TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 6.8. Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive
Sektionsleiter | Section Chair: Oliver Ruf (Universität Trier)

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Das Ghetto als Ausnahmezustand

Monika Tokarzewska (Torun) [BIO]

Email: monikat@uni.torun.pl

 

Die Mauer

Chaim A. Kaplan, Warschauer Jude, kein unbekannter Schriftsteller, Leiter einer hebräischen Schule und Pädagoge, der das Schicksal der jüdischen Bevölkerung Warschaus von den ersten Tagen der Bombardierung und Eroberung durch die Deutschen, über die Ghettoisierung und die Todestransporte bis zum Ende teilte, notierte am 10. November 1940 in seinem hebräisches Tagebuch:

Eine Stadt von fünfzigtausend Juden geht ins Exil.
Sehr bedeutungsvoll ist es, dass in allen Durchgangsstraßen, die in die arischen Viertel führen, hohe Mauern errichtet werden, um uns den Zugang zur arischen Welt zu versperren. Zur Zeit sind nur noch die Straßen offen, die mit dem jüdischen Ghetto durch Schienenstränge verbunden sind. Ferner sind die jetzt errichteten Mauern höher und massiver als die früheren. Vor unseren Augen wird ein Kerker gebaut, in den eine halbe Million Männer, Frauen und Kinder schmachten wird, und niemand weiß, wie lange. (1)

Kaplan beschreibt mit diesen Worten die Errichtung der Ghettomauer in Warschau, das mit 380 000 jüdischen Einwohnern (30 % der Stadtbevölkerung) (2) am Vortag des Kriegs die größte jüdische Gemeinde Mittelosteuropas darstellte. Er gibt in seinem Bericht dem Gefühl Ausdruck, dass das, was vor seinen Augen entsteht: nämlich die Ausgrenzung eines Teils der Gesellschaft, durch die diese sowohl faktisch als auch symbolisch in einen Ausnahmezustand versetzt wird, im 20. Jahrhundert etwas Unerhörtes ist. Ende November 1940 erfolgte die Schließung der Mauertore des Ghettos, etwas später wurde jeder, der ohne Passierschein hinein oder hinaus zu gelangen versuchte, erschossen.

Für den Transfer zwischen der „arischen“ Seite und dem Ghetto waren Passierscheine eingeführt worden: gelbe für die Deutschen und die Polen, gelbe mit einem blauen Streifen für die Juden. Zusätzlicher Isolierungsfaktor war ein Strafsystem für ein eigenmächtiges Übertreten der Ghettogrenzen: Ab Oktober 1941 galt für Juden, die man auf der „arischen Seite“ fasste, die Todesstrafe. Diese Strafe drohte auch Polen, nämlich „Gehilfen und Anstiftern.“ (3)

Man muss nicht hinzufügen, dass die Ausstellung und Vergabe von solchen Passierscheinen noch und noch Gelegenheiten zur Korruption schufen.

Nicht alle Ortschaften in den besetzten Gebieten im Osten hatten ein mit einer Mauer umgrenztes, strikt geschlossenes Ghetto. Zur Entstehung einer Mauer kam es in großen Städten wie Warschau, Krakau, Wilna. In den meisten Fällen waren die Ghettogrenzen lediglich mit mehr oder weniger provisorischen Zäunen markiert, oder blieben gar ohne jede Markierung. (4) Die Politik der Besatzer in den polnischen Gebieten vollzog sich von Anfang an so, dass man kleinere jüdische Gemeinden aus provinziellen Ortschaften in größere Städte umsiedelte; zum Teil flohen die Juden auch selbst in große und größere Städte wie Warschau, aus Furcht vor Repressalien vor Ort und weil Gerüchten zufolge dort bessere Lebens- und Überlebensbedingungen herrschten. Als grundlegendes Dokument für die Anfangsphase der Besatzung gilt Reinhard Heydrichs Schnellbrief, der am 21. September 1939 an die Leiter aller Einsatzgruppen im Osten gerichtet worden war. Heydrich war Chef des Reichssicherheitshauptamts und als solcher war er mit der Gründung der Reichs-Zentrale für die jüdische Auswanderung beschäftigt, an deren Spitze er Adolf Eichmann gestellt hatte. Der Schnellbrief sah vor, die jüdische Bevölkerung in den besetzten Gebieten in größeren Städten, die möglichst über einen Eisenbahnanschluss verfügten, zu konzentrieren. Diese Maßname zeugt von dem anfänglichen Plan, die Juden Europas außerhalb des Kontinents zu vertreiben. Später sollte sich die Eisenbahnnähe allerdings als „logistische Erleichterung“ im Werk der Vernichtung erweisen. (5) Den Verordnungen Heydrichs folgten dann Erlasse des Generalgouverneurs Hans Frank:

Grundlage der Errichtung der Ghettos im Generalgouvernement war Franks Erlaß vom 13. September 1940 über Aufenthaltsbeschränkungen und Verwaltungsstrafverfahren im Generalgouvernement; die ersten Ghettos auf besetztem polnischen Gebiet entstanden jedoch schon Ende 1939 in Piotrków Trybunalski und Radomsko. (6)

Interessanterweise erfolgten Erlasse zur Gründung von Judenräten früher als die bezüglich der Ghettos. Heydrichs Schnellbrief sprach auch von Judenräten; ein entsprechender Erlaß Franks wurde am 29. September 1939 bekanntgegeben. Das zeugt höchstwahrscheinlich davon, dass die Disziplinierung der jüdischen Gemeinden und die Erstellung von Verzeichnissen der Juden und ihres Besitztums für die Besatzer wichtiger waren als deren physische Isolierung. Der Prozess der Ghettoisierung verlief je nach Ort unterschiedlich schnell. Eine Besonderheit stellt das einzige lang (über das Jahr 1943 hinaus) existierende Ghetto in dem an das Reich angeschlossenen Gebiet dar, (7) nämlich Łódź bzw. Litzmannstadt, das im Februar 1940 entstand und das durch seine im Vergleich zu den Ghettos im Generalgouvernement durch seine weitgehende Isolierung von der „arischen“ Außenwelt wie auch durch die Gestalt des dortigen Vorsitzenden des Judenrats, Chaim Rumkowski, bereits in den Kriegsjahren einen bösen Rum erworben hatte. (8) Ins Generalgouvernement drangen Gerüchte über die Errichtung dieses Ghettos und über die dort herrschenden grausamen Bedingungen, die für Furcht vor Gleichem auch in Warschau und woanders sorgten. Emmanuel Ringelblum, jüdischer Historiker und Sozialaktivist, notiert im Februar 1940 in seiner Chronik des Warschauer Ghettos:

