 103 / p. 112)
7 Beim Transport aus dem Lager ins Transitlager in Zagreb bemerkt S., dass sie schwanger ist. Als sie M., eine Frau mit ihr auf der Flucht, fragt, was sie mit dem Neugeborenen tun würde, ist deren Antwort: „Wenn mir das passierte, würde ich das Kind einfach mit eigener Hand erwürgen […].“ S. Sinnieren über eine solche Antwort könnte eindeutiger wohl kaum ausfallen: „Wir sind keine Menschen mehr, denkt S., das Lager hat uns dazu gebracht, dass wir uns nicht mehr als Menschen fühlen. […] Sie fühlt sich in einer Falle. Um sie ist ein Mechanismus aufgebaut, der Menschen in Unmenschen verwandelt, und sie beginnt genau so zu funktionieren, wie man es von ihr erwartet. Mit Schrecken sieht sie, dass sie, wie alle anderen, auch selber bereit ist zu hasse. Wieder öffnet sich ein Loch in ihrem Inneren, das alles Menschliche in ihr verschlingt und sie auch selbst zu verschlingen droht.“ (Drakuli?, S. 139)
8 „Vielleicht ist es im Krieg so, dass Worte plötzlich überflüssig werden, da sie die Wirklichkeit nicht mehr auszudrücken vermögen. Die Wirklichkeit entzieht sich den bekannten Ausdrücken, und neue Worte, in die sich diese neue Erfahrung einbringen ließe, gibt es einfach nicht.“ (Drakuli?, S. 68)

6.8. Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive

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For quotation purposes:
Boris Previšić: Der Zerfall Jugoslawiens: „Ausnahmezustand als permanente Struktur“ in der literarischen Verarbeitung - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/6-8/6-8_previsic17.htm

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