9, 12, 13, 14 Februar 1940
Einen großen Eindruck [machte] die Nachricht über das Łódzer Getto. Man darf nur soviel mitnehmen, wieviel man tragen kann. Wieder spricht man von einem Ghetto in Warschau. Es soll Praga und einige jüdische Stadtviertel umfassen. Vor kurzem erschien eine Verordnung bezüglich der Requisition, die auch Ämter und Institutionen zu Beschlagnahmungen berechtigt. (9)

In Warschau gab es über einen langen Zeitraum immer noch nur Verordnungen, welches Stadtviertel nun den Juden, den Polen und den Deutschen gehören soll, ohne markierte und eindeutig festgelegte Grenzen, die immer wieder aus unterschiedlichen Gründen verschoben wurden. Mary Berg, deren Mutter amerikanische Jüdin war und dank dem amerikanischen Pass ihre Tochter Anfang 1943 aus dem Warschauer Ghetto in die USA retten konnte, schrieb in ihrem Tagebuch, das sie seit den ersten Kriegstagen führte:

12 Juli 1940
In Warschau gibt es kein Ghetto wie in Lodz, aber es gibt nicht offizielle Grenzen, die die Juden nicht überschreiten wollen, um sich nicht den deutschen Razzien und den Attacken polnischer Hooligans auszusetzen. (10)

Welch große Verwirrung in Warschau bis zum Zeitpunkt der Errichtung der Mauer und der Schließung des Ghettos herrschte, und mit welch großen Leiden vor allem der jüdischen Bevölkerung dieser Zustand verbunden war, belegt die Chronik von Emanuel Ringelblum. Über die Grenzen des zukünftigen Ghettogebietes wurde stets Unterschiedliches bekannt gegeben; die Bevölkerung, insbesondere die polnisch-nichtjüdische, versuchte stets etwas auszuhandeln und die eine oder andere Straße aus dem „jüdischen Wohnviertel“ auszuschließen, weil es dort bessere Wohnbedingungen gab oder weil sich dort eine Kirche befand. Ringelblums Aufzeichnungen, die sehr plastisch die allgegenwärtige Unsicherheit und das Gefühl des Chaos in den ersten Kriegsmonaten in Warschau einfangen, lassen allerdings den Eindruck entstehen, dass auch die Deutschen selbst unschlüssig waren und ihre Entscheidungen im Detail mehrere Male veränderten. (11) Die unklare Hin-und-Her-Situation gab auch unzählige Gelegenheiten zum Raub auf eigene Hand, sowohl von Seiten der Deutschen, aber auch von nicht wenigen Polen, die die Lage ihrer jüdischen Mitbürger im Laufe der Zeit immer häufiger ausnutzten. Bei dem Umzug von ungefähr 250 000 Menschen (12) und während der Zwangsausquatierungen kam es massenhaft zur willkürlichen Aneignung jüdischen Besitzes; insbesondere werden in diesem Kontext die Möbel genannt. Ringelblum und Kaplan erwähnen mehrmals deutsche Soldaten und SS-Männer, die unter dem Vorwand, daß sie nach versteckten Waffen suchen, in die Wohnungen eindrangen und alles, was ihnen gefiel, mitnahmen. Da Juden nur eine kleine Geldsumme und keine Wertgegenstände besitzen durften (bzw. stets den Verlust solcher Gegenstände an die Deutschen befürchteten), vertrauten sie ihre Wohnungsausstattung oder auch ihre Wohnungen polnischen Bekannten an. Dieses anvertraute Gut konnten sie dann in allzu vielen Fällen nicht wieder zurückbekommen – auch wenn ihr Eigentum mit der Absicht entgegengenommen worden war, es aufzubewahren und zurückzugeben. Viele polnische Nachbarn „gewöhnten“ sich mit der Zeit an die rechtslose Lage der Juden und an das über die Juden verhängte Todesurteil und wünschten sich nicht mehr die Rückkehr der rechtmäßigen Besitzer. (13)

Die real existierende Mauer war nur ein äußeres sichtbares Zeichen des Ausnahmezustands, das über die Juden Europas verhängt wurde. Darüber hinaus gab es die Verordnungen, die von den ersten Tagen der Besatzung an erlassen wurden, und die äußere Kennzeichnung mit der Armbinde bzw. mit dem gelben Stern, den Zwang, in bestimmten Straßen zu wohnen, das Verbot, mehr als 2000 Zloty auf dem Konto zu besitzen und mehr als 500 bei sich zu haben, das Verbot, eine Firma zu führen und in eigenen Häusern Wohnungen zu vermieten. In diesen Fällen werden wiederum polnische Bekannte um Hilfe gebeten, indem man ihnen Geschäfte und Häuser als Treuhandgut anvertraut. Doch nach einiger Zeit bekommen viele jüdischen Besitzer keine Prozente vom Gewinn und kein Mietgeld mehr. Juden dürfen keine Pelze besitzen und keine tragen. Mehrere Male müssen sie ihr ganzes Vermögen bei den Besatzungsbehörden registrieren lassen.

Man kann das ganze Naziregime als einen Ausnahmezustand betrachten, doch innerhalb dessen gab es eine Stratifikation, nach der ganzen Bevölkerungsgruppen und ganzen Völkern gewisse Rechte abgesprochen wurden. An unterster Stelle befinden sich die Juden. Und das Ghetto mit seiner Mauer kennzeichnet ihr äußerstes Ausgeschlossensein.

 

Die beiden Seiten der Mauer

Die Ghettos hießen in der nationalsozialistischen Nomenklatur allerdings nicht „Ghettos“, sondern „jüdische Wohnbezirke“. Dieser Ausdruck stand auf den Informationstafeln, die über das beiderseitige Passierverbot informierten. Man trifft auch auf andere Bezeichnung: nämlich „Seuchengebiet“. (14) Diese beiden Begriffe aus dem Sprachgebrauch der Besatzer haben unterschiedliche Funktionen. „Jüdisches Wohngebiet“ führt durch seinen Gebrauch in die neue Ordnung ein, in der es eine ideologisch-rassistisch motivierte Hierarchie der Völker gab, die sich miteinander nicht vermischen durften und auseinander zu halten waren. So durften die Juden nicht dort wohnen, wo Polen oder gar Deutsche wohnten. Der Ausdruck verdeckt darüber hinaus die Grausamkeit der Bedingungen, unter denen die Juden aufgrund der neuen Ordnung leben mußten, er stellt die Ausgrenzung als etwas Normales, Neutrales dar. Die furchterregende Bezeichnung „Seuchengebiet“ hat mit dem ersten Terminus das gemeinsam, dass der Sinn des Geschehens: nämlich die permanente „Herausnahme“ der Juden aus dem Bereich des Menschseins, nicht zur Sprache kommt. Im Sinne der nationalsozialistischen Propaganda sollten Juden und Seuche miteinander assoziiert werden. Es soll Angst bei dem Rest der Bevölkerung – die das jüdische Schicksal nicht teilt – hervorrufen, aber noch mehr eine Begründung für die besonderen Maßnahmen suggerieren, um eben die „Seuche“ zu bekämpfen. Es handelt sich um eine Entmenschlichungsgeste. Die Deutschen haben das Wort „Ghetto“ vermieden, trotzdem war das genau die allererste Bezeichnung der neuen Maßnahme, die in den besetzten Gebieten im Gebrauch war. Vermutlich waren die nationalsozialistischen Erfinder der Nomenklatur von der Zukunftsvision der neuen europäischen Ordnung überzeugt – oder wollten andere davon überzeugen. Es sollte im Sinne der Besatzer ein Zukunftsprojekt im Osten werden, sie faßten es als eine Modernisierung, nicht als die Rückkehr in die dunklen Zeiten des Mittelalters auf. Als eine solche Rückkehr wurde das jedoch von den Betroffenen selbst, von den Juden, interpretiert. Józef Bau, jüdischer Graphiker der das Ghetto Krakau und das Konzentrationslager Płaszów überlebt hat, erinnert sich nach Jahren an die Errichtung der Ghettomauer in Krakau in den folgenden Worten:

Primitive Zeichnungen, die schwarz gewordene Bücher, welche in der internationalen Epoche des finstern Mittelalters gedruckt wurden, verzieren, inspirierten die Erfinder des modernen Isolierbezirks […]. Die Mauer des Ghettos, gleich einem Seil, das aus Haßteilchen der Ziegelsteine geflochten ist, erdrückten die von Juden überfüllten Häuser […] in jedem Zimmer versuchten mehrere Familien mit den verbliebenen Möbeln und den vielen Problemen und Sorgen zu leben […] In den Häusern, deren Fronten auf den Teil außerhalb des Ghettos verwiesen, blieben die Parterrewohnungen ewig dunkel, denn ihre Fenster waren mit Ziegelsteinen vermauert worden. (15)

In Krakau kann man eine fragwürdige Pietät in Bezug auf die Ghettomauer beobachten: in ihrer äußeren Gestalt erinnerte sie an etwas, was man eine primitive Vorstellung vom jüdisch-orientalischen Stil nennen kann. Die Abrundungen über dem Ghettotor sind auf den Fotos zu erkennen (16), Józef Bau skizzierte auch eine Zeichnung davon, die in seinem Buch enthalten ist. Die Gestalt der Mauer in Krakau zeugt davon, dass die Besatzer die (Ost)Juden imaginär orientalisierten, als ein fremdes Überbleibsel in Europa ansahen. Dabei ist natürlich keinerlei echte Inspiration durch geschichtliche Muster im Spiel, sondern eine willkürliche Vorstellung, was „jüdisch“ als Stil heißt, und die als „Verzierung“ gedachten runden Formen erinnern ungewollt, aber mit tragischer Symbolik an die Grabsteine auf jüdischen Friedhöfen. In Józef Baus Erinnerungen ist noch eine weitere aus der Perspektive einer Gesellschaft im normalen Zustand sinnlose Folge der Mauererrichtung zu erkennen: die Straßen und Häuser, durch die die Ghettogrenze verläuft, verlieren ihre Funktion und sterben ab. Und auf den in der polnischen Ausgabe der Ghettochronik von Ringelblum enthaltenen Fotos ist der Bau der Mauer in Warschau zu sehen: sie beginnt eine Straße in der Mitte zu teilen, die nicht mehr passierbar ist, sie wirkt so wie ein unverständlicher Fremdkörper im Organismus einer Stadt.

Die Mauer war allerdings auch wiederum keine Mauer. In keinem der Berichte und Erinnerungen aus der Zeit der Shoah lesen wir, dass es tatsächlich schwierig war, auf die andere Seite zu gelangen. Das war nicht nur in den kleinen provinziellen Ghettos der Fall, die durch keine mehrere Meter hohe Mauer umringt waren, sondern auch in den Großstädten. Der Schmuggel florierte, selbst Kühe und Schweine gingen über die Mauer, geschweige von Mehl, Brot, Butter, Weizenkorn und natürlich auch von Menschen. Unterschiedlichste Wege wurden genutzt: von Löchern in den Mauern (bereits beim Bau haben die jüdischen Zwangsarbeiter in dieser Absicht hier und da eine Ziegel nur sehr locker eingesetzt), über Untergrundtunnels bis zur Bestechung der Wachen, die sich aus deutscher Schutzpolizei, jüdischen Ordnungsdienstmännern sowie polnischen, sog. „blauen“ Polizisten zusammensetzten. Einen Eindruck von der Intensität des Schmuggels geben die meisten Erinnerungen und Tagebücher, insbesondere kann man hier auf die äußerst lebendigen Aufzeichnungen von Jan Kostański zurückgreifen, die fast ausschließlich diesem Phänomen gewidmet sind. (17) Natürlich standen Schmuggler, sowohl jüdische als auch polnische, stets unter Todesgefahr, und so mancher von ihnen ist ums Leben gekommen: in den meisten Fällen betrifft das jüdische Kinder, die aufgrund ihrer Körpergröße und Beweglichkeit beim Schmuggel besonders intensiv mitwirkten, um für ihre hungernden Familien etwas zum Essen zu besorgen. Das einzige Ghetto, von dessen relativer Isolierung in der Literatur die Rede ist, war das Ghetto Litzmannstadt. (18) Zu erklären wäre das wohl damit, dass die Polen aus Łódź vertrieben wurden, und die deutsche Bevölkerung nicht zu dieser Erwerbsquelle neigte. Das Problem war also nicht das Überschreiten der Grenze, sondern die Gefahr, erwischt oder von der polnischen Bevölkerung als Jude erkannt zu werden; das galt auch für Polen, die den jüdischen Mitbürgern halfen, sie mussten sich stets vor dem Verrat seitens anderer Polen fürchten. Andererseits sahen viele Polen in der hoffnungslosen Lage eines Juden, der auf der „arischen“ Seite lebte, eine leichte und sichere Gelegenheit, durch Erpressung materiellen Nutzen zu ziehen. Den Texten der Shoah-Literatur, insbesondere denen, die zur Zeit des Krieges entstanden sind, entnimmt man, dass nicht die Flucht aus dem Ghettogebiet eine unüberwindbare Hürde auf dem Weg zur Rettung war, sondern zumeist die Unmöglichkeit, ein sicheres Versteck auf der „arischen“ Seite zu finden. Das Spektrum der Gefahr zog sich von den auf den Straßen grassierenden Absahnerbanden bis hin zu dem Nachbarn oder der Nachbarin im Treppenhaus, dem/der man nicht anvertrauen konnte, dass man Menschen zu retten versuchte. Das Wesen des Ausnahmezustandes, den das Ghetto in der deutschen Politik darstellte, beruhte aber nicht auf einer vollständigen Isolierung, sondern auf zwei anderen Aspekten: einerseits auf der Ausgrenzung mit seinen symbolischen Markierungen (Armbinde, Zaun, Zutrittsverbot, in ausgeprägtesten Fällen die Mauer), und andererseits auf der faktischen Einbindung der Ghettoisierung in das Funktionieren der Gesellschaft; es sollte zu etwas „Normalem“ werden.

 

Ghetto: der alltägliche Ausnahmezustand vor den Augen aller

Giorgio Agamben hat in seinen Studien über Auschwitz und über den Homo sacer den Begriff „Ausnahmezustand“ auf die nazistische Vernichtungspolitik bezogen. Zwar findet er in „Was von Auschwitz bleibt“ nur in einer Anfangspassage direkte Verwendung, sonst bedient er sich durchgehend der Kategorie der „Ausnahme“. (19) Doch bezeichnet er das Lager als Ort der Anomie, dessen Existenz am vollkommensten von der Souveränität der totalen Macht zeuge. Das Lager bringt Menschen hervor, die keine mehr sind: das sind die Muselmänner, die, auf das nackte Physiologische reduziert, die eigentlichen Zeugen darstellen, denn sie sehen und hören nichts mehr, so dass sie am besten imstande sind, Zeugnis davon abzulegen, wovon man kein Zeugnis abzulegen vermag. Agamben konzentriert sich auf die Analyse des Schweigens und der Scham, auf das bloße der Gewalt-Ausgesetzt-Sein. Das Leben im Lager ist kein Leben. Der Philosoph kreist um das Phänomen des Lagers, da es ihm als etwas Extremes, aber doch als das Paradigma der politischen Tendenz der Moderne erscheint. Die Grenze zwischen Politik und bloßem Leben verwische sich in der Gesellschaft allmählich, doch in zunehmendem Maße, dessen Ergebnis eine Bio-Macht sei. Im Lager existiere diese Grenze nicht mehr.

Im Vergleich zu dieser Interpretation erscheint das Ghetto lediglich als eine abgeschwächte Vorstufe des Lagers, des wahrlich Grausamen, als eine noch nicht volle Ausprägung der totalen Macht. Agamben zeigt kein Interesse am Ghetto. Es war aber für die meisten seiner Bewohner keine Vorstufe zum Lager, das trifft nur auf diejenigen zu, die nach dem Abtransport durch eine Selektion kamen und in ein KZ geschickt wurden, wo sie noch ein paar Monate arbeiten sollten, bevor sie das „Urteil“ einholte. Das Ghetto lässt sich dagegen als direkte Vorstufe zur Gaskammer deuten, denn das war es für die Mehrheit der Ghettobewohner. In den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhardt“: Treblinka, Sobibór und Bełżec, in denen die meisten Juden Polens untergingen, gab es kaum eine Selektion. Das Sonderkommando, eine relativ kleine Gruppe von Häftlingen, die zur Bedienung dieses Todesfließbands im Lager am Leben erhalten geblieben waren, brauchte nur wenig Nachschub, da die Deutschen den Entschluss faßten, daß die bereits „Eingearbeiteten“ und Erfahrenen möglichst lange am Werk bleiben sollten, der Effizienz wegen. (20) Es sind Orte des Todes, in denen die allermeisten Opfer nur einige Stunden lebten. Und da die Ghettoisierung spätestens seit dem Beginn der „Aktion Reinhardt“, also seit dem Beschluss über die „Endlösung der Judenfrage“ unmittelbar der Organisation der Vernichtung diente, sind das Ghetto und die Gaskammer aufs engste miteinander verbunden.

In Auschwitz, dem Paradigma Agambens, fehlte jede Verschleierung. Die Gaskammer und andere Todesarten waren in der Nähe, alle wußten Bescheid, nichts wurde vorgetäuscht. Das Ghetto begann demgegenüber abgeschwächt als Vortäuschung von etwas, woran es wie ein weites Echo erinnert; die Grenze zwischen etwas Bekanntem, Altbekanntem und Neuartigem blieb lange verschwommen, was den meisten Betroffenen die tatsächlichen Ausmaße der Gefahr nicht erkennen ließ. Chaim Kaplan notierte, dass, als Gerüchte über Trennung von Ariern und Juden und die Errichtung eines Ghettos aufkamen, dies nicht wenige Juden an mittelalterliche Seggregationsideen erinnert habe, die allerdings ja auch mit der Autonomie jüdischer Gemeinden verbunden waren. Gleichzeitig hatte man sich zu einem gewissen Zeitpunkt im Jahre 1941 zwar nicht viel, aber zumindest ein bisschen Ruhe dank dem Ghetto erhofft. Die Überfalle seitens der deutschen Soldaten und auch der Polen waren zu schmerzhaft, die Qualen der ersten Monate der Besatzung 1939/40 waren zu groß: außer der zahlreichen Verbote, von denen einige bereits angeführt wurden, wurden den orthodoxen Juden öffentlich Bärte und Schläfenlocken von den Deutschen abrasiert oder gar ausgerissen, Frauen wurden auf der Strasse aufgehalten und gezwungen, im Winter mit ihrer Unterwäsche einen Fußboden oder eine Toilette zu reinigen und danach die Unterwäsche wieder anzuziehen. Eine Plage wurden Banden von polnischen Jugendlichen, die durch die Herabwürdigung der Juden in der neuen Ordnung „inspiriert“, Menschen mit jüdischen Armbinden auf der Strasse verfolgten, sie plünderten und erniedrigten. Deshalb wurde die Errichtung des Ghettos von vielen mit Erleichterung aufgenommen. Tatsächlich verringerten sich dadurch die Kontakte zu den Deutschen wie auch zu den Polen erheblich, obwohl SS- und Soldaten weiterhin im Ghettogebiet auftauchten.

Die Ghettoisierung zeichnete sich durch die vielen Abstufungen von Grausamkeit aus, die kontinuierlich zunahm, aber es kamen auch Hoffnungen auf, zur Verschleierung der gesamten Lage, an die sich viele der Leidenden klammerten. Der Judenrat stellte etwas wie den traditionellen Gemeinderat dar; zum Teil handelte es sich auch um die gleichen Menschen, aber es war kein Gemeinderat mehr. Es wurde nämlich von einer arbiträren Entscheidung der Machthaber eingesetzt. Dort, wo die neue Ordnung an bekannte Muster erinnert, werden von den Juden Versuche unternommen, bekannte Wege und Methoden auszuprobieren, etwa sich bei den Machthabern freizukaufen. Es waren jedoch, wie es sich herausstellte, Umwege, die genau dahin führten, wovor man sich zu retten beabsichtigte, nur mit einiger Verspätung. Die angeforderten Summen wurden an die deutsche Ghettoverwaltung und an die SS gezahlt, Arbeitskontingente, schließlich auch, mit Beginn der „Aktion Reinhardt“, Kontingente zum Abtransport in den Tod wurden aufgestellt. Obwohl es konsequent heißt, Juden werden zum Arbeitseinsatz in den Osten umgesiedelt, ist den Ghettobewohnern seit einem bestimmten Zeitpunkt bewusst, wo und wie die Transporte enden. Man erfuhr davon durch die wenigen, denen es gelungen war, zu fliehen, oder auch auf Umwegen, wie in Łódź:

Nach dieser letzten Deportation [Mai 1942 – Anm. der Verfasserin M.T.] verdichteten sich im Ghetto Łódź die Gerüchte über das Schicksal der verschleppten Menschen: Die Nazis hatten in ihrem Ansinnen, durch die Ermordung ihrer Opfer ökonomisch im höchstmöglichen Maße zu profitieren, die Hinterlassenschaften der Getöteten in kleinen Lagern bei Łódź für ihr Winterhilfswerk sortieren lassen. Dabei waren die Arbeiter auf blutdurchtränkte Kleidung gestoßen und hatten persönliche Gegenstände - wie etwa Ausweise und Gebetsriemen – gefunden. Auch ins Ghetto selbst gelangten solche beunruhigenden Gegenstände. Die Vermutung, dass die Menschen einem Verbrechen zum Opfer gefallen sind, lag nahe. (21)

Die Details wurden mehr oder weniger bekannt. Mary Berg beschreibt im Dezember 1942 ausführlich den Bericht von Dita W., die Zeuge eines Gesprächs von Gestapomännern wurde, dass die Juden in Treblinka mit heißem Dampf getötet werden. (22) Der Dichter Władysław Szlengel nennt aber zur gleichen Zeit in einem Gedicht aus dem Warschauer Ghetto ausdrücklich Gas. Viele wollten den bösen Gerüchten nicht glauben. Für den Ablauf der Verbindung zwischen dem Ghetto und der Gaskammer sorgte die Involvierung der Opfer selbst in die Todesmaschinerie, die ab Frühling 1942 auf Hochtouren lief. Verfahren wurde in der Regel so, dass die Armen als erste deportiert wurden, die über keine Bestechungsmittel verfügten für den Judenrat, der die Namenslisten erstellte, (die deutsche Ghettoverwaltung nannte lediglich die geforderte Anzahl der zum Abtransport Bestimmten) und für die jüdische Polizei, die für die Zustellung zum Umschlagplatz verantwortlich war. Manchmal spielte auch die Qual des Hungers eine Rolle, die „Ausreisenden“ bekamen Brot, so dass sich manche selbst zum Abtransport meldeten. Solche Erinnerungen gibt es vor allem aus Łódź und Warschau.

Das betrifft allerdings nicht die Anfangszeit der Besatzung, sondern die Zeit seit Frühling 1942, als sich alles in Richtung Endlösung zubewegte. Die Ghettoisierung stellt also ab einem gewissen Zeitpunkt den Weg zum Tod dar, jedoch nicht bereits während der Errichtung der Ghettos. Vieles spricht dafür, dass in der ersten Phase außer einer ideologischen Motivation die ökonomische Ausbeutung (bis zur Todesgrenze) eine führende Rolle spielte. Die Juden wurden auf mehrere Weisen ihrer Habe beraubt, sie wurden in die „jüdischen Wohnbezirke“ abgeschoben und es galt für sie Arbeitszwang. Ruta Sakowska schreibt, dass seit Besatzungsanfang es zwischen der Zivilverwaltung und den Organen der SS und Polizei Kompetenzstreitereien gab, da jeder die Beute haben wollte. Im Frühjahr 1941 wurden Schritte unternommen, der weitgehenden Ausbeutung des Warschauer Ghettos einen festeren Rahmen zu geben. Eine deutsche Expertenkomission kam ins Ghetto und es wurden Personaländerungen vorgenommen.

Private deutsche Firmen erhielten den Auftrag, die Produktion im Ghetto zu organisieren. Die neue Konzeption öffnete der Deutschen Firmengemeinschaft Warschau G. m. b. H. den Weg ins Ghetto. Die hier zusammengeschlossenen firmen (Walther Caspar Toebbens, Karl Georg Schultz, Fritz Schultz u.a.) erhielten eine Reihe von Produktionskonzessionen für die deutsche Kriegsmaschinerie. Anfangs traten sie als Auftragsfirmen auf, erst in der zweiten hälfte 1941 gab es im Ghetto die ersten großen deutschen Manufakturen, gewöhnlich shops genannt, die auf Kosten der kleinen jüdischen Betriebe groß geworden sind. (23)

Der mehr oder weniger privater Raub aus individueller Initiative (auch unter Nutzung institutioneller Wege), den man aus den Umsiedlungsaktionen kannte, hatte nicht aufgehört, obwohl seit der Ghettoschließung dazu weniger Gelegenheiten bestanden:

Im November 1941 verlangte Auerswald unter Androhung von Requirierungen die Lieferung einer größeren Anzahl von Möbeln. Der Judenrat bestellte für den Komissar 50 Schlafzimmer und 4 Arbeitszimmer. Im Dezember 1941 konfiszierte die deutsche Verwaltung im Ghetto Pelze und Pelzartikel […]. (24)

Die Ghettos waren also nicht als Weg zur „Endlösung“ errichtet worden, sie erwiesen sich aber dann als deren bestes Werkzeug. Selbst eine nicht besonders aufmerksame Lektüre von solchen Tagebüchern und Aufzeichnungen, die von polnischen Juden während der Besatzungszeit geführt wurden, lässt erkennen, dass die Lage in der ersten Hälfte der Besatzung anders war als in der zweiten; dass sich die Lage kontinuierlich verschlechterte, und der Alltag immer grausamer wurde. Immer mehr wurden die Juden selber in das System der Vernichtung involviert: wie der Judenrat und der jüdische Ordnungsdienst. Es kam zu einem enormen Denunziantentum, der soziale Kontrast zwischen den auf den Straßen der Ghettos verhungernden Armen und den wenigen Reichen, die sich den Besuch von Cafés, Restaurants und Freudenhäusern leisteten, nahm zu. Insofern zeugt das Ghetto von der „Normalisierung“ und „Alltagswerdung“ der Ausbeutung, Ausgrenzung und schließlich der Vernichtung.

 

Der Ausnahmezustand toleriert Ausnahmen

Agamben behauptet – nicht ohne Recht –, dass der Ausnahmezustand die legitime Durchsetzung dessen bedeutet, was illegitim ist. Und nach Carl Schmitt wiederholt er: „Weil der Ausnahmezustand immer noch etwas anderes ist, als eine Anarchie und ein Chaos, besteht im juristischen Sinne immer noch eine Ordnung, wenn auch keine Rechtsordnung.“ (25) Stellt aber das Ghetto einen Komplex von Gesetzen dar? Ja und nein. Man muss die Armbinde tragen, aber nicht jeder trägt sie und nicht jeder Jude muss es tun. Es gibt hier Privilegierte. Man muss uniformierte Deutsche auf der Straße grüßen, aber:

Vor kurzem (im Dezember 1940) wurde in Lublin bekanntgegeben, dass Juden die Deutschen durch das Abnehmen ihrer Mützen nicht grüßen dürfen. In dieser Angelegenheit wurden Plakate ausgehängt. Manche [Deutsche – M.T.] prügeln trotzdem [Juden], wenn sie nicht gegrüßt werden, und andere, die gegrüßt wurden, schleppen einen zu den Plakaten und zeigen, dass Grüßen verboten ist. (26)

Der Judenrat wird als Verwaltungskörper eingesetzt. Er ist natürlich den Besatzern gegenüber völlig machtlos, von der jüdischen Seite her ist er allerdings auch stets Konkurrenzinitiativen von unten ausgesetzt:

Heute, am 5. November, ereignete sich die folgende Geschichte mit Czerniaków: der Sektionsleiter, dem gekündigt worden ist, hat SS-Männer geholt, sie verschleppten einige Beamte und Czerniaków, ohne Anzug. Die Bewohner des Hauses in der Lesznostrasse 35 wurden zusammengerufen und mussten sich eine Rede anhören, dass sie sich den Sektionsleitern gegenüber gut verhalten sollen, sonst werden die Bewohner erschossen. (27)

Es gibt also Sonderegeln, Ausnahmezustandsregeln, die keine Rechtsordnung stiften, die aber zugleich (sie können nur etwas wert sein, wenn sie eine Ordnung stiften, insofern ist das Wort zugleich nicht angebracht) nichts wert sind. Darüber hinaus gibt es auch unzählige Wege, diese Regeln zu umgehen. Calek Perechodnik, jüdischer Polizist aus Otwock, beschreibt, wie sich reiche Juden sogar Autos und Fahrer bestellen, um aus dem Ghetto Otwock, in dem sie den Abtransport fürchten, zu fliehen. Was hilft es aber, wenn sie ins andere Ghetto, nach Częstochowa fliehen, das den Gerüchten nach für eine Aussiedlung „nicht in Betracht kommt“ (28), wo sie der Abtransport und der Tod sie doch einholen. Es ist ein durch und durch löchriges, ein korruptes System, das sich aber nicht trotzdem, sondern gerade deshalb als ergiebig erweist. Kaplan notierte hierzu in seinem Tagebuch:

Das System beruht auf einer Systemlosigkeit. Das Leitprinzip ist die allnächtliche Vernichtung einer bestimmten Anzahl von Juden. Sie gehen an die Namenskartei, ziehen wahllos eine Karte heraus, und wen sie haben, den haben sie; er muß sterben. Hirsch hat sich mit seiner [mit der zuvor zitierten – M.T.] Ansicht viele Feinde geschaffen. Die Menschen wollen nicht ohne Ursache sterben. (29)

Das System fürchtet nicht den Zufall, insofern es nicht zu einer möglichen ernsthafteren Solidarität zwischen Opfern oder sogar allgemeiner gesagt, zwischen Menschen guten Willens führt. Wichtig scheint zu sein, dass sich fast jeder, wenn der „arischen“ Seite angehört, entweder mit einem materiellen Gewinn oder mit einem Sich-Ausleben rechnen kann; Ist er Jude, bleibt ihm nur die Hoffnung, auf irgendeine Weise zu überleben. Das System arbeitet nämlich stets mit der Ausnahme, obwohl es so scheint, dass es Regeln, Gesetze gibt, auf die man sich verlassen kann. Die, die Arbeit in den shops haben, werden – so heißt es – nicht abtransportiert, da sie ja den Deutschen nützlich sind; die Ordnungsdienstmänner werden nicht abtransportiert, da sie ja für den Abtransport der anderen nötig sind; solche, die reich sind oder über bestimmte Papiere verfügen, werden nicht abtransportiert; die Mitglieder der Judenrats schon gar nicht… Aus der Hoffnung derer, die überleben wollen, zieht der Vernichtungsplan Nutzen, stellte Calek Perechodnik mit grenzenloser Verbitterung fest: denn sie begründet den Glauben an die Ausnahmen, und der Gaube an Ausnahmen ist das Prinzip, dass zum Erfolg des Ganzen beiträgt. Wie ein solcher Glaube an die Ausnahme funktioniert, bezeugt etwa folgendes Stelle aus Perechodniks Aufzeichnungen:

Rykner hat also Kronenberg [Chef der jüdischen Ghettopolizei in Otwock – M.T.] in einem Brief geschrieben, um die Otwocker Juden zu warnen. Ein paar Tage später hat Rykner bei Kronenberg angerufen, weil er sich nicht sicher war, ob der Brief angekommen ist. Der Vorwand für den Anruf war eine Bestellung von Nägeln für das Lager in Treblinka. Als Kronenberg den Erhalt des Briefes bestätigt hat, entwickelte sich folgender Dialog:
Also, du weißt, was du tun sollst?
Ich weiß!
Die menschlichen Gedanken sind unergründlich. Rykner wollte die Einwohner warnen, damit sie rechtzeitig fliehen können. Kronenberg meinte, es läge in seinem Interesse, eine Panik in der Stadt zu vermeiden, denn für eine Massenflucht hätte er verantwortlich gemacht werden können. (30)

Was aber eine solche Überzeugung wert war, bezeugt ein anderes Zitat:

An die SS-Offiziere trat Ingenieur Rotblit heran, er war der Gründer der Shops in Otwock und ein persönlicher Freund des Kreishauptmannes. Mit stolzem Lächeln überreichte er seine Papiere. Der Offizier nahm mit der einen Hand die Papiere, mit der anderen aber schoß er ihm in den Kopf. Ingenieur Rotblit fiel. Anstatt nun die Papiere seines Opfers anzuschauen, durchsuchte der Deutsche die Taschen des Getöteten, nahm das Geld und holte die Kronen von den Zähnen. Ingenieur Rotblit! Mit deinen Beziehungen, deinem Vermögen und deinen Passierscheinen hattest du die größte Chancen, dich zu retten. Warum kamst du um, naiver Mensch? (31)

Man könnte also, Carl Schmitt potenzierend, sagen: nicht der, wer den Ausnahmezustand ausruft, ist wahrlich souverän, sondern der, dem auch der selbst verhängte Ausnahmezustand nichts bedeutet.

 

Warum schrieb Agamben nicht über das Ghetto?

In Giorgio Agambens philosophischem Werk, das ein Bestseller wurde, spielt „Auschwitz“ eine besondere Rolle. Ich schreibe bewusst den Namen „Auschwitz“ in Anführungszeichen, da er außer seiner Tatsächlichkeit auch eine stellvertretende Rolle in diesem Werk spielt: er steht für das Extremum der Bio-Macht, die total über den Homo sacer ausgeübt wird. Ist es die westeuropäisch geprägte Perspektive des italienischen Philosophen, dass die Namen anderer Orte: Bełżec, Treblinka, Sobibór, Che?mno überhaupt nicht auftauchen? Einer der wesentlichsten Autoren für Agamben ist Primo Levi, ein Auschwitzhäftling. Tatsächlich kennen die westeuropäischen Städte der Kriegszeit keine „jüdischen Wohnviertel“, sondern nur Deportationszüge, die ins „Unbekannte“ fahren. Und diese Züge gingen in den allermeisten Fällen nach Auschwitz. Vielleicht spielt auch eine Rolle, dass die Vernichtungslager Bełżec, Treblinka, Sobibór, Che?mno von ihren „Architekten“, so weit es möglich war, von der Erde getilgt wurden; über die Plätze der drei Lagern an dem Fluß Bug hat man Gras und Getreide wachsen lassen. Auch das Vernichtungslager Birkenau existiert nicht mehr, was übrig blieb, ist das Arbeitslager Auschwitz. Wenige Spuren blieben, sie reichen offensichtlich nicht aus, um sich in Passierscheine in philosophischen Werke zu verwandeln. In dieser Sicht stellen diese Orte einen Ausblick auf die Welt der Sieger dar, so wie es sich die Machthaber damals vorstellten: die Ausgerotteten sollten nicht nur getötet, sondern auch ohne Spur und ohne Erinnerung verschwinden. Die Ghettos, die mit ihnen aufs engste verbunden waren – die beiden ergiebigsten Wege der Vernichtung waren einerseits Massenerschießungen vor Ort und andererseits Ghettoisierung und der anschließende Transport in die Gaskammern – scheinen sich nicht (oder noch nicht) für eine philosophische Reflektion zu eignen, obwohl sie, wie ich meine, als eine besondere Art des „Ausnahmezustands“ die Erfahrung von „Auschwitz“ ergänzen könnten. Während Auschwitz ein in sich vor den Augen der Öffentlichkeit abgeschlossener Abgrund des Menschlichen ist (obwohl auch dort ein allzu alltäglicher „Alltag“ möglich war, wie die Erzählungen des polnischen Schriftstellers und Auschwitzhäftlings Tadeusz Borowski zeigen) (32), lehrt das Ghetto, dass ein Ausnahmezustand möglich ist, das nicht nur für die Betroffenen Tod bedeutet, sondern sich auch in die Gesellschaft einfügt, die er zu nifizieren (co to?) vermag, so dass man an die banale aber universelle Wahreheit denken muss, Ausnahmezustände haben die immanente Tendenz dazu, sich nicht mehr von der Normalität zu unterscheiden.

Eine große Hilfe bei der Entstehung dieses Artikels stellte für mich ein Stipendium der Adamas-Stiftung in Schorndorf bei Stuttgart dar.

 


Anmerkungen:

1 Chaim Kaplan, Buch der Agonie. Das Warschauer Tagebuch des Chaim A. Kaplan. Herausgegeben von Abraham I. Katsh, Frankfurt am Main 1967, S. 265.
2 Vgl. Ruta Sakowska, Menschen im Ghetto, aus dem Polnischen von Ruth Henning, Osnabrück 1999, S. 13.
3 Ebenda, S. 57. Anführungszeichen stammen von der Autorin des Buches.
4 Vgl. Feliks Tych, Typologia gett utworzonych przez okupantów niemieckich w Polsce (1939-1944), in: Paweł Samuś / Wiesław Puś, Fenomen getta łódzkiego, Łódź 2006, S. 77-89.
5 Vgl. hierzu: Paweł Chmielewski, Rola gett na Wschodzie w realizacji „ostatecznego rozwiązania kwestii żydowskiej“, in: Paweł Samuś / Wiesław Puś, Fenomen getta łódzkiego, Łódź 2006, S. 91-113, hier S. 92 ff. Über die Realisierung des „Emigrationsplans” für die Juden Europas unter deutscher Herrschaft, so wie über dessen Aufgabe aus der Perspektive der Betroffenen vor Ort schreibt interessant Henryk Schönker in seinen Erinnerungen (Henryk Schönker, Dotknięcie anioła [Berührung des Engels], Warszawa 2005, insbesondere S. 21-67.)
6 S. Ruta Sakowska, Menschen im Ghetto, a. a. O., S. 55.
7 Die kleineren Ghettos im sog. Warthegau wurden bis zum Sommer 1940 aufgelöst und deren Insasser nach Łódź deportiert.
8 Łódź wurde am 9. November 1939 in das Reich eingegliedert, die Stadt besaß allerdings eine zu große jüdische Gemeinde (die zweitgrößte in Polen nach Warschau), um alle zu deportieren. Das als Restpolen gebildete Generalgouvernement war dafür zu klein, zumal aus den an Deutschland angeschlossenen Gebieten die Polen dorthin abgeschoben wurden. Aus diesen Gründen entschieden sich die Machthaber für die Gründung eines großen Ghettos in Łódź (Litzmannstadt) „Am 8.2.1940 erließ der Łódzer Polizeipräsident, SS-Brigadeführer Johannes Schäfer, eine entsprechende Verordnung, die vorsah, dass alle Łódzer Juden in das neu gebildete, rund 4,13 Quadratkilometer große Ghettogebiet umziehen mussten.“ (Sascha Feuchert, Einleitung, Letzte Tage. Die Łódzer Getto-Chronik Juni/Juli 1944, hrsg. von Sascha Feuchert, Erwin Leibfried, Jörg Riecke, Göttingen 2004, S. 7-42, hier S. 12-13.)
9 Emanuel Ringelblum, Kronika getta warszawskiego. Wrzesień 1939 - styczeń 1943 [Chronik des Warschauer Ghettos. September 1939 – Januar 1943], aus dem jiddischen von Adam Rutkowski, Warszawa 1988, S. 91. (Zitat übersetzt von der Autorin des Artikels.)
10 Mary Berg, Dziennik z getta warszawskiego [Tagebuch aus dem Warschauer Getto], aus dem Amerikanischen von Maria Sapalska, Warszawa 1983, S. 33. (Übersetzung des Zitats von der Autorin des Artikels)
11 Dass die Entscheidungen der Besatzer variierten, belegt auch die Warschauer-Ghetto-Studie von Ruta Sakowska. „Die Arbeiten zur Organisation des Ghettos unterstanden dem Amt des Distriktschefs in der Abteilung Umsiedlung. Die Abteilung erörterte verschiedene Lokalisierungsvarianten. Zunächst ging es um den Stadteil Praga; dann entstand der Plan, zwei Ghettos an der Peripherie (Koło und Grochów) zu errichten; diese Arbeiten wurden jedoch zweimal unterbrochen: im Februar 1940 im Zusammenhang mit dem Projekt, die jüdische Bevölkerung in einem Reservat im Lubliner Gebiet an zusiedeln, und im Juli 1940, als der Plan auftauchte, die Juden nach Madagaskar umzusiedeln – worauf die Führung des Dritten Reiches jedoch aufgrund der Kriegssituation verzichtete.“ (Ruta Sakowska, Menschen im Ghetto, a. a. O., S. 55)
12 „Am 2. Oktober 1940 unterschrieb Fischer den Erlaß über die Errichtungdes jüdischen Wohnbezirks. Innerhalb weniger Wochen wurden mehr als 250 000 Menschen umgesiedelt, ungefähr 138 000 Juden und 113 000 Polen.“ Darüber hinaus muss man erwähnen, dass die Polen aufgrund dieser Umsiedlungen meistens in die besseren Wohnviertel kamen, die vor dem Krieg von jüdischen Kaufleuten und der jüdischen Intelligez bewohnt wurden, und dass ins Ghetto noch mehrere Tausend Juden von außerhalb Warschaus strömten, auf der Suche nach Unterkunft und Überlebenschancen, die sie sich in der Großstadt versprachen. (Vgl. Ebenda, S. 55.)
13 Vlg. hierzu u.a. das entsprechende Kapitel in Karol Sauerland, Polen und Juden zwischen 1939 und 1968. Jedwabne und die Folgen, Berlin 2004.
14 Diesen Begriff („Seuchengebiet“) erwähnen sowohl Mary Berg, als auch Emanuel Ringelblum. Sie halten in ihren Notizen fest, dass die Besatzer das Ghetto anfänglich als Seuchengebiet ausgaben. Die Bemerkung zum Sprachgebrauch der Nationalsozialisten in Bezug auf die Ghettoisierung verdanke ich dem Vortrag von Dan Michman, den ich während der Tagung “Quellen der Judenräte im besetzten Polen”/“Sources from Jewish Councils in Occupied Poland” am 26.-28. Juni 2007 an der Fakultät für Geschichte in Bielefeld gehört habe.
15Józef Bau, Czas zbeszczeszczenia. Wspomnienia [Die Zeit der Schändigung. Erinnerungen], Kraków 2006, S. 28-29. (Zitat übersetzt von der Autorin des Artikels.)
16 Siehe etwa das in der Studie: Katarzyna Zimmerer, Zamordowany świat. Losy Źydów w Krakowie 1939 – 1945 [Die ermordete Welt. Schicksale der Juden in Krakau 1939 – 1945], Kraków 2004, auf Seite 95 abgedruckte Foto.
17 Siehe: Henryk Grynberg, Janek i Maria, Warszawa 2006.
18 Vgl. Sascha Feuchert, Einleitung, a. a. O., S. 14.
19 Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt am Main 2003.
20 Siehe die Zeugnisse der Treblinka-Überlebenden Samuel Willenberg (Bunt w Treblince [Der Aufstand in Treblinka], aus dem Hebräischen vom Autor, Warszawa 2004) und Jankiel Wiernik (Rok w Treblince / A Year in Treblinka, New York 1944.)
21 Sascha Feuchert, Einleitung, a. a. O., S. 21.
22 Mary Berg, Dziennik z getta warszawskiego, a. a. O., S. 223-225.
23 Ruta Sakowska, a. a. O., S. 61.
24 Ebenda, S. 63.
25 Giorgio Agamben, Ausnahmezustand, Frankfurt Am Main 2004, S. 43 (Zitat aus Carl Schmitt).
26 Emanuel Ringelblum, Kronika getta warszawskiego, a. a. O., S. 232.
27 Ebenda, S. 188.
28 Oft wiederholter Ausdruck in Perechodniks Aufzeichnungen, in Original Deutsch – M.T. Zu Perechodnik siehe Anm. 30.
29 Chaim A. Kaplan, Buch der Agonie, a. a. O., S. 338.
30 Calel Perechodnik, Bin ich ein Mörder? Das Testament eines jüdischen Ghetto-Polizisten, Lüneburg 1997, S. 59.
31 Ebenda, S. 66.
32 Vgl. hierzu Karol Sauerlands Rezension auf: http://www.fritz-bauer-institut.de/publikationen/newsletter/nl-31_tadeusz-borowski.pdf.

6.8. Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive

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For quotation purposes:
Monika Tokarzewska: Das Ghetto als Ausnahmezustand - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/6-8/6-8_tokarzewska17.htm

